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Unter den Sternen des Outbacks

„Einen Leh­rer gibt es, wenn wir ihn ver­ste­hen; es ist die Natur“, wusste schon Hein­rich von Kleist. Ich gebe ihm recht, ist es doch stets in der Ein­öde, dass ich etwas zu ver­ste­hen beginne. Über die Welt, andere Men­schen, mich. Immer ist es in der Natur, dass ich Ant­wor­ten auf Fra­gen finde, derer ich mir vor­her nicht bewusst war. So auch weit drau­ßen in den aus­tra­li­schen Flin­ders Ran­ges, auf dem Arkaba Walk, einem der Great Walks of Aus­tra­lia.

Von oben ist alles anders

Sie ist so anders, die Per­spek­tive von hoch oben als von dort, wo man mit bei­den Füßen mit­ten­drin steht. Egal, wie die­ses Mit­ten­drin auch aus­sieht. Von dem win­zi­gen Flie­ger aus ist der erste Blick aufs Out­back der Abklatsch mei­ner Fan­ta­sie. Rot. Hori­zont­los. Lebens­feind­lich, aber mit unzäh­li­gen Nar­ben, die doch von Leben und Geleb­tem erzäh­len. Mit­ten­drin die Flin­ders Ran­ges – Flin­der­skette – ein 500 Kilo­me­ter lan­ger Gebirgs­zug, der den Wes­ten vom Osten teilt, im Nor­den South Aus­tra­lias. Ein Gebirgs­zug aus Stei­nen, die teils eine Mil­li­arde Jahre auf dem Buckel haben. Eine Vor­stel­lung, die jeg­li­ches Jam­mern über das mensch­li­che Altern ins Lächer­li­che zieht.

Irgendwo im roten Nir­gendwo ver­eint sich der Flie­ger mit Erde und Staub. „Haw­ker. Hub of the Flin­ders“, steht Schwarz auf Weiß vor einer Hütte mit rotem Dach.

In mir krib­belt es, wie es nur an neuen Orten krib­belt, die nicht wie ein ganz wei­ßes, aber den­noch unbe­schrie­be­nes Blatt vor mir lie­gen. Ein Blatt, das sich mit Momen­ten fül­len soll. Meine drei Mit­rei­sen­den und ich, zwei Bri­ten und ein Ame­ri­ka­ner, wer­den von Dar­lene begrüßt, einer Neu­see­län­de­rin, die nach ihrer Kreuz­fahrt­schiff-Kar­riere nun seit Jah­ren als Wan­der­füh­re­rin arbei­tet. Sie ist unser Guide für die kom­men­den Tage auf dem Arkaba Walk. Ian, ein Fah­rer, der sich wohl viel def­ti­ges Busch­essen rein­zieht, beglei­tet sie.

Nach­dem uns Dar­lene den Arkaba Walk grob erklärt hat – nor­ma­ler­weise eine drei­tä­gige Wan­de­rung mit drei Über­nach­tun­gen, vom berühm­ten Wil­pena Pound (ein von der Natur geschaf­fe­nes Amphi­thea­ter aus Ber­gen) über die Aus­läu­fer der Elder Range, Red Range und Arkaba Creek, von denen wir aber nur zwei Tage nach­wan­dern. Dabei sind 60.000 Mor­gen – fast 243 Qua­drat­ki­lo­me­ter – von Arkaba heute in pri­va­tem Besitz, nach­dem das Gebiet erst­mals 1851 von den eng­li­schen Browne Brot­hers besie­delt wurde, und die­nen dem Erhalt der Tier­welt und Land­schaft. Der Walk wird in den Bro­schü­ren als Wan­de­rung durch die Geschichte ange­prie­sen, mit stän­dig wech­seln­den Land­schafts­bil­dern und vie­len Tie­ren. Im ers­ten Moment sind die ein­zi­gen Tiere, mit denen wir zu kämp­fen haben, Heere von Flie­gen, die uns bela­gern, als wären wir von Mist­hau­fen umge­bene Pferde. Eine der klei­nen Neben­wir­kun­gen des Out­backs. Mich soll‘s nicht stö­ren – Son­nen­brille auf, Mund zu, Pro­blem gelöst.

Wäh­rend uns Ian vom Flug­ha­fen weg und in die Land­schaft hin­ein­fährt, glaube ich das mit den wech­seln­den Land­schaf­ten lang­sam. Noch habe ich die rote Weite vom Flug­zeug auf der Linse, doch wenige Kilo­me­ter wei­ter spren­keln grüne Farb­tup­fer die nach Was­ser lech­zende Land­schaft. Was von oben lei­chen­starr wirkt, steckt in Wirk­lich­keit vol­ler Leben. Kän­gu­rus, so rot wie die Erde, hüp­fen auf ihrer Son­nen­flucht unter den nächs­ten Baum. Sie sind grö­ßer und kräf­ti­ger als die Kän­gu­rus, die ich im Süden gese­hen habe. „Hier ist jeder kleine Busch und jede Pflanze wich­tig, denn viele spei­chern Was­ser, das die Kän­gu­rus trin­ken.“ Ich schaue mir die Triebe am Boden an, über die ich hin­weg­tram­pele. Leben, wohin ich trete und schaue. Nur, dass ich das erst jetzt, wo ich mit­ten­drin stehe, kapiere.

„1.200 Kilo­me­ter sind nichts“

Ich wuchs in einer Klein­stadt 15 Kilo­me­ter von Köln ent­fernt auf, und damals erschie­nen mir 15 Kilo­me­ter unend­lich viel. Sie bedeu­te­ten eine lange Zug­fahrt von 20 Minu­ten. Spä­ter erschie­nen mir 40 Kilo­me­ter Fahrt bis zu mei­nem ers­ten Arbeits­platz viel. Damals hatte ich noch nicht mit Ian gespro­chen. „Ich fahre hier drei Mal wöchent­lich die Post aus, jeweils auf einer Stre­cke von über 1.200 Kilo­me­tern“, berich­tet er. Das wäre unge­fähr so, als würde ein deut­scher Post­bote drei­mal wöchent­lich von Ham­burg nach Mai­land fah­ren, um unter­wegs alle Brief­käs­ten zu füllen.

Kurz hal­ten wir am Brief­kas­ten von Far­mer Keith, der die Form eines schrill pin­ken Mini­jeeps hat. Sonst weit und breit nichts, auch der Bau­ern­hof ist nicht in Sicht. Um sei­nen Brief­kas­ten zu errei­chen, muss Keith wohl selbst in den Jeep steigen.

Ich denke über Ent­fer­nun­gen nach, dar­über, was unser Emp­fin­den von Distanz prägt. Nor­ma­ler­weise wohl das, was wir gewohnt sind. Wer in Mit­tel­eu­ropa auf­wächst, emp­fin­det es als nor­mal, dass das eigene Häus­chen an dem der Nach­barn klebt oder gar ein­ge­quetscht ist zwi­schen einer Latte iden­tisch aus­se­hen­der Buden. 10 Kilo­me­ter sind eine ganze Menge, 20 erst recht, ab 50 spricht man von einer län­ge­ren Fahrt. Und mit der Nähe von Dör­fern und Städ­ten wird auch die stän­dige Nähe ande­rer Men­schen zur Nor­ma­li­tät. In Deutsch­land mehr als in Finn­land, in Tokyo oder Seoul mehr als in Deutsch­lands Städten.

Wäh­rend uns Dar­lene fort von der Straße und rein in die Wild­nis führt, lasse ich mich zurück­fal­len. Mir wird schon die Nähe der ande­ren Vier fast zu viel. Die Natur scheint mir ein immer bes­se­rer Zufluchts­ort, weil sie so viel Raum bie­tet. Und den Luxus, nicht reden und nicht zuhö­ren zu müs­sen. Nicht wie ein Handy oder PC mit stän­dig ange­schal­te­tem WLAN auf Dau­er­emp­fang zu sein und zu sen­den und zu emp­fan­gen, als gäbe es kein Mor­gen. Ich genieße sie, diese Momente, in denen der Sen­der auf Aus steht. Nichts geht rein, nichts raus. Ich bin ein­fach, hier und jetzt.

Auch Bäume haben Pickel

Ich mag, dass in der Natur nichts per­fekt und doch alles voll­kom­men ist. „Frü­her wurde in Arkaba Bari­um­zu­satz abge­baut, dann begann die Schaf­hal­tung“, erzählt Dar­lene. Beim Arkaba Homes­tead, wo wir die zweite Nacht ver­brin­gen sol­len, gebe es gar eine der ältes­ten Schur­hüt­ten in South Aus­tra­lia. Dass wir kein ein­zi­ges Schaf sehen, hat einen Grund: Seit 2013 gibt es keine Schafe mehr. Die Regie­rung wolle auf „car­bon far­ming“ umstel­len, sub­ven­tio­niere dabei die hie­si­gen Bau­ern. Ich habe noch nie von Koh­len­stoff-Land­wirt­schaft gehört, doch laut Dar­lene soll diese auch dem Kli­ma­wan­del ent­ge­gen­wir­ken. Damit sich der Koh­len­stoff im Boden anrei­chert, muss die­ser vor allem in Ruhe gelas­sen wer­den. Zum Anbau wer­den Samen direkt in die Erde gege­ben, damit Wur­zeln und Reste vor­he­ri­ger Ern­ten orga­ni­sches Mate­rial bil­den und die bereits im Boden befind­li­chen orga­ni­schen Mate­rien nicht mehr so leicht verkümmern.

Dar­lene liest etwas vom Boden auf. Etwas, das aus­sieht wie eine schwarze Zimt­schne­cke. „Das ist die Aus­schei­dung eines Emus“, erklärt die Neu­see­län­de­rin strah­lend, spä­ter sol­len wir auch über Emu-Eier stol­pern. Der Gedanke an ein bal­di­ges Pick­nick verpufft.

„Die Steine hier sind 560 Mil­lio­nen Jahre alt“, redet Dar­lene wei­ter, als hätte sie nicht gerade Emu-Kacke zwi­schen den Fin­gern. „Ihr bewegt euch stän­dig zwi­schen ver­schie­de­nen Zeit­ach­sen.“ Wir schwei­gen, gefan­gen in der Weite der Land­schaft, die geröl­lig und fel­sig und durs­tig an der Berg­kette am Hori­zont bricht. Wir müs­sen sie nur mit umher­hüp­fen­den Kän­gu­rus tei­len. „Die Tiere den­ken bestimmt, wie blöd wir sind, in der Sonne rum­zu­lau­fen, wenn man bei Hitze doch am bes­ten unterm Baum im Schat­ten bleibt“, lacht Dar­lene. Zuge­ge­ben, in man­chem Moment würde ich gern mit einem Kän­guru tauschen.

Sobald sie unser Ein­drin­gen in ihren Lebens­be­reich spü­ren, blei­ben sie ste­hen, beob­ach­ten uns. Blei­ben sit­zen, bis sie die Nähe als bedroh­lich emp­fin­den und sich aus dem Staub machen. Rich­tig aktiv seien sie nur nachts und in den frü­hen Mor­gen­stun­den. Sobald Dar­lene „Look, a roo!“ aus­ruft, schnel­len unsere Köpfe in die ange­zeigte Rich­tung. Dabei ist Roo nicht gleich Roo. Am häu­figs­ten in den Flin­ders Ran­ges sind Wes­tern Grey Kan­ga­roos, Red Kan­ga­roos, Euros – nein, kein Bar­geld aus Europa, dies ist auch eine Kän­guru-Art – sowie Yel­low-foo­ted Rock Wal­la­bys. Am häu­figs­ten schei­nen die grauen zu sein, wobei ich sie so rich­tig nicht zu unter­schei­den lerne.

Pick­nick gibt es nach bes­tem Kän­guru-Bei­spiel im Schat­ten. „Was ist mit dem Baum los?“, will die Eng­län­de­rin wis­sen und deu­tet auf ein schwarz-brau­nes Geschwür am hel­len Stamm. „Ich sage immer, das ist ein Pickel“, kichert Darlene.

Wie beru­hi­gend, dass sich auch Bäume mit die­sem Lei­den her­um­schla­gen müs­sen. Natur halt. Genau wie meine erste Busch­toi­lette, bei der ich mich beob­ach­tet fühle. Als ich mich umsehe, sitzt es da. Ein Kän­guru, das hin­ter einem Fel­sen her­vor­lugt und von Pri­vat­sphäre anschei­nend noch nichts gehört hat. Und wohl auch noch kei­nen Men­schen­hin­tern gesehen.

5‑Mil­lio­nen-Sterne-Hotels rule

Wieso legen wir uns nicht zu Hause im Som­mer nachts auf den Bal­kon, um in den Ster­nen­him­mel hoch­zu­schauen? Warum gehen wir nicht jeden Abend auf eine Wiese und schauen zu, wie das Ster­nen­zelt über uns ange­knipst wird? Das sind die Fra­gen, die ich mir in der kom­men­den Nacht stel­len soll. Aber zuerst ein­mal errei­chen wir gegen 16 Uhr – uns blei­ben noch zwei Stun­den Son­nen­licht – das Elder Camp. Jenen ein­fa­chen und doch ein­ma­li­gen Ort, mit dem sämt­li­che aus­tra­li­sche Urlaubs­bro­schü­ren wer­ben. So oft habe ich das Bild ange­schaut, auf dem eine lang­haa­rige Frau auf einer Platt­form neben ihrem Swag – eine Art bes­se­rer Schlaf­sack mit wei­cher Unter­lage – sitzt und ent­spannt auf die von der Sonne rot bemalte Gebirgs­kette schaut. Ich konnte nicht glau­ben, dass bald ich dort sit­zen würde. Lang­haa­rig, ent­spannt, mit­ten in der Natur.

Jeder von uns bekommt eine Drei-Minu­ten-Dusche, geduscht wird mit Blick ins Grüne, fürs Haa­re­wa­schen reicht es nicht. Egal.

Die Hüt­ten, falls man die fünf ein­fa­chen Bau­ten für maxi­mal zehn Per­so­nen über­haupt so nen­nen kann, sind offen, nur ein win­zi­ges Dach würde Schutz bie­ten, falls es doch mal reg­nen sollte. Aber die Gefahr besteht in die­ser Nacht nicht, ich ziehe mei­nen Schlaf­sack sofort raus auf die ‚Ter­rasse‘. Spiele die Frau aus der Urlaubs­bro­schüre. Nur das Glück, das ich live vor Ort ver­spüre, das konnte das Foto nicht vermitteln.

Dar­lene ent­zün­det ein Feuer, danach kochen sie und eine Kol­le­gin das Abend­essen. Lang­sam ver­stehe ich, wieso der Arkaba Walk als Busch-Luxus zählt – man tut so, als ob man cam­pen würde, braucht jedoch kei­nen Hand­schlag zu tun. Nun gut, ein paar Tage lang kann man sich auch das mal gön­nen. Fri­scher Käse und Bier oder Wein lan­den bei uns neben dem Feuer, das Para­dies rückt immer näher. Es braucht so wenig, um zufrie­den zu sein. Wenn kei­ner redet, durch­bricht nur das Zün­geln des Feu­ers die Stille.

Ich liebe Stille. Komme wie die meis­ten aus einem All­tag, in dem Klin­geln und Pie­pen und Quat­schen den Ton ange­ben. Und wenn mal nichts davon meine Gehör­gänge ver­stopft, dann stelle ich die Musik laut, so unheim­lich ist mir die Stille daheim. Weil sie eben doch nie eine voll­kom­mene Stille ist, besu­delt wird vom Häm­mern nebenan, von der Sirene eines Kran­ken­wa­gens, vom vor­bei­flie­gen­den Flug­zeug. Nein, wahre Stille gibt es bei mir in der City nicht, und ehe dass ich sie halb genieße, mache ich lie­ber die Musik laut. Die brau­che ich hier nicht. Die Stille ist melo­disch, beru­hi­gend. Gau­kelt mir vor, dass sie mich auf­fängt, wenn ich mich fal­len lasse. Doch dann ist wie­der Reden dran. Wenn vier Rei­sende sich tref­fen, dann wer­den Geschich­ten aus- und neu ver­packt. Der Ame­ri­ka­ner hat die Nase vorn, lässt zu jedem Furz die pas­sende Geschichte über eine span­nende Reise raus. As und Os fol­gen an den pas­sen­den Stel­len. Ich esse stumm. Huhn, Mais, über­ba­cke­nen Broc­coli, Salat. Scho­ko­torte. Dar­lene und ihre Kol­le­gin haben sich selbst über­trof­fen. Busch-Luxus.

Als auch der letzte Krü­mel auf­ge­ges­sen und das Feuer die ster­ben­den Fun­ken gesprüht hat, kehrt Stille ein. Ich schlüpfe in den war­men Schlaf­sack, der Ster­nen­him­mel-Fern­se­her über mir läuft. Ich habe nicht viel Ahnung von Ster­nen, doch da ist ganz klar die Milch­straße. Und Mil­lio­nen wei­te­rer Sterne und Stern­chen, befreit von der gewohn­ten Licht­ver­schmut­zung. Ich möchte die Augen nicht schlie­ßen, um nicht eine Sekunde zu ver­pas­sen. Um keine Stern­schnuppe zu mis­sen. Dabei bin ich doch schon wunsch­los glück­lich. Die Augen­binde und Ohoro­pax, mit denen ich nor­ma­ler­weise ins Bett gehe, blei­ben auf dem Boden lie­gen. Irgend­wann schlie­ßen sich meine Augen. Aber ich wache viele Male auf. Spüre einen Hauch an der Wange, schaue nach oben. Und fühle mich beschützt.

Dar­win hatte recht 

Die auf­ge­hende Sonne wirft ihre Schein­wer­fer auf die Elder Range gegen­über des Camps, leuch­tet sie von allen Sei­ten in ihrer roten Pracht aus. Ich liege im Schlaf­sack, schlürfe den Tee, den Dar­lene gebracht hat. Schaue, staune, genieße.

Es fühlt sich ganz anders an als die­ses aus dem Bett Has­ten mit dem ers­ten Wecker­klin­geln, und auch die Snooze-Taste für die domi­nan­ten inne­ren Schwei­ne­hunde ist hier über­flüs­sig. Hier kos­tet es keine Über­win­dung, den Mor­gen zu begrü­ßen. Die Vor­freude auf den Tag liegt schon oben auf der Lunch-Tupperbox.

Nach einem üppi­gen Früh­stück erklärt Dar­lene die Stre­cke, dann geht‘s los, zunächst ent­lang des Heysen Trails, der in sei­ner Gesamt­länge 1.200 Kilo­me­ter misst. Wie Ians Postweg.

An die­sem Tag gibt es statt Weit­blick Tief­blick, wäh­rend wir durch ein aus­ge­trock­ne­tes Fuß­bett stap­fen. Ich fühle mich wie ein Kän­guru, das nach dem Schat­ten eines Bau­mes lechzt. Davon gibt es wie­der reich­lich, anders, als der Blick von oben ver­mu­ten ließ. Manch­mal sto­ßen wir auf Tier­kno­chen, meis­tens von Kän­gu­rus, ein ande­res Mal beglei­tet uns Ver­we­sungs­ge­stank eines erst kürz­lich ver­en­de­ten Tie­res. „Es ist die natür­li­che Aus­lese der Natur, the sur­vi­val of the fit­test“, erklärt uns Dar­lene. „Mit dem Kli­ma­wan­del müs­sen auch die Tiere ihren Lebens­stil anpas­sen. Wenn es lange tro­cken ist, müs­sen sie sehen, wie sie Nah­rung und Was­ser fin­den.“ Obwohl Arkaba über­wie­gend in Pri­vat­be­sitz sei, tue man jedoch nichts, um in die Natur ein­zu­grei­fen, es gebe keine Was­ser- oder Futterspender.

„Für Kän­gu­rus ist es wich­tig, ihre Kör­per­tem­pe­ra­tur mög­lichst nied­rig zu hal­ten. Wenn sie lange gesprun­gen sind, suchen sie Schat­ten und las­sen den Schweiß trock­nen, das kühlt sie run­ter.“ Ich sehe Amei­sen­hü­gel mit so vie­len Amei­sen wie in der Vor­nacht Sterne am Him­mel, die in alle Rich­tun­gen davon­wu­seln, wenn sich ein Mensch nähert. Dann führt Dar­lene ein klei­nes Expe­ri­ment vor. Mit einer Was­ser­fla­sche benässt sie grau in der Hitze dahin­dürs­ten­des Moos. Das sich sogleich in einen saf­tig grü­nen Tep­pich ver­wan­delt, vor Leben sprüht.

Etli­che Bäume tra­gen noch die Spu­ren von Feuer an Stamm und Ästen. „Die meis­ten Busch­feuer wer­den absicht­lich und kon­trol­liert gelegt.“ Wieso das? „Wenn man das Alte ver­brennt, kann etwas Neues wach­sen.“ Die Bäume lie­ßen kurz vor der Feu­er­brunst Samen fal­len, die dann wie­derum neue Bäume sprie­ßen las­sen. Nichts, was ich bis­her von Dar­lene gehört habe, scheint mir ein­leuch­ten­der und über­trag­ba­rer auf das mensch­li­che Leben. Denn ist es nicht oft, wenn man den Abgrund erreicht hat, dass sich die Syn­ap­sen neu ver­bin­den und damit den Grund­sa­men für etwas ande­res legen?

Am bes­ten gefal­len mir die Bäume, die schräg und schief gewach­sen sind. „Sie haben die inter­es­san­teste Geschichte zu erzäh­len“, liest Dar­lene meine Gedan­ken und bleibt vor einem Stamm ste­hen, der sich wie ein Bier­bauch nach vorne wölbt. Ein ande­rer Baum birgt eine klare Schnitt­stelle, als hätte jemand ver­sucht, den Stamm zu ope­rie­ren und ver­ges­sen, die äußere Haut- und Fett­schicht wie­der zuzu­nä­hen. „Das ist das Werk von Abori­gi­nes. Sie schnit­ten oft Rinde aus den Bäu­men, um diese als Tra­ge­gurt für Babys zu benut­zen, für Kanus oder andere Nutz­ge­gen­stände.“ Dem Baum schade dies jedoch nicht.

Die Natur ist dein Leh­rer, nicht dein Freund 

Je län­ger ich in der Wild­nis des Out­backs und der Flin­ders Ran­ges unter­wegs bin, desto mehr Respekt bringe ich der Natur ent­ge­gen. Desto mehr wird mir bewusst, dass ich der Ein­dring­ling bin, der nur zu Gast sein darf, solange die Natur es mir erlaubt und so lange ich alles bei mir habe, was mein Über­le­ben garantiert.

Mit­ten aus der Ein­öde taucht wie eine Oase der Arkaba Homes­tead auf, ein sty­lishes Häus­chen mit fünf Zim­mern, das stau­bi­gen und durs­ti­gen Wan­de­rern den höchs­ten Luxus bie­tet. Sogar Bade­wan­nen mit Blick ins Grüne. Wirk­lich brau­chen tut dies kei­ner von uns, dank­bar anneh­men tun wir es trotz­dem. Doch wenn ich ganz ehr­lich bin, würde ich lie­ber noch eine Nacht unterm Ster­nen­zelt schla­fen als wie­der unter einer Zimmerdecke.

Diese Nacht ist alles anders. Das Drei­gän­ge­menü von Top-Köchen ist noch üppi­ger, der Alko­hol füllt die Glä­ser so schnell, dass ich mit dem Trin­ken kaum nach­komme und es ist rich­tig laut. Rund um den Pool beset­zen Hun­derte von Schrei­häl­sen die Bäume – Schrei­hälse mit roten Lätz­chen, grauen Flü­geln und wei­ßen Käm­men, die aus­se­hen wie in einen Mixer gera­tene Papa­geien. Und sich auch so anhö­ren. Gal­lah schimp­fen sich diese Vögel, die ich noch nie zuvor gese­hen – oder gehört – habe. Aktiv sind sie nicht nur am Abend, son­dern auch am Mor­gen, als hin­ter mage­ren Bäu­men die Sonne über den Hori­zont lugt.

Die Gal­lahs ver­schwin­den erst, als wir uns auf den Weg zum Wil­pena Pound machen, was nor­ma­ler­weise an Tag eins des Arkaba Walks auf dem Pro­gramm steht. Das Berg-Amphi­thea­ter gilt als High­light der Flin­ders Ran­ges und ist ent­spre­chend gut besucht, doch mor­gens früh herrscht ruhige Fri­sche. Die Gedan­ken strei­chen um die Bäume wie die Brise, doch plötz­lich stinkt es. Nach Zie­gen­käse Forte. Schon biegt der Ver­ant­wort­li­che um die Ecke – ein dicker schwar­zer Zie­gen­bock, der um ein Haar mit dem Ame­ri­ka­ner zusam­men­stößt und im letz­ten Moment doch noch abbiegt, um dem Viel­ge­reis­ten – und sei­nen Zuhö­rern – keine wei­tere Geschichte zuzu­mu­ten. „Nor­ma­ler­weise wer­den die Zie­gen gejagt, sie zer­stö­ren viel und klauen den Kän­gu­rus das Fut­ter“, weiß Dar­lene. Also doch ein Ein­griff in die Natur.

Der Blick über den Wil­pena Pound erklärt, warum dies aller Lieb­lings­ort ist. Zwi­schen dem Wan­gara Loo­kout, wo wir ste­hen, und den Flin­ders Ran­ges am Hori­zont zieht sich eine wild bewach­sene Ebene, teils vol­ler Bäume in herbst­li­cher Blät­ter­pracht. In der Ferne sticht der St Mary Peak her­vor, der mit 1.189 Metern höchste Gip­fel der Berg­kette. „1959 ging dort ein zehn­jäh­ri­ger Junge bei einer Tour ver­lo­ren“, beginnt Dar­lene eine trau­rige Geschichte. „Er hieß Nicho­las Ban­non und war der Bru­der von John Ban­non, der spä­ter Pre­mier­mi­nis­ter von South Aus­tra­lia wurde.“ Anschei­nend ver­suchte Nicho­las, den Gip­fel von St Mary Peak auf eigene Faust zu erklim­men, mit nur einem T‑Shirt und Shorts am Leib. Ergeb­nis des Unter­fan­gens waren die Über­reste des Kin­des, die 18 Monate spä­ter gefun­den wur­den – gemein­sam mit bis dato unent­deck­ter Fels­ma­le­rei der Aborigines.

Ja, die Natur ist nicht unser Freund. Und nir­gends ist dies deut­li­cher zu spü­ren als im für Men­schen oft­mals feind­li­chen Land des aus­tra­li­schen Out­backs. Wir gehö­ren nicht hier­her. Sind nur kurz gedul­det, bis uns die Ein­sam­keit und Weite von allein aus­dör­ren. Diese Gefahr besteht bei mir nach drei Tagen noch nicht. Noch durste ich nach mehr, doch ich werde die Gast­freund­schaft des Out­backs nicht wei­ter stra­pa­zie­ren. Sou­ve­nirs kaufe ich auch im ein­zi­gen Shop am Start­punkt der Wil­pena-Pound-Wan­de­rung nicht. Nehme nur die Sterne vor Augen und roten Staub unter den Schu­hen mit.

 Die Reise wurde unter­stützt von Tou­rism Aus­tra­lia.

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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

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