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Früh­lings­spa­zier­gang mit der Eintagsfamilie

Ich bin in Medel­lin, der Stadt des ewi­gen Früh­lings. Tags­über ist es warm, aber nicht so heiß, dass man schwit­zen würde. Und nachts ist es sogar noch ein biss­chen bes­ser als im deut­schen Früh­ling. Pro­blem­los kann man, nur mit T‑Shirt und kur­zer Hose beklei­det, durch die laue Nacht schlendern.

Es ist Sonn­tag. Viel­leicht auch Sams­tag. Auf Rei­sen ver­liert man immer so schnell das Gefühl für die Wochen­tage. Jeden­falls ist Wochen­ende und da macht man einen Spa­zier­gang mit der Fami­lie. Zumin­dest war das bei uns immer so. Da ich aber gerade keine Fami­lie zur Hand habe, muss ich mir eine bor­gen. Ich lerne die Mit­glie­der mei­ner Ersatz­fa­mi­lie im Palm­tree-Hos­tel ken­nen, in dem ich seit ein paar Tagen woh­nen. Darf ich vorstellen:

Meine Ersatz­fa­mi­lie für einen Tag

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Atma (Wie bei Mahatma): Ame­ri­ka­ner, oder bes­ser Kali­for­nier. Mit Cow­boy­hut und spe­zi­ell getön­ter Son­nen­brille, die Medel­lín in noch schö­ne­ren Far­ben erstrah­len lässt.

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Sam&Sarah: Ein Pär­chen aus Bel­gien. Beide schon sehr viel gereist. Aktu­ell sind sie genau wie ich auf der Nord-Süd­achse unter­wegs. Mit dem Fern­ziel: Bue­nos Aires.

und Isa­bell: Toch­ter einer deut­sche Mut­ter und eines bra­si­lia­ni­schen Vaters. Stu­diert in Frank­furt. Ich beneide sie dafür, dass sie den Satz sagen kann: „I’m half Brazilian“

Wir sit­zen in einer Gon­del und fah­ren hin­auf zum Par­que Arvi. Anfang 2013 ist Medel­lin für Pro­jekte wie das „Metro­ca­ble“ zur inno­va­tivs­ten Stadt der Welt gekürt wor­den. Vor New York und Tel Aviv. „Es ist so, als würde man mit einem Ski-Lift durch die Stadt fah­ren“. meint Sarah ver­gnügt. Unter uns zwän­gen sich Ein­hei­mi­sche durch die Markt­stra­ßen. Auch der Aus­blick ist traum­haft und er wird mit jedem Höhen­me­ter traum­haf­ter. Am traum­haf­tes­ten ist er durch die getönte Brille von Atma.

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Oben ange­kom­men wird nach kur­zer Brot­zeit (Es gibt fri­sche Früchte mit gezuck­ter Kon­dens­milch) demo­kra­tisch vom Fami­li­en­rat ent­schie­den einen Abste­cher zum See zu machen. Ein kos­ten­lo­ser Bus, der schal­lende Bal­len­ato-Musik spielt, bringt uns dahin. Der See ist in einem Park im Park und hat eine etwas ver­rückte Ein­tritts­lo­gik. Man bezahlt erst­mal nichts, muss aber eines der Frei­zeit­an­ge­bote im Park nut­zen um wie­der raus zu kön­nen. Wir gehen zumin­dest erst­mal rein. Wie immer bei Fami­li­en­aus­flü­gen und zu vie­len Optio­nen gibt es Unstim­mig­kei­ten. Der Groß­teil der Gruppe würde gemein­sam mit mir gern in die Schmet­ter­lings­farm. Nur Isa­bell, unsere Jüngste, ist nicht begeis­tert. Sie würde viel lie­ber Boot fah­ren, zu mal es auch noch der güns­ti­gere Deal ist um den Park wie­der zu verlassen.

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Warum ich fast nicht über Vicky geschrie­ben hätte?

Sie Sze­ne­rie ist beschrie­ben und die Cha­rak­tere vor­ge­stellt. Damit dar­aus eine Geschichte wird,  fehlt aber noch eine Per­son. Und trotz­dem hätte ich fast nicht über Vicky geschrieben.

Über Namen in mei­nen Geschich­ten: Der auf­merk­same Leser wird bemerkt haben, dass ich hier mun­ter Namen und Fotos von Per­so­nen ver­wende, die es tat­säch­lich gibt und die ich auch wirk­lich getrof­fen habe. Die nach­denk­li­chen unter den auf­merk­sa­men Lesern wer­den sich nun fra­gen, ob das eigent­lich in Ord­nung ist. Schließ­lich ist das Inter­net ja öffent­lich und die Erleb­nisse dann doch recht per­sön­lich. Also doch alles hin­ter den pseu­do­pri­va­ten Pri­vat­s­sphäre-Mau­ern von Face­book ver­ste­cken? So dass die Leute nicht mit­be­kom­men, dass man über sie schreibt und dass sie einen irgend­wie bewegt haben. Oder viel­leicht ein T‑Shirt bedru­cken? Mit der Auf­schrift „ACHTUNG! Ich beob­achte alles was du sagst und tust und petze es dann an die Welt wei­ter! Oder Geschich­ten ohne Namen, aber dann blickt man bei mei­ner ana­chro­nis­ti­schen Erzähl­weise schnell nicht mehr durch. Ich habe mir des­we­gen fol­gen­des über­legt: Ich ver­wende den Namen nur, wenn ich an der Per­son etwas gefun­den habe, was ich mag und dann ver­su­che ich die Per­son so zu beschrei­ben, als würde ich ihr ein Kom­pli­ment machen. Ein rich­ti­ges Kom­pli­ment, kein geschleim­tes. Zugleich nehme ich die Per­son nicht zu ernst, das nehme ich mich schließ­lich auch nicht. Wenn hier auf catchingsmiles.net nun Per­so­nen ohne Namen auf­tau­chen, kann das fol­gende Ursa­chen haben: 1. Der Name würde den Leser ver­wir­ren und er ist für die Geschichte nicht not­wen­dig 2. Ich bin mir, obwohl ich die Per­son mag, nicht sicher ob sie hier einen Gast­auf­tritt möchte 3. Ich habe den Namen ver­ges­sen. Viele Men­schen haben die unglück­li­che Ange­wohn­heit erst ihren Namen zu sagen, bevor sie etwas Inter­es­san­tes erzäh­len, damit man abschät­zen kann, ob sich der Mer­kauf­wand lohnt. Und der vierte Grund, warum eine Per­son hier ohne Namen auf­taucht, ist eben, dass ich tat­säch­lich noch nichts gefun­den habe, was ich an ihr mag. Vicky hat mir das nicht so ein­fach gemacht.

Ich bin mit mei­ner Ein­ta­ges­fa­mi­lie also im Par­que Piedras Blan­cas inner­halb des Par­que Arvi hoch in den Ber­gen von Medel­lin. Wir müs­sen eine Akti­vi­tät machen um wie­der raus­zu­kom­men und wir kön­nen uns nicht ent­schei­den. In die­sem Moment erwei­tert sich unsere Fami­lie um ein wei­te­res Fin­del­kind. Er heißt Vicky, kommt ursprüng­lich aus Indien und lebt jetzt in New York. Die Ein­hei­mi­schen über­ge­ben ihn uns als wei­te­re­ren „Gringo“. Vicky ist Ent­wick­ler. Immer wenn mich jemand fragt, was ich eigent­lich arbeite und ich das dann in vie­len mühe­voll ver­schlun­gen Sät­zen erklärt habe, kommt die Fol­ge­frage: „Und pro­gram­mierst du das dann auch?“ Vicky kann pro­gram­mie­ren. Was er nicht kann, ist sich auf Spa­nisch zu ver­stän­di­gen. Was in Süd­ame­rika durch­aus zum Pro­blem wer­den kann. Für Isa­bell kommt Vicky im per­fek­ten Moment. Sie lei­tet sich ihr Spa­nisch vom Por­tu­gie­sich ab und orga­ni­siert ein Boots­ti­cket für die beiden.

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Schön wars in der Schmet­ter­lings­farm. Gol­dene Kokons, bal­zende Schmet­ter­linge und dank dem blu­mi­gen Par­füm von Sarah gab es sogar haut­na­hen Kon­takt mit den bun­ten Flat­ter­we­sen. Kaf­fee­trin­ken ist nach mei­nem Kennt­nis­stand fes­ter Bestand­teil eines Fami­li­en­aus­flugs. Atma und ich gehen zum Restau­rant. Wir glau­ben, dass das schnell gehen müsste und mel­den uns nicht kor­rekt von Sam&Sarah ab, die immer noch im Schmet­ter­lings­rausch sind. Eine Vier­tel­stunde war­ten wir auf den Kaf­fee, mit dem Ergeb­nis, dass die Kaf­fee­ma­schine just in dem Moment den Geist auf­gibt, wo sie für uns brü­hen soll. Sam&Sarah sind weg. Wir eilen zurück zum Park­ein­gang, als plötz­lich von wei­tem Geläch­ter zu hören ist. In male­ri­scher Kulisse sehen wir ein lus­ti­ges Pad­del­team beim Ver­such sich fort­zu­be­we­gen. Das Lachen kommt von Isa­bel. Selbst von wei­ten kann man sehen, dass Vicky eine sehr unter­halt­same Art hat, das Pad­del zu „bedie­nen“. Da das Vie­rer­boot eh schon bezahlt ist, sprin­gen wir ein und über­neh­men die Fort­be­we­gungs­auf­gabe. Die Aus­sicht vom See belohnt uns dafür.

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Das Schöne auf den zwei­ten Blick

Wir sit­zen wie­der in der Gon­del. Dies­mal geht es abwärts. Und da die Kulisse unver­än­dert traum­haft ist und wir inzwi­schen Fami­li­en­zu­wachs bekom­men haben, wer­den wie­der die Papa­yas .… ähmm … ich meine die Foto­han­dys gezückt. Mir fällt die ver­ant­wor­tungs­volle Auf­gabe zu ein Erin­ne­rungs­foto von Vicky und Isa­bell zu machen. Mit digi­ta­len Kame­ras hat man die Mög­lich­keit das Foto direkt zu sehen. Gibt man seine Kamera aus der Hand, ist man auf die Foto­gra­fi­erfer­tig­kei­ten des ande­ren ange­wie­sen. Fal­scher Zoom, Fin­ger im Bild … man kann schon eini­ges falsch machen bei die­sen voll­au­to­ma­ti­schen Kame­ras. Der gesell­schaft­li­che Kodex an die­ser Stelle schreibt vor, dass man eine Kor­rek­tur­schleife machen kann. Man hat also noch eine Chance ein feh­ler­freies Bild zu bekom­men, wenn das erste ver­sem­melt wurde. Unab­hän­gig vom Ergeb­nis bedankt man sich dann höf­lich und hofft für den Fall, dass auch die­ses Bild geschei­tert ist, dar­auf dass Pho­to­shop das schon irgend­wie rich­ten wird. Oder ein Hip­sta­ma­tic-Fil­ter es zumin­dest künst­le­risch wert­voll aus­se­hen las­sen wird. Vicky kennt die­sen sozia­len Kodex nicht. „Noch mal bitte!“ Immer ist etwas ande­res falsch. Ein Schat­ten von der Gon­del, falsch geöff­nete Augen, ver­zo­gene Mund­win­kel. Am Schluss fällt es selbst Isa­bell schwer zu lächeln. Ich bin kurz davor zu sagen, dass Vicky nun auch nicht das dank­barste Motiv ist, da über­lege ich, ob ich nicht doch etwas an ihm finde, was mir gefällt…

Zwei Wochen vor­her in Bogotá:
Manch­mal will man eigent­lich längst wei­ter­zie­hen, dann lernt man nette Leute ken­nen und plötz­lich befin­det man sich beim Kung Fu Trai­ning einer Stu­den­ten­gruppe. Sport ist auf über 2000 Höhen­me­tern durch­aus eine Her­aus­for­de­rung. Ich stelle mich auch nicht beson­ders talen­tiert beim „Kra­nich“ und den ande­ren lus­ti­gen Kung-Fu-Posen an. Trotz­dem bin ich glück­lich. Ich bin in die­sem Moment kein Tou­rist, son­dern ein Teil die­ser Gesell­schaft und das fühlt sich gerade unglaub­lich stark an. Ich will, dass die­ser Moment ent­spre­chend fes­ge­hal­ten wird, und bitte Agnes, eine sehr gute Freun­din von Miguel ein Foto von uns zu machen. Die Licht­ver­hält­nisse sind schwie­rig. 1. Ver­such. Ich: „Danke. Kannst du bitte noch eins machen?“ 2. Ver­such Ich: „Danke, das ist super!“ Beide Fotos sind unscharf.

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Vickys Stärke ist also Genau­ig­keit und Hart­nä­ckig­keit. Wahr­schein­lich könnte er sonst auch nicht pro­gram­mie­ren. Ich glaube mal wie­der etwas gelernt zu haben. Und mal ganz ehr­lich. Wer kann es ihm ver­übeln, wenn er ein schö­nes Erin­ne­rungs­foto an einen Wochen­end­aus­flug mit einer Halb­bra­si­lia­ne­rin möchte.

:-)

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Cate­go­riesKolum­bien

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