Der neue Ortler Höhenweg

Eigent­lich sollte ich eine der Ers­ten sein, die ihn etap­pen­weise begeht – den neuen Ort­ler Höhen­weg von sie­ben Tages­etap­pen rund um Süd­ti­rols höchs­ten Berg, den 3.905 Meter hohen Ort­ler. Offi­zi­ell eröff­net wurde er Okto­ber 2018, von Wan­de­rern began­gen wer­den sollte er aller­dings erst ab Juni 2019. Das war der Plan. Aber wie schon John Len­non sang, ist Leben das, was pas­siert, wäh­rend du andere Pläne machst. Was also tun, wenn die Wan­de­rung in den Schnee fällt? Natür­lich Plan B bis D raus­kra­men – mal einen Weg tie­fer gehen, mal um die Ecke, aber ihn fast immer im Blick: den Ort­ler. Des­sen Gip­fel beim Höhen­weg nicht das Ziel ist, denn statt stur in Rich­tung Gip­fel­kreuz zu kra­xeln, gilt es dabei, das Große und Schöne aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven ken­nen­zu­ler­nen, die klei­nen Ver­än­de­run­gen in Land­schaft und Dorf­kul­tur wahr­zu­neh­men und sich zwi­schen­durch auch mal was zu gön­nen. Sei es ein Kai­ser­schmarrn, ein Fuß­bad im Berg­see oder eine Runde Sauna auf der Berghütte.

Eine der anspruchs­vol­len Höhen­tou­ren der Alpen …

… nen­nen sie den neuen Ort­ler Höhen­weg, der sich auf 119,5 Kilo­me­tern vom Stilfs­er­joch Pass durch den Stilfs­er­joch Natio­nal­park – den ein­zi­gen Süd­ti­rols – bis in die Lom­bar­dei nach Sant‘ Anto­nio, zum Can­cano See und zurück zum Stilfs­er­joch Pass schlän­gelt. Des­sen brand­neue Weg­wei­ser aus hel­lem Holz mit blauer Schrift das Wap­pen­tier des Stilfser Jochs abbil­den: einen Stein­ad­ler, den man mit viel Glück ab und zu über Täler und Berge glei­ten sieht.

Eine Kol­le­gin sagte mir über den neuen Höhen­weg: „Da krie­gen sie mich nur rauf, wenn mich ein attrak­ti­ver Berg­füh­rer auf dem Rücken trägt.“ Nicht ganz grund­los, denn die hoch­al­pine Umrun­dung ver­langt dem Kör­per satte 8.126 Meter Höhen­leis­tung ab, hoch und run­ter, bis auf 3.258 Meter. Wer nun kei­nen Berg­füh­rer hat, der einen Hucke­pack nimmt, der sollte Tritt­si­cher­heit und gute Kon­di­tion mit­brin­gen – und Berg­erfah­rung, denn wenn man die gesamte, sie­ben­tä­gige Runde allein voll­brin­gen möchte, geht es an Tag vier zwi­schen der Zufallhütte und der Casa­ti­hütte in der Lom­bar­dei über einen Glet­scher. All diese Infor­ma­tio­nen lese ich, bevor ich auf­bre­che, muss öfter schlu­cken, denn noch immer sind mir Berge nicht hun­dert Pro­zent geheuer. Zum ers­ten Mal sah ich sie aus der Nähe, als ich 26 war, und es dau­erte noch viele wei­tere Jahre, bis ich das erste Mal ein nicht ganz so hoch­ge­wach­se­nes Exem­plar erklomm. Aber was tut man nicht alles, um einen fast noch nie erwan­der­ten Pfad mit sei­nen Fuß­spu­ren zu markieren?

Wäh­rend der lan­gen, ein­sa­men Auto­fahrt von Mün­chen in Rich­tung Nord­ita­lien beschäf­tigt mich die Frage, was für einen Sinn es eigent­lich ergibt, einen Höhen-Rund­weg anzu­le­gen. So sehr ich auch daran arbeite, ich gehöre nicht zu den Men­schen, die den Weg leicht als Ziel erken­nen. Meis­tens gehe ich einen Weg, weil ich das Ziel errei­chen möchte, und zwar lie­ber frü­her als spä­ter, und ‚Geduld‘ muss ich zwi­schen­durch immer mal wie­der goo­geln. Wenn schon Berge, dann will ich für gewöhn­lich auch auf den Gip­fel. Dort­hin, wo die Sicht am wei­tes­ten ist und das Ich-hab’s‑geschafft-Gefühl zuschlägt. Wäh­rend mich der Navi an Stra­ßen­sper­ren und ver­bau­stell­ten Berg­päs­sen vor­bei durch Öster­reich und die Schweiz manö­vriert und meine Geduld irgendwo zwi­schen Gar­misch Paten­kir­chen, öster­rei­chi­schen Berg­dör­fern und Ser­pen­ti­nen­stra­ßen unter die Rei­fen gerät, klam­mere ich mich wie so oft an den Gedan­ken des Ankommens.

Wo die Nach­ti­gall singt

Und ankom­men tue ich – vier Stun­den spä­ter als geplant, aber immer­hin. In Tra­foi, einem Dorf mit gut 80 Ein­woh­nern zu Fuße von ‚König Ort­ler‘, wie die Süd­ti­ro­ler ihr größ­tes Baby nen­nen. Der Name stammt aus dem Räto­ro­ma­ni­schen Tral Ful, bedeu­tet ‚drei Quel­len‘. Quel­len, die im 13. Jahr­hun­dert ein Hirte namens Moritz ent­deckt haben soll und auf denen der Sage nach Kreuze blub­ber­ten, von denen sich der Hirte zwei schnappte. An jener Stelle steht nun die win­zige Kir­che Hei­lige Drei Brun­nen, etwa drei Kilo­me­ter außer­halb des Dorf­kerns, wo man noch heute die Heil­kraft des Was­sers tes­ten kann.

Aber das ist nicht alles, was Tra­foi auf Lager hat: Dort wurde auch Ski­le­gende Gus­tav Thöni 1951 gebo­ren und führt gemein­sam mit Ehe­frau Ingrid in sei­nem Geburts­haus ein Hotel, das Hotel Bella Vista. Zwar lerne ich ihn nicht per­sön­lich ken­nen, dafür aber Ingrid, die mir im Inne­ren stolz ein klei­nes Museum zu Ehren ihres Man­nes zeigt, der in den 70ern Olym­pia­gold und spä­ter mehr­mals den Welt­cup gewann. Er gilt als einer der erfolg­reichs­ten ita­lie­ni­schen Win­ter­sport­ler, doch heute steigt er nur noch mit sei­ner Fami­lie auf die Bret­ter, die ihn ganz schön auf Trab hält: „Wir haben drei Kin­der und mitt­ler­weile acht Enkel­kin­der“, erzählt Ingrid.

Hin­term Hotel und der Dorf­kir­che macht sich König Ort­ler nacht­fein, bald las­sen die letz­ten gel­ben Son­nen­strah­len von sei­ner Spitze ab. Und wäh­rend ich meine Unge­duld der Reise lang­sam abschüt­tele und mich auf die­sen Weg freue, der zu kei­nem Gip­fel führt, höre ich sie zum ers­ten Mal in mei­nem Leben sin­gen: eine Nach­ti­gall, die fröh­lich zwit­schert, als teilte sie meine Vor­freude. Dann lullt die Stille, die nur die Natur kann, die Berg­welt ein.

Wer lang­sa­mer geht, kommt schnel­ler an 

Wenn eine Flach­land­ti­ro­le­rin aus Ham­burg in Süd­ti­rol lan­det, dann bekommt sie zu ihrem eige­nen Schutz und dem der Berg­ret­tung einen Berg­füh­rer an die Hand. Punkt. „Ich bin der Ernscht“, stellt sich mir mein Guide am nächs­ten Mor­gen vor. Ernst Rein­stad­ler, 72 Jahre alt, mit blauer Latz­hose, Karo­hemd und Tiro­ler­hut, an dem eine Alpen­rose und eine Enzi­an­blüte ste­cken. Die Hoff­nung mei­ner Kol­le­gin, dass mich ein attrak­ti­ver Berg­füh­rer auch mal Hucke­pack nimmt, die sich heim­lich auf mich über­tra­gen hatte, ver­pufft. „Hast du was dage­gen, dass mein Hund mit­kommt, die Dorka?“ Habe ich nicht, und schon steht die sechs­jäh­rige braune Jagd­hün­din zur Stelle. Immer­hin habe ich genug Berg­erfah­rung, um zu begrei­fen, dass ein Mensch, der fast dop­pelt so alt ist wie ich, in den Ber­gen wahr­schein­lich mehr als dop­pelt so viel drauf hat wie ich. „Ich war etwa 1.000 Mal auf dem Ort­ler, das erste Mal mit 13 Jah­ren, teils bar­fuß, weil die Schuhe nichts waren“, lau­ten Ernsts erste Worte, zu denen er sei­nen höl­zer­nen Wan­der­stock schwingt. Ob mir ein ähn­li­ches Schuh-Schick­sal bevor­steht? Ich stehe mit brand­neuen Wan­der­schu­hen am Start, habe das vor, wovor alle Berg­fexe war­nen – eine lange Wan­de­rung mit nicht ein­ge­lau­fe­nen Schu­hen. Egal, mein Ver­trauen in die zwei Paar Wan­der­so­cken steht, es kann losgehen.

Eigent­lich würde Etappe eins an der Pass­höhe des Stil­fer­jochs begin­nen und auf 18,5 Kilo­me­tern von 2.820 auf 1.300 Meter hin­ab­füh­ren, doch Ernst winkt ab. „Da ist noch alles ver­eist, wir neh­men einen tie­fe­ren Weg mit glei­chem Blick auf den Ort­ler.“ Gemein­sam mit der drei­ßig­jäh­ri­gen Süd­ti­ro­le­rin Carina machen wir uns auf den Weg und schla­gen uns kurz hin­ter der berühm­ten Stilfs­er­joch Straße mit ihren 48 Keh­ren – Kur­ven – ins Gestrüpp.

„Bis Mai hat es noch geschneit, das ist außer­ge­wöhn­lich“, berich­tet Carina, als wir selbst auf dem nied­ri­ge­ren Weg bis zu den Knö­cheln im Schnee ver­sin­ken und uns mit den Wan­der­stö­cken über ver­schneite Steil­hänge kämp­fen, auf denen Ernst den Weg für uns ebnet. Nie war ich dank­ba­rer, in die Fuß­stap­fen von jemand ande­rem tre­ten zu dür­fen. Meine Sorge, er würde schnel­len Schrit­tes vor­aus­pre­schen, erweist sich zum Glück als unbe­grün­det – er läuft so gemäch­lich, als wären wir aus der Zeit gefal­len. „Man muss ganz gemüt­lich gehen, dann ver­teilt man seine Ener­gie und kommt am Ende schnel­ler ans Ziel als die, die ren­nen und außer Puste sind.“ Außer Puste ist nur Dorka, die uns schwanz­we­delnd vor­aus­läuft und immer wie­der in der Ferne ver­schwin­det – gefolgt von spit­zen Schreien der gerade aus dem Win­ter­schlaf erwach­ten Mur­mel­tiere, die ihre Art­ge­nos­sen im gesam­ten Ort­ler-Gebiet vor der Hün­din war­nen. Ent­täuscht kehrt Dorka jedes Mal zurück: Kein Mur­mel­tier möchte mit ihr spielen.

Bei der ers­ten Etappe des Ort­ler Höhen­we­ges läuft man genau gegen­über dem mäch­ti­gen Berg und mit Blick auf wei­tere Zwei- und Drei­tau­sen­der, die Ernst alle mit Namen kennt wie seine bes­ten Kum­pels. „Ort­ler, Zebru und Königs­spitze bil­den das soge­nannte Drei­ge­stirn“, erklärt er mir. Auch Rein­hold Mess­ner bestieg den Ort­ler mehr­fach, ent­deckte neue Wege. „Heute nicht mehr, heute hat er hier nur noch ein paar Yaks, die er jeden Som­mer von Sul­den hoch zum Madrit­sch treibt“, lacht Carina. Und ein Mess­ner-Museum in Sul­den. Ich fülle meine Lun­gen mit kla­rer Berg­luft, lau­sche der Stille, gebe mich der Idylle hin. Im Gegen­satz zum Vor­tag, als ich im Miet­wa­gen saß und wie auf Auto­pi­lot abwech­selnd Gas­pe­dal, Kupp­lung oder Bremse trat, bloß schnell ankom­men wollte, schwebe ich hier in den Ber­gen im woh­li­gen Den-Moment-fest­hal­ten-wol­len-Sta­dium, das mich beson­ders auf Rei­sen in den schöns­ten Augen­bli­cken über­kommt. Hier ist die Welt in Ord­nung. Was jedoch nicht immer so war: „Genau hier, am Stilfser Joch, über den Ort­ler und bis zum Gar­da­see, ver­lief von 1915 bis 1917 die Front im Ers­ten Welt­krieg.“ Es waren Öster­reich-Ungarn und Ita­lien, die sich feind­lich gegen­über­stan­den und einen ech­ten Hoch­ge­birgs- und Stel­lungs­krieg führ­ten. Am Gold­see, an dem der Ort­ler Höhen­weg vor­bei­führt, wurde bereits vor Aus­bruch des Krie­ges ein Muni­ti­ons­ma­ga­zin errich­tet. „Der Weg bil­dete prak­tisch die Grenze zwi­schen der Habs­bur­ger Mon­ar­chie und Ita­lien“, weiß Ernst. Den Krieg ins Gebirge zu ver­le­gen, war dabei nicht etwa Dumm­heit, son­dern Stra­te­gie – je höher die Berge besetzt wur­den, desto bes­ser konnte man das Umfeld beob­ach­ten und ver­tei­di­gen. „In den 50ern und 60ern wur­den diese Wege dann von Schmugg­lern benutzt, die Tabak aus der Schweiz zu uns rüber­schmug­gel­ten“, ver­rät Ernst in ver­schwö­re­ri­schem Ton.

Beide Süd­ti­ro­ler lachen über meine Pro­vi­ant­vor­räte im Ruck­sack, die von Nüs­sen bis zu Hüt­ten­käse und einer dicken Stulle rei­chen. Nie bre­che ich ohne genug zu essen und zu trin­ken in die Berge auf, und nir­gends schmeckt mir selbst die mat­schigste Banane bes­ser als mit Gras oder Gestein unterm Po und Weit­blick über die Land­schaft. Am Weges­rand blüht der Enzian, teil­weise lugen auch bereits zart lila Alpen­glöck­chen aus dem Schnee hervor.

„In einer Stunde sind wir an der Fur­kel­hütte“, behaup­tet Ernst, „da esse ich.“ Aus der einen Stunde wer­den zwei­ein­halb, denn immer wie­der zwingt uns der Schnee zum Inne­hal­ten, dazu, jeden Tritt mit Bedacht zu wäh­len. Ein fal­scher Schritt könnte den Absturz und womög­lich Tod bedeu­ten. Ernst hat recht: Wer lang­sa­mer geht, kommt schnel­ler an. Kommt über­haupt an. Was beson­ders loh­nens­wert ist, wenn Wurst, Pom­mes und Apfel­stru­del auf der auf 2.153 Metern gele­ge­nen Fur­kel­hütte warten.

Von dort geht es gut gestärkt wei­ter zur Stilfser Alm, vor­bei an den Valat­sches Höfen und bis ins Dorf Stilfs mit etwa 1.150 Ein­woh­nern. „Die­ses Dorf und die Men­schen sind ganz beson­ders“, raunt mit Carina zu. „Du brauchst dich nicht wun­dern, wenn dich hier einer spon­tan umarmt, die Men­schen sind ein­fach so offen und herz­lich.“ Zwar umarmt mich kei­ner, aber lächelnde Gesich­ter und ein küh­les Forst – Bier aus der Forst-Braue­rei in der Nähe von Meran – sind Beloh­nung genug für die erste bestan­dene Etappe, die mich dem Essay­is­ten Josef Hof­mil­ler zustim­men lässt: „Wan­dern ist eine Tätig­keit der Beine und ein Zustand der Seele.“

Plan C: der Eselsweg

Die zweite Etappe des Ort­ler Höhen­we­ges würde eigent­lich von Stilfs hoch zur Düs­sel­dor­fer­hütte auf 2.721 Metern füh­ren – Düs­sel­dorf, weil die Berg­hütte 1892 von der Sek­tion Düs­sel­dorf des Deut­schen Alpen­ver­eins errich­tet wurde. Doch Ernst winkt sofort ab. Wie­der fällt die Etappe in den Schnee, eine Alter­na­tive muss her: der soge­nannte Esels­weg auf der gegen­über­lie­gen­den Seite, auf dem wohl wirk­lich mal Esel für den Waren­trans­port von Tal zu Tal ein­ge­setzt wur­den. Zunächst geht es steil berg­auf durch dich­ten Fich­ten­wald, vor­bei an Bäu­men, von denen meter­lange Baum­bärte hän­gen, wie ich sie zuletzt in Nica­ra­gua und in Neu­fund­land gese­hen habe.

Wie­der lässt sich Ernst alle Zeit der Welt, wie­der sprin­tet Dorka vor­aus und bringt uns Stö­cke, die wir ihr wer­fen sol­len. Bald lich­ten sich die Bäume und geben den Blick auf den Ort­ler frei, auf sein dun­kel­graues, fos­si­li­en­lo­ses Dolo­mit­ge­stein, das durch den Schnee blitzt, wo die Gesteins­bil­dung bei hohem Druck und 400 Grad jedem Lebe­we­sen vor lan­ger Zeit den Gar­aus machte. Bevor ich her­kam, nahm ich an, dass der Ort­ler auch zu den Dolo­mi­ten gehörte, doch Carina belehrt mich eines Bes­se­ren: „Der Ort­ler ist ein­fach Ort­ler-Gebiet, zählt aber nicht zu den Dolomiten.“

Irgend­wann spuckt uns der Wald zurück in die Sonne, die Baum­grenze ist erreicht. Wer jetzt wie Ernst von einem küh­len Bier träumt oder wie ich von eis­ge­kühl­tem Spru­del­was­ser, wird von den Berg­göt­tern erhört: Mit­ten auf der Käl­ber­alm wer­den Wan­de­rer in einer Hütte zunächst mit Kräu­ter­schnaps ver­sorgt, danach gibt es alles, was man wirk­lich will. Man­che sin­ken in die Lie­ge­stühle, vor ihnen unver­bau­tes Ort­ler-Pan­orama wie auf einem rie­si­gen Flach­bild­schirm. Um die Hütte herum gra­sen Kühe und ver­mit­teln mit ihren sanft läu­ten­den Glo­cken das Gefühl, inmit­ten der Berge ange­kom­men zu sein.

Mir schwirrt noch der Kopf vom Schnaps, als wir wie­der auf­bre­chen, unterm stren­gen Blick von König Ort­ler. Goe­the sagte ein­mal, dass man nur dort wirk­lich gewe­sen ist, wo man zu Fuß war. Recht hat er, denn nur beim lang­sa­men Fort­be­we­gen auf den eige­nen Bei­nen habe ich Zeit und Muße, die klei­nen Details zu bemer­ken, die den Weg aus­ma­chen. Wie zwi­schen Stei­nen wach­sen­den Glet­scher­hah­nen­fuß, eine zarte Blüte mit gel­bem Stem­pel und wei­ßen Blü­ten­blät­tern, die sich der Sonne ent­ge­gen­reckt. Sie sind die taffs­ten unter den Alpen­pflan­zen, kön­nen als ein­zige in Höhen bis zu 4.275 Metern überleben.

Immer wie­der hält Ernst inne und schaut mit dem Fern­glas nach Alpen­stein­bö­cken oder Gäm­sen, aber die wol­len sich uns nicht zei­gen. Im Gegen­satz zu Mur­mel­tie­ren, die keck aus ihren Löchern schie­ßen, aber sofort wie­der mit lau­tem Geschrei darin ver­schwin­den, sobald sie Dorka erbli­cken. Bald errei­chen wir einen von der Schnee­schmelze geform­ten Berg­see, so fried­lich, dass sich der Ort­ler darin spie­gelt. Der per­fekte Spot für Ernst, sei­nen Berg­füh­rer-Die­sel aus­zu­pa­cken und groß­zü­gig mit uns tei­len zu wol­len: eine Fla­sche vor­züg­li­chen Weiß­weins. Dass ich lie­ber zu mei­ner Fla­sche Lei­tungs­was­ser greife, ver­tieft die Run­zeln auf sei­ner Stirn. „Was­ser trinke ich höchs­tens mal abends, auf Wan­de­run­gen nehme ich nur Wein mit.“ Damit der sich in der Mit­tags­sonne nicht auf­heizt, steckt er ihn kur­zer­hand in den Schnee, bevor wir die letz­ten, stei­len Meter zur Düs­sel­dor­fer­hütte in Angriff nehmen.

Mit den Hüt­ten auf Wan­de­run­gen kommt es mir oft vor mit mei­nen Zie­len – ich sehe sie aus wei­ter Ferne, freue mich, denn ganz so weit ist es ja nicht mehr. Und dann ver­schwin­det die Hütte hin­term nächs­ten Berg­rü­cken, taucht wie­der auf, und ich laufe und laufe und zwei­fele all­mäh­lich, ob ich sie über­haupt jemals gese­hen habe oder ob sie nur Ein­bil­dung war. Dann, sehr viel spä­ter als erwar­tet, thront sie doch wie­der hoch über uns: die Düs­sel­dor­fer­hütte. Wir sind hung­rig und durs­tig, selbst Dorka lässt die Zunge hän­gen. Wir sind die ein­zi­gen Gäste, nie­mand sonst will hoch durch den Schnee stie­feln, um auf 2.721 Metern Süd­ti­ro­ler Käse­knö­del mit Kraut­sa­lat zu essen – und gleich noch einen frisch geba­cke­nen Kai­ser­schmarrn hin­ter­her. Warum nicht, ver­stehe ich nicht, denn ich wette, dass die Spe­zia­li­tä­ten nir­gends so gut schme­cken wie bei Weit­blick über die Ort­ler Gebirgs­wand mit dem nun win­zig blauen See tief unten, wo Ernsts Weiß­wein kalt­steht. Als wir lang­sam schlapp­ma­chen, opfert sich Dorka und zieht sich inner­halb von Sekun­den den Rest Kai­ser­schmarrn rein.

„Die Brü­cke unten wurde vom Was­ser weg­ge­ris­sen“, erzählt der Hüt­ten­wirt. Die Brü­cke über einen Gebirgs­fluss, um nach Sul­den, das nächste Dorf, zu kom­men. Ernst winkt ab. „Mir fällt schon was ein.“ Solange er sei­nen Wein wie­der ein­sam­meln kann, scheint seine Welt in Ord­nung. Der Wirt hat nicht über­trie­ben: Der Fluss hat die kleine Holz­brü­cke in der Nähe des Sees ent­zwei­ge­ris­sen – im Som­mer ein klei­ner Gebirgs­bach, den die Schnee­schmelze in einen Tsu­nami ver­wan­delt hat.

Als Ernst seine halb­leere Fla­sche wie­der ein­ge­packt hat, spa­zie­ren wir so lange am Fluss ent­lang, bis er die pas­sende Stelle fin­det, das Was­ser zu pas­sie­ren – tro­cke­nen Fußes. Der Mann ist ein Genie! Dann geht es steil bergab in Rich­tung Sul­den ent­lang des wüten­den Was­sers, das sich große Teile des Wan­der­we­ges ein­ver­leibt hat, sodass wir durch Wald­stü­cke und Gestrüpp krie­chen, um nach unten zu kom­men. Doch es geht, wie immer, irgendwie.

Plan D: Schnee­schuh­wan­de­rung im Juni

Eigent­lich hätte die dritte und letzte voll­kom­men in Süd­ti­rol gele­gene Etappe des Ort­ler Höhen­we­ges von der Düs­sel­dor­fer- zur Zufallhütte geführt, unser Ziel an mei­nem letz­ten Tag, doch wie­der macht Eis den Plan zunichte. Dafür hat Ernst wie immer eine pas­sende Alter­na­tive parat: Wir las­sen uns von sei­nem Kum­pel von der Berg­ret­tung im Gelän­de­wa­gen hoch zur noch geschlos­se­nen Schau­bach­hütte fah­ren, legen uns dort die Gama­schen an und schnal­len die Schnee­schuhe unter.

Der Plan: bis auf 3.123 Meter zum Madrat­sch­joch und von dort hinab ins Mar­tell­tal und zur Zufallhütte wan­dern. Ich bin noch nie im Juni Schnee­schuh gelau­fen. Über­haupt habe ich das erst zwei Mal gemacht, vor vie­len Jah­ren, auf ziem­lich gera­der Stre­cke. Wie man mit den Eisen untern Füßen auch Berge rauf und run­ter kommt, macht Ernst nun vor. Der Schnee zwingt uns, noch lang­sa­mer zu gehen als gewöhn­lich, die Schnee­schuhe machen mich behä­big, trei­ben mir beim Berg­auf­ge­hen den Schweiß aus allen Poren.

Immer wie­der stür­zen sich in den Ber­gen um uns Lawi­nen in die Tiefe, las­sen uns inne­hal­ten, hin­schauen, dank­bar sein, dass wir weit ent­fernt sind. So wohl ich mich in den Ber­gen auch mitt­ler­weile fühle, nie ver­gesse ich, dass mit ihnen nicht zu spa­ßen ist. Dass die Natur stets am län­ge­ren Hebel sitzt und uns jeder­zeit daran erin­nern kann, dass wir bei ihr nur zu Gast sind. Dass der tief­blaue Him­mel und die strah­lende Sonne Sicher­heit bloß vor­gau­keln. Doch solange Ernst bei mir ist und ihn genug Wein bei Laune hält, mache ich mir keine Sor­gen. Anfangs frage ich mich, wie wir bei dem unheim­lich lan­gen Auf­stieg und noch län­ge­ren Abstieg bei dem hohen, mat­schig wer­den Schnee, der nach unse­ren Füßen und Bei­nen lechzt, jemals bei der Zufallhütte ankom­men sol­len. Und wie­der sind uns die Berg­göt­ter oder Geis­ter, oder wer da auch gerade das Sagen hat, gütig – die­ses Mal nicht in Form von Schnaps auf einer Alm, son­dern in Gestalt einer Schnee­katze, wie die Süd­ti­ro­ler ihren Schnee­pflug nen­nen, an deren Steuer ein Bekann­ter von Ernst sitzt und seine Hütte von Schnee­mas­sen befreit. „Wollt ihr mit rauf?“ Wir wer­fen Ernst einen fra­gen­den Blick zu. Dür­fen wir? Das ist doch Schum­meln, ein ech­ter Berg­fa­na­ti­ker würde sich kei­nen Meter des Weges abneh­men las­sen. Minu­ten spä­ter sit­zen wir in dem bul­li­gen Gefährt. Es ist in Ord­nung. Manch­mal ist es okay, bei einem schwie­ri­gen Stück Weg zuzu­grei­fen, wenn sich eine Hand hel­fend ausstreckt.

„Aber nicht, dass ihr denkt, das könn­ten alle Wan­de­rer so machen!“, warnt uns Ernst, der sei­nen Kum­pel schon als gefrag­ten Chauf­feur wan­der­mü­der Tou­ris­ten sieht. Wir haben ver­stan­den. VIP-Ser­vice, die­ses ein­zige Mal. Zuge­ge­ben, das Gefühl, den Madrat­sch­joch-Pass zu errei­chen, würde sich bestimmt glor­rei­cher anfüh­len, wenn wir ihn voll­kom­men erwan­dert hät­ten. Und doch hat die Schnee­katze zwar nicht unser Leben, dafür aber eine Menge Ener­gie geret­tet, die wir nun für den stei­len, rut­schi­gen Abstieg brau­chen. Wäh­rend Ernst den Steil­hang im Tief­schnee vor­aus­schrei­tet, als ginge er auf Asphalt, freun­det sich mein Po zuneh­mend mit dem glit­schi­gen Schnee an. Alle paar Minu­ten klaube ich meine Beine und Wan­der­stö­cke aus dem klam­mern­den Schnee und ver­su­che, nicht dar­über nach­zu­den­ken, dass es rechts neben mir steil in die Tiefe führt.

Wir sind allein in der wei­ßen Weite, der Him­mel über uns post­kar­ten­blau, Ernst, der weit vor mir läuft, klein wie eine Ameise vor der mäch­ti­gen Berg­wand. Schön, schö­ner, am schöns­ten. Die wahre Schön­heit die­ser Berg­welt beginnt dort, wo der Super­la­tiv endet. Ich schaue und staune und bin dank­bar. Und unauf­merk­sam. Plötz­lich ver­sackt mein lin­kes Bein in einem Schnee­loch und will nicht wie­der raus­kom­men, als würde tief dort unten ein hung­ri­ges Schnee­mons­ter nach mir hun­gern. Nach kur­zem Kampf gibt es auf. Ernst schüt­telt den Kopf. „Du musst auf­pas­sen mit Eis­lö­chern, wenn man ins Was­ser fällt, kann man sich kaum noch befreien.“

Dann wird auf ein­mal alles anders. Der Schnee hat der Sonne nach­ge­ge­ben, die Schnee­schuhe wer­den über­flüs­sig, es ist, als hät­ten wir die Schnee­mas­sen nur geträumt. Teils grün, teils stei­nig, brei­tet sich das Mar­tell­tal vor uns aus, in der Ferne ist die Zufallhütte auf 2.264 Metern bereits erkennbar.

Wenn Ernst schätzt, dass wir in einer hal­ben Stunde ankom­men, weiß ich, dass wir eine Stunde brau­chen wer­den. Ich soll recht behal­ten. Neben der Hütte steht eine höl­zerne Sauna, auf der ande­ren Seite eine kleine Kapelle – für Gesund­heit und Geist ist hier in jedem Fall gesorgt. Der Hüt­ten­wirt ist ganz und gar nicht damit ein­ver­stan­den, dass ich nur einen klei­nen Salat und ein Was­ser bestelle. „Mädl, du fällst ja noch vom Fleisch! Da machen wir dir aber noch einen Kai­ser­schmarrn.“ Wider­spruch aus­ge­schlos­sen. Die­ses Mal ist er noch köst­li­cher als am Vor­tag. Von der Berg­wand gegen­über stürzt sich aus dem Schnee ein Was­ser­fall in die Tiefe.

Ich wünschte, ich könnte blei­ben, die Nacht hier ver­brin­gen, bei Berg­pan­orama und Was­ser­fall­rau­schen in der Sauna sit­zen. Wie es bei der ech­ten Ort­ler-Höhen­weg-Wan­de­rung der Fall wäre. Viel­leicht hätte ich mich in der nächs­ten Etappe sogar gern daran pro­biert, über einen Glet­scher zu stie­feln. Mit Ernst und sei­nem Ran­zen vol­ler Wein ganz bestimmt. Bis hin­ein in die Lom­bar­dei, wo die Men­schen sich wie­der wie echte Ita­lie­ner füh­len und die Dör­fer anders aus­se­hen und das Essen anders schmeckt. Ich möchte wei­ter, aber ich muss zurück. Weil der Schnee und die Zeit es so wol­len. Weil eben doch das Leben ein hart­nä­cki­ge­rer Schmied von Plä­nen ist als ich. Und letz­ten Endes ist das auch in Ordnung.

 

Diese Reise wurde orga­ni­siert von IDM Süd­ti­rol / Alto Adige. Alle Infor­ma­tio­nen zum Ort­ler Höhen­weg und zu den ein­zel­nen Etap­pen gibt es unter: https://www.vinschgau.net/de/aktivurlaub/wandern-bergtouren/ortler-hoehenweg.html. Wäh­rend der Wan­de­rung über­nach­tet man, wenn mög­lich, am bes­ten auf Berg­hüt­ten. Für Über­nach­tun­gen in den Berg­dör­fern in Süd­ti­rol sind unter ande­rem fol­gende Hotels empfehlenswert:

Tra­foi: Hotel Bella Vista 

Stilfs: Hotel Sonne

Sul­den: Hotel Cris­tallo

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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Bjoern says:

    Kannst du mir etwas zu der Glet­scher­que­rung Zufallhütte – Piz­z­ini­hütte (Aus­rüs­tung, bes­ser mit Berg­füh­rer, Alpin­schule? Oder pro­blem­los begeh­bar ) sagen? Danke für die Infos

  2. Nagel gaby says:

    Super schön geschrie­ben. Ich kenne die Gegend vom Ski­tou­ren gehen im Win­ter und im Som­mer als Tages­tour. Die Zufallhütte musst Du Dir unbe­dingt mal für ein paar Tage geben. Tol­les Team, klasse essen und eine Gegend zum Seele bau­meln las­sen. Und für den Höhen­weg hast Du mir nun die Zähne lang gemacht. Den werd ich jetzt mal in meine Wunsch­liste aufnehmen.
    Lg Gaby

    1. Bernadette says:

      Vie­len Dank, Gaby. Gerne ver­bringe ich auf der Zufallhütte nächs­tes Mal viel mehr Zeit. Und ich hoffe, dass du den Ort­ler Höhen­weg ganz bald selbst gehen kannst. Liebe Grüße, Bernadette

  3. Michaela Spindler says:

    Sehr schön geschrie­ben, bekomme Bergweh ;-).
    Süd­ti­rol ein wun­der­schö­nes Fleck­chen Erde.….<3

    Liebe Grüße Ela

  4. Yvonne says:

    Kom­pli­ment!! Rich­tig toll geschrie­ben, hatte viel Spass dabei ;) auch als Suld­ne­rin und wer unse­ren „Neina“ Ernst (wie er von vie­len im Dorf genannt wird)kennt , kann sich in die Tour rich­tig rein fühlen!
    Viel­leicht lernt man sich ja beim nächs­ten Mal per­sön­lich ken­nen , liebe Grüsse aus Sulden

    1. Bernadette says:

      Vie­len Dank, Yvonne. Ich würde mich über ein per­sön­li­ches Tref­fen bei mei­nem nächs­ten Besuch auf jeden Fall freuen :) Liebe Grüße aus Hamburg

  5. Jürgen Bittner says:

    Sehr toll geschrie­ben und viel ein­zelne Details dabei. Erst ist eine Sul­de­ner Legende noch zu Leb­zei­ten. Man trifft Ihn immer wie­der mal in den Sul­de­ner Ber­gen , ob Win­ter oder Som­mer an, ist halt der Ernst.
    Wie sagen die Sul­de­ner, ent­we­der man liebt Sul­den oder kommt nie wie­der. Ich gehöre defi­ni­tiv zu der ers­ten Kategorie.
    Beste Grüße
    Jür­gen B.

    1. Bernadette says:

      Vie­len Dank für den net­ten Kom­men­tar, und ja, der Ernst ist schon ein ganz Feiner :)
      Viele Grüße aus dem Norden
      Bernadette

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