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Dschungel, Regenbogenberge und andere utopische Orte

03.November 2018- El Bol­son, Argentinien

Über eine wacke­li­gen Holz­blanke stei­gen wir von dem klei­nen Ama­zo­nas­damp­fer, mit dem wir nach unse­rem Kanu­aben­teuer von Taba­tinga bis hier­her gefah­ren sind, hinab. Kaum haben wir wie­der fes­ten Boden unter den Füßen, wer­den wir voll in das Stadt­le­ben  ein­ge­saugt. Autos, Motor­rä­der und Busse brum­men hek­tisch an uns vor­bei, Händ­le­rIn­nen prei­sen laut­stark ihr Obst und Gemüse an.

Man­aus – eine Mil­lio­nen­stadt mit­ten im Dschun­gel. Ihre Blü­te­zeit hatte die Stadt wäh­rend des Kau­tschuk­booms als dort vor allem nord­ame­ri­ka­ni­sche und euro­päi­sche Händ­ler, oft durch Aus­beu­tung von Men­schen und Natur, ihre Geschäfte trie­ben. Nach­dem der Boom vor­bei war und die Stadt in Armut ver­sank, erklärte die dama­lige Regie­rung Man­aus Ende der 20er Jahre zur zoll­freien Zone, um die Wirt­schaft anzukurbeln.

m 19. Jahr­hun­dert wurde die Stadt auch „Paris der Tro­pen“ genannt. Mit den ein­flie­ßen­den Gel­dern des Kau­tschuk­booms wur­den Gebäude nach euro­päi­schem Vor­bild gebaut.
Als die Samen des Gum­mi­baums nach Asien geschmug­gelt wur­den, ver­lor das Gebiet sein Han­dels­mo­no­pol. Die Stadt fiel in Armut.
Trotz der Geschichte und der iso­lier­ten Lage ist das heu­tige Man­aus der kul­tu­relle Mit­tel­punkt des Ama­zo­nas­ge­biets mit einem groß­ar­ti­gen kul­tu­rel­len Angebot.

Mar­celo, Frank­lin, Raquel und Maria sind Teil von den Tupi­ni­queens, eine Gruppe jun­ger LGBTQ-Leute aus Man­aus, die zusam­men für eine offe­nere und freiere Gesell­schaft kämp­fen. Im Jahr 2017 star­ben in Bra­si­lien 445 Men­schen als Opfer von Homo­pho­bie, die höchste Todes­rate seit Jah­ren. Lisa blieb einen Monat län­ger in Man­aus, um mehr über die jun­gen Künstler*innen zu erfahren.

Man­aus ist unsere letzte Sta­tion auf der Reise durch den Ama­zo­nas. Von hier aus ver­lasse ich den Fluss und fahre über Land wei­ter Rich­tung Boli­vien. Lisa wird noch eine Weile in Man­aus blei­ben und ein paar Wochen spä­ter nach Bue­nos Aires kom­men. Zuerst über­lege ich, die 800 Kilo­me­ter lange Stre­cke über Porto Velho, die bis zur boli­via­ni­schen Grenze eigent­lich nur durch den Dschun­gel führt, zu trampen.

Als Jes­sica, bei der wir in Man­aus über­nach­tet hat­ten, mich aber fragt „Wel­che Straße meinst du denn? Davon habe ich noch nie etwas gehört!“ beschließe ich doch lie­ber einen Bus zu neh­men. Anschei­nend ist die Straße kaum befah­ren und das Tram­pen mit­ten durch den unbe­wohn­ten Dschun­gel könnte einige Tage oder gar Wochen dau­ern. Und tat­säch­lich. Wäh­rend der 24 Stun­den lan­gen Bus­fahrt kommt uns kaum ein Auto ent­ge­gen, die Straße ist stau­big und voll mit Schlag­lö­chern. Nur ganz lang­sam quält sich der Bus über diese schein­bar end­lose Erdpiste…

Letzte Umar­mung bevor es für mich mit dem Bus wei­ter Rich­tung Boli­vien geht. Lisa wird noch einen Monat in Man­aus blei­ben, bevor wir uns dann in Bue­nos Aires wie­der treffen.

Mit­ten in der Nacht hält der Bus an dem Ufer eines Flus­ses an, der den Stra­ßen­ver­lauf unter­bricht. Hier stei­gen wir alle aus und war­ten auf die kleine Fähre, die uns und den Bus auf die andere Seite brin­gen soll. Wäh­rend wir war­ten, kommt lang­sam der Mond hin­ter einer dicken, tro­pi­schen Regen­wolke her­vor und taucht den dich­ten Wald in mat­tes, sil­ber­nes Licht. Plötz­lich wird die stille schwarze Ober­fläch­li­che des Flus­ses durch­bro­chen und eine Fami­lie pin­ker Del­phine taucht schnau­bend auf.

Die ganze Sze­ne­rie zieht mich in ihren Bann: es scheint, als würde sich der Dschun­gel noch­mal in all sei­ner Schön­heit und Mys­tik prä­sen­tie­ren wol­len, eine Art letz­ter Abschieds­gruß, bevor es wei­ter Rich­tung Hoch­ge­birge geht.

Am nächs­ten Tag kom­men wir  bei Abend­däm­me­rung in der bra­si­lia­ni­schen Stadt Porto Velho an. Für den Bus ist hier End­sta­tion. Heute werde ich nicht mehr wei­ter kom­men. Also heißt es: Schlaf­platz fin­den. Die Bus­sta­tion liegt etwas außer­halb, in einem Art Indus­trie­ge­biet, hier und da schlei­chen ein paar dunkle Gestal­ten durch den Dunst der Nacht. In der Ferne sehe ich das Wort „MOTEL“ neon­gelb auf­leuch­ten. Viel­leicht kann ich dort einen Unter­schlupf fin­den. Kein Pro­blem – für 4 Real (etwa einen Euro) kann ich mein Zelt im Innen­hof aufschlagen.

Die lange, stau­bige Erd­piste von Man­aus nach Porto Velho führt über 800 Kilo­me­ter durch nahezu unbe­wohn­tes Gebiet. In der Regen­zeit ist diese Stre­cke nicht befahr­bar, da sie sich in eine reine Schlamm­pfütze verwandelt.

Dann geht es wei­ter über das Grenz­städt­chen „Gua­jará-Merin“ auf die boli­via­ni­sche Seite Rich­tung La Paz. Lang­sam aber ste­tig ver­än­dert sich die Land­schaft. Es wird tro­cke­ner, die grüne Pracht des Dschun­gels ver­läuft sich und geht lang­sam in eine Step­pen­land­schaft über. Bald schon zeich­nen sich am Hori­zont die Berge der Anden­vor­läu­fer ab und schnee­be­deckte Gip­fel wer­den sichtbar.

Die dicht bewal­de­ten Yun­gas- Berge im Nor­den Boliviens.

Inzwi­schen fah­ren wir nur noch auf engen Hoch­land­stra­ßen. Plötz­lich kommt uns in einer Kurve ein voll bela­de­ner LKW ent­ge­gen. Kon­zen­triert aber geschickt tas­tet sich der schwere Truck lang­sam an der Fels­wand ent­lang die die Straße nach links hin begrenzt. Rechts geht es steil bergab. Es gibt keine Leit­planke, nichts. Unser Bus hält an. Wohin sol­len wir ausweichen?

Der Bus­fah­rer beschließt schließ­lich, den Bus lang­sam zurück zu setz­ten, um dem LKW Platz zu machen. Bestimmt ist der Fah­rer diese Manö­ver schon gewöhnt, mir wird aller­dings schwin­de­lig vor Angst. Als die rest­li­chen Pas­sa­giere anfan­gen zu schreien: „Machen Sie sofort die Türen auf damit wir aus­stei­gen kön­nen! Wir wol­len nicht ster­ben!“, merke ich, dass meine Angst doch viel­leicht nicht so unbe­rech­tigt ist. Wir stei­gen aus und lau­fen ein paar Meter, bis das gefähr­li­che Stück vor­bei ist. Wäh­rend­des­sen manö­vrie­ren die bei­den ihre Fahr­zeuge geschickt anein­an­der vor­bei. Dann stei­gen wir wie­der ein und die Fahrt geht weiter.

Die unbe­fes­tigte, enge Hoch­land­straße führt ohne Leit­plan­ken an stei­len Abhän­gen vor­bei. Als uns der LKW ent­ge­gen kommt, gerate ich kurz in Todesangst.

End­lich errei­chen wir La Paz in Boli­vien. Eine magi­sche Stadt, wie von einem ande­ren Pla­ne­ten. Auf etwa vier­tau­send Meter Höhe liegt sie ein­ge­bet­tet zwi­schen spit­zen, grauen Berg­hän­gen. Am ers­ten Tag bin ich wie aus­ge­knockt: die Höhe, das Chaos, die Kälte, die Hektik.

Ich muss erst mal ankom­men in die­ser neuen Szenerie.

La Paz: die Höchst­ge­le­gene Ver­wal­tungs­haupt­schadt der Welt.
Auf mehr als 4000 Meter Höhe über dem Mee­res­spie­gel liegt der Stadt­teil „El Alto“. Hier befin­det sich einer der größ­ten Märkte der Welt.

Nur ein paar Tage bleibe ich in dem klei­nen Land. Denn eigent­lich will ich wei­ter nach Bue­nos Aires. Unter­wegs hat­ten wir gehört, dass es dort eine kleine Gemein­schaft in der Nähe der Uni geben soll: Velatropa.

Also trampe ich wei­ter über die Grenze durch den Nor­den Argen­ti­ni­ens, vor­bei an meter­ho­hen Kak­teen, bun­ten „siete colo­res“ Ber­gen, am Pfei­ler der den Wen­de­kreis des Stein­bocks mar­kiert und wei­ter durch schein­bar unend­lich weit­läu­fi­ges Land.

Weit­läu­fige, ber­gige Land­schaft im Nor­den Argentiniens.

Magisch und schein­bar wie gemalt ragen die bun­ten Berge aus dem tro­cke­nen, kar­gen Umland heraus.

In fast jedem Auto werde ich von den Fah­re­rIn­nen auf einen „Mate“ ein­ge­la­den. Mate-Tee besteht aus klein geschnit­te­nen Blät­tern, die in einem Trink­ge­fäß (ursprüng­lich die aus­ge­höhlte und getrock­nete Hülle eines Kür­bis­ses) mit hei­ßem Was­ser auf­ge­schüt­tet und durch einen metal­le­nen Stroh­halm getrun­ken wer­den. Das Getränkt ist hier so unver­zicht­bar wie in Ita­lien der Café.

Ganz beliebt sind hier im Nor­den neben dem Mate auch Koka­blät­ter, die in höher gele­ge­nen Regio­nen vor allem gegen die Sym­ptome der Höhen­krank­heit gekaut wer­den. Edu­ardo, in des­sen LKW ich seit ein paar Stun­den unter­wegs bin, hat eine ganze Tüte unter sei­nem Sitz ver­staut und greift regel­mä­ßig hin­ein, um sich eine neue Por­tion in die Backen zu ste­cken. „Willste auch mal pro­bie­ren?“ fragt er und streckt mir eine hand­voll Blät­ter ent­ge­gen. „Du musst die Blät­ter zer­kauen und dann in dei­ner Backe las­sen. Hält wach und unter­drückt das Hungergefühl.“

Spä­ter gesteht er mir, dass unter sei­ner offi­zi­el­len Ladung einige Kilo Koka­blät­ter ver­steckt lie­gen, die er wei­ter im Süden ver­kau­fen will, um sein spär­li­ches Gehalt auf­zu­sto­cken. Koka­blät­ter für den Eigen­kon­sum sind hier erlaubt, Men­gen die dar­über hin­aus gehen sind jedoch ille­gal. Gelas­sen hält er der Poli­zei seine Papiere hin, als wir in eine Kon­trolle gera­ten. Mit einem Grin­sen im Gesicht fährt er wei­ter als die Poli­zei ihn durch­winkt. „Die mer­ken nie was. Keine Sorge…“


Auf dem Weg nach Bue­nos Aires mache ich einen Stopp in San Mar­cos Sier­ras. Das kleine Dorf ist dadurch bekannt, dass sich in den 1940er Jah­ren hier Aus­stei­ge­rIn­nen und Hip­pies ange­sie­delt und dem Dorf seit­her einen eige­nen Cha­rak­ter ver­lie­hen haben. Im Dorf­ei­ge­nen „Hip­pie-Musem“ kann man mehr über die Geschichte des Dor­fes und die Hip­pie­kul­tur erfahren.

Ins­ge­samt fünf Tag brau­che ich von der bolivianisch/ argen­ti­ni­schen Grenze bis nach Bue­nos Aires. Abends schlage ich irgendwo an einem geeig­ne­ten Ort mein Zelt auf und trampe erst mor­gens, bei Tages­licht weiter.

Will­kom­men im Vel­atro­pa­land- ein klei­nes Uni­ver­sum mit­ten in Bue­nos Aires

Vel­atropa: Ein klei­nes Uni­ver­sum auf dem Uni­ver­si­täts­ge­lände mit­ten in der 14-Mil­lio­nen Metro­pole Bue­nos Aires. Wo jetzt Men­schen leben und die Natur sich wie­der frei ent­fal­ten kann, war vor ein paar Jah­ren noch ein grauer, tris­ter Beton­platz. Rest­müll, Bau­schutt und städ­ti­scher Abfall wurde hier abge­la­den, bis eine Gruppe von Stu­die­ren­den den Platz vom Müll befreit und eine grüne Oase geschaf­fen hat. Aus einem Teil der Gruppe ist die Gemein­schaft „Vel­atropa“ ent­stan­den. Seit mehr als zehn Jah­ren leben hier nun Stu­die­rende, Küns­terIn­nen, Rei­sende…. Es ist ein Ort zum Ler­nen, Leben und experimentieren.

Die offene Küche und das kleine Häus­chen auf dem Haupt­platz: hier tref­fen sich alle zum Essen, Musik­ma­chen usw.

Die zahl­rei­chen klei­nen Baum­steck­linge und Able­ger war­ten auf den bevor­ste­hen­den Früh­ling. Dann wer­den sie ent­we­der auf dem Vel­atropa- Gelände oder in dem nahe gele­ge­nen Natur­schutz­ge­biet eingepflanzt.

Als ich in den Gemein­schaft ankomme ist es schon Nach­mit­tag. Ein paar Leute haben sich zum Ple­num auf dem Haupt­platz um das Feuer herum ver­sam­melt. Ich werd mit herz­li­chen Umar­mun­gen begrüßt und ein­ge­la­den, mich in die Runde dazu zu set­zen. Agus­tin streckt mir einen Mate ent­ge­gen und wir kom­men schnell ins Gespräch. Er erzählt mir, dass Vel­atropa gerade in einer schwie­ri­gen Situa­tion ist: „Die Uni will, dass wir den Platz räu­men. Die wol­len hier einen Park­platz bauen. Dass wir als Stu­die­rende hier einen Ort haben, an dem wir unser Wis­sen direkt im Gar­ten oder im Wald anwen­den kön­nen, dass wir hier Lebens­raum für Tiere, Pflan­zen und Men­schen geschaf­fen haben, inter­es­siert die nicht.“ Das ist heute auch das große Thema im Ple­num: Wie soll es wei­ter­ge­hen? Was, wenn die Poli­zei anrückt, um den Platz zu räumen?

Gemein­sa­mes Früh­stück vor dem „Tem­pel“.

Nach dem Ple­num zeigt mir Dani in dem klei­nen Wald­stück neben dem Gar­ten, eine Stelle an der ich mein Zelt auf­schla­gen kann. Hier ste­hen, ver­steckt zwi­schen dem dich­ten Grün der Bäume, auch die ande­ren Zelte in denen einige der Vel­atro­pia­ne­rIn­nen leben. Ansons­ten gibt es auf dem Gelände noch ein paar bewohnte, aus Natur­ma­te­ria­lien oder Sperr­müll gebaute Häus­chen. Zum Bei­spiel der soge­nannte „Tem­pel“, eine Kon­struk­tion im Ein­gangs­be­reich, die kom­plett aus alten Holz­bal­ken, Fens­tern, Auto­rei­fen, Kot­flü­gel, Türen besteht – alles, was in der Stadt sonst auf der Müll­halde gelan­det wäre.

Alte Fens­ter­rah­men, Holz­bal­ken und alles was man sonst noch so auf dem Sperr­müll fin­den kann die­nen als Bau­ma­te­rial für die klei­nen Häuschen.
Weil nie­mand hier ein Auto hat, zie­hen wir das „Bau­ma­te­rial“ mit einem umfunk­tio­nier­ten Ein­kaufs­wa­gen durch die Stadt.

Die „casita de techo verde“ – das Haus mit dem grü­nen Dach besthet aus recy­cel­tem Holz, Glas­fla­schen, Stroh, Stei­nen und Lehm.

Am nächs­ten Tag krie­che noch etwas ver­schla­fen aus dem Schlaf­sack und mache mich auf den Weg zur Küche. Die „Küche“ ist eigent­lich eher ein offe­ner, mit Well­blech über­dach­ter Platz mit zwei Feu­er­stel­len – das Herz der Gemein­schaft. Hier tref­fen sich alle zum gemein­sa­men Früh­stück, Mit­tag­essen, zum Mate­trin­ken, zum Ple­num oder zum Musik­ma­chen am Abend.

Ges­tern am Lager­feuer hatte ich mich mit Cesar kurz über die Orga­ni­sa­tion von täg­li­chen Auf­ga­ben wie kochen, Holz sam­meln etc. unter­hal­ten. Weil Vel­atropa sich als hier­ar­chie­freier Ort, ohne Füh­rungs­per­son, Hier­ar­chien oder fes­ten Regeln ver­steht, gilt ein­fach das Motto „Wenn du eine Auf­gabe siehst, ist es Deine!“

Gemein­sam berei­ten wir das Mit­tag­essen zu. Es gibt keine fes­ten Pläne oder Auf­ga­ben­ver­tei­lung. Wer gerade vor­bei kommt, schließt sich an und hilft mit.
Fri­scher Kräu­ter­sa­lat aus dem Gar­ten. Die Mehr­heit der Vel­atro­pia­ne­rIn­nen ernährt sich vege­ta­risch und in der Küche wird kein Fleisch zube­rei­tet. Wer Fleisch essen oder Alko­hol trin­ken möchte, macht das außer­halb der Gemeinschaftsbereiche.

Ich geselle mich zu der klei­nen Gruppe, die um die Feu­er­stelle herum steht und das Früh­stück zube­rei­tet. Leyda kün­digt gerade einen Work­shop zum Thema Per­ma­kul­tur an, zu dem er uns für Frei­tag ein­lädt. Vor allem am Wochen­ende fin­den hier Work­shops und Akti­vi­tä­ten statt, z.B. gemein­same Gar­ten­ar­beit, Yoga, Her­stel­lung von Natur­far­ben oder Kurse zum Thema öko­lo­gi­sches Bauen und erneu­er­ba­ren Energien.

„Julia, hast du Lust gleich mit mir ein paar T‑shirts und Stoffe zu bedru­cken?“ fragt mich Maca, die ihr Sieb­druck­ma­te­rial bereits auf einem Tisch aus­ge­brei­tet hat. Cesar schlägt vor, dass wir uns vor­her noch in der Nähe vom Fluss zum Yoga zu treffen.

So läuft das hier: Am Mor­gen weißt du nicht, was dich erwar­tet. Alles fließt, alles kre­iert sich in dem Moment, in dem es entsteht.

Sieb­druck mit Maca
Lucy ist ein paar Tag ein der Gemein­schaft zu Besuch und bie­tet spon­tan eine Agro­yo­ga­stunde am Nach­mit­tag an

Mit der Zeit lerne ich die Bewoh­ne­rIn­nen näher ken­nen und fange an, in das bunte Vel­atro­pa­uni­ver­sum ein­zu­tau­chen. Hier leben im Moment um die fünf­und­zwan­zig Men­schen, die zwi­schen 18 und 45 Jahre alt sind. Alle mit der glei­chen Vision: Einen Ort schaf­fen, an dem sich Natur und Men­schen frei ent­fal­ten kön­nen, wo ein bewuss­tes, nach­hal­ti­ges Leben gelebt wird. Ein Leben frei von Aus­beu­tung, Zwän­gen, Auto­ri­tä­ten und Kon­sum­zwang. Vel­atropa ist ein Ort zum expe­ri­men­tie­ren: mit erneu­er­ba­ren Ener­gien, Per­ma­kul­tur, Gar­ten­bau, nach­hal­ti­gen Bau­wei­sen, Musik, Kunst und dem Leben in Gemeinschaft.

In dem klei­nen Gewächs­häus­chen wer­den Samen gezo­gen und kleine Jung­pflan­zen auf­be­wahrt, bis sie in den Gar­ten ein­ge­pflanzt wer­den. Zu dem Per­ma­kul­tur Kon­zept der Gemein­schaft gehört auch, dass auf che­mi­sche Dün­ge­mit­tel ver­zich­tet wird und die Pflan­zen so ange­pflanzt wer­den, dass sie sich gegen­sei­tig unter­stüt­zen können.
Regel­mä­ßig fin­den Work­shops, Kurse und Vor­träge u.a. zu den The­men Gar­ten­bau, Per­ma­kul­tur und nach­hal­ti­ger Land­wirt­schaft statt.

Ihr habt das Geld, aber wir die Fantasie!!“

Am Nach­mit­tag lädt Vel­atropa zum Varieté: Künst­le­rIn­nen, Musi­ke­rIn­nen, Clowns und Jon­gleu­rIn­nen kom­men vor­bei. Fran­cisco hat eine menge bun­ter Acryl­far­ben auf dem Boden aus­ge­brei­tet und malt unsere Gesich­ter an.

Dröh­nend flie­gen die Flug­zeuge über uns hin­weg. Am Tag sind es mehr als fünf­zig, die im Lan­de­an­flug zum nahe gele­ge­nen Flug­ha­fen sind. Es fällt mir schwer, mich an den Krach zu gewöhnen.

Vorne, auf der klei­nen Bühne baut sich der Clown auch ein Flug­zeug zusam­men, aller­dings aus Holz und einem Hul­a­hu­prei­fen. Er schreit den gro­ßen stäh­ler­nen Vögeln mit der erho­be­nen Hand hin­ter­her: „Ihr habt das Geld, aber wir die Fan­ta­sie!“. Alle Lachen. Ja, wir haben die Fan­ta­sie. – dadurch lebt die­ser Ort. Hier pul­siert das Leben in bun­ten Far­ben. Der Moment ist alles. Und jeder Moment ist eine neue Überraschung.

Abends, kurz bevor die Geschäfte schlie­ßen, gehen wir in die Stadt und fra­gen in den Geschäf­ten nach, ob heute etwas übrig geblie­ben ist, was sonst im Müll lan­den würde: Obst, Gemüse, Brot, Kuchen, Gekoch­tes. Jedes Mal gibt es etwas. Manch­mal mehr, manch­mal weni­ger. An man­chen Aben­den kom­men wir mit einem gan­zen Ein­kaufs­wa­gen voll mit „recy­cel­tem“ Essen zurück in die Gemein­schaft. Weil nicht viel gekauft wer­den muss bezah­len wir nur 100 Pesos pro Per­son, das sind etwas mehr als zwei Euro pro Woche, in die kol­lek­tive Lebens­mit­tel­kasse ein.

Wir, mehr als fünf­und­zwan­zig Men­schen, ernäh­ren uns von dem, was andere in die Müll­tonne schmei­ßen würden.

Ein Ein­kaufs­wa­gen voll mit con­tai­ner­tem Obst und Gemüse. Sobald die Tomate, der Kohl oder Apfel eine kleine schim­me­lige oder braune Stelle hat, sind sie nicht mehr für den Ver­kauf geeig­net und lan­den nor­ma­ler­weise im Müll.

Als wir wie­der zurück­kom­men sit­zen ein paar Leute um das Feuer herum, spie­len Gitarre. Wäh­rend­des­sen wird über die Frage dis­ku­tiert, wer denn eigent­lich in den Häus­chen woh­nen soll, von denen es fünf Stück auf dem gesam­ten Gelände gibt. Weil Vel­atropa sich als hier­ar­chie­freier und selbst­or­ga­ni­sier­ter Ort ver­steht, wer­den Ent­schei­dun­gen im Ple­num auf der Basis von Kon­sen­sus getrof­fen, das erfor­dert Zeit und Geduld. Wir dis­ku­tie­ren viel über diese Frage, kom­men zu kei­nem Ergeb­nis. Irgend­wann wird die Gruppe eine Lösung fin­den, nach eini­gen Dis­kus­sio­nen, Reunio­nen, Plenaren..

Das Leben in Gemein­schaft erfor­dert Geduld, Ehr­lich­keit – vor allem mit sich Selbst- gegen­sei­ti­ges Ver­ständ­nis und noch eini­ges mehr, dass Zeit braucht, um sich zu ent­wi­ckeln. Vel­atropa ist ein Expe­ri­ment. Nicht nur, um zu beob­ach­ten und zu expe­ri­men­tie­ren, wie die Natur sich lang­sam wie­der einen Beton­platz zurück­holt. Son­dern auch, um sich als Indi­vi­duum mit sich und dem Leben in Gemein­schaft auseinanderzusetzen.

Bis ans Ende der Welt: Auf geht’s nach Patagonien! 

Die Zeit scheint zu flie­gen. Lisa ist vor ein paar Tagen in Vel­atropa ange­kom­men und heute steht der elfte Sep­tem­ber im Kalen­der, der Tag an dem unsere Schwes­ter Michelle hier in Argen­ti­nien besu­chen und ein paar Wochen gemein­sam mit uns rei­sen wird.

Schwe­ren Her­zens, aber mir Vor­freude auf die kom­mende Zeit, ver­ab­schiede ich mich von Vel­atropa und wir machen uns auf den Weg Rich­tung Süden, nach Patagonien….

 

 

 

 

 

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Lisa & Julia Hermes

"Reisen ist unsere Leidenschaft. Vor allem langsam zu reisen: wenn wir uns trampend, radelnd oder zu Fuß von Ort zu Ort bewegen, haben wir das Gefühl, die Länder, die Menschen und Kulturen unmittelbarer erleben zu können." Gemeinsam reisen die zwei Schwestern seit Juli 2017 ohne Flugzeug um die Welt.

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