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Langsam buckelt sich der massige Geländewagen über die von Steinschlag und Erdrutsch stark beanspruchte Piste mitten durch die Wälder der östlichen Khasiberge. Hier im abgelegenen indischen Bundesstaat Meghalaya reisen nur ein paar Dorfbewohner mit uns. Tiefe Furchen zeichnen ihre wettergegerbte Haut, vom Paan rotbefleckte Zähne leuchten zwischen ihren Lippen. Mandelförmige Augen schauen müde aus dem Fenster. Die Gesichtszüge Südostasiens sind hier im Nordosten Indiens bereits weit verbreitet. Die Fahrt gleicht einem Rodeoritt. Jeder Stoß lässt die Insassen von ihren Sitzen aufspringen. Immer wieder fällt unser Wagen in tiefe Schlaglöcher, aus denen sich der Fahrer nur mühsam befreien kann. Entlang einer steil abfallenden Wand schlängelt sich die Straße, die erst vor wenigen Jahren in den Fels geschlagen wurde. Dennoch mutet sie wie ein lange vergessenes Überbleibsel einer anderen Zeit an. Für die Kartographen von Google-Maps existiert die Straße nicht.
Ab und an passieren wir winzige Siedlungen. Gedrungene, windschief gemauerte Baracken und leichte Holzhütten schieben sich über den Abhang. Passagiere steigen aus, niemand steigt an. Nach zwei Stunden in denen das Gefährt gerade einmal 24 Kilometer zurücklegt, endet die holprige Fahrt auf einem Hügelkamm. Das letzte Dorf, eine Sackgasse. Nur noch der Fahrer sitzt mit uns im Auto. Wir sind in Kongthong. Das Telefon zeigt keinen Empfang an.
Idylle in den Bergen Meghalayas
Auf der Dorfstraße vergnügen sich Kinder mit Hüpfspielen und selbstgebastelten Gewehren. Ihr Lachen weht mit dem Wind über den Hügel hinaus. Doch außer ihnen scheint das Dorf menschenleer. In meiner Hand halte ich einen Zettel. Pynshai steht darauf geschrieben. Eine Adresse fehlt, denn in Kongthong gibt es weder Straßennamen noch Hausnummern. Da wir niemanden nach dem Weg fragen können, ziehen wir einfach los. Etwa 100 Familien leben hier in Kongthong, arbeiten auf den Feldern entlang der Hänge. Mit trockenen Palmenwedeln überdachte Holzhütten stehen neben einfachen Häusern, deren zementierte Wände rostige Wellblechdächer tragen. Feuerholz stapelt sich vor den Behausungen. Dazwischen wuchert üppiges Grün. Mangobäume wachsen neben ausladenden Bananenpflanzen. An Wäscheleinen tropft bunte Kleidung. Drei Brunnen versorgen das Dorf.
Zehn Minuten später stehen wir auf einer Terrasse und überblicken Ananas- und Tigergrasplantagen. Dahinter ragen die umliegenden, von wildem Bambus und Flechten bewachsenen Berge empor und selbst die Ebene von Bangladesch ist sichtbar. Pynshai steht neben uns, reicht uns zwei Tassen süßlich duftenden Tee. Erst vor wenigen Tagen hatten wir uns in der Stadt kennengelernt, wo uns Pynshai einlud sein Heimatdorf zu besuchen. Der junge Mann, gerade einmal 21 Jahre alt, ist ein Schlacks mit wachen Augen und einem fröhlichen, zufriedenen Wesen. Er legt den Finger an seinen Mund und deutet mit der anderen Hand auf sein Ohr.
Jing-wai-jau-bey in Kongthong
Aus den weitläufigen Feldern dringen Pfiffe und Laute zu uns herauf. Mehrsilbig klingen sie durch die Plantage, fliehen entlang der Hänge. Es ist Erntesaison und fast alle Dorfbewohner sind auf den Feldern im Einsatz. Pynshai stößt einen Ruf aus, der wie „Wuhu Wu“ klingt. Und aus dem Feld ertönt eine gepfiffene Antwort. In Kongthong kommunizieren die Menschen mit solchen Tönen, Pfiffen und Gesängen. Jing-wai-jau-bey nennen sie die Pfeifgeräusche in ihrer eigenen Sprache Khasi. Jedes Kind, das in Kongthong geboren wird, erhält von der Mutter eine unverwechselbare Melodie, die bereits während der Schwangerschaft immer und immer wieder gesummt wird. Die etwa 500 Einwohner des Dorfes rufen sich untereinander nur mit diesen Tonfolgen. Dabei gleicht kein Ton dem anderen, auch wenn sie für Außenstehende wie uns oft zum Verwechseln ähnlich klingen. Die Dorfbewohner können jeden einzelnen Ruf unterscheiden.
Pynshai kennt etwa 40 Töne, mit denen er seine Familie, Freunde und Nachbarn ruft. Früher, lange bevor er zum Studium in die Stadt zog, war sein Repertoire noch viel umfangreicher. Natürlich hat auch Pynshai seinen eigenen Ton, ebenso wie seine Schwester, die er nun weiter unten im Dorf anpfeift. Wie alle Frauen in Kongthong, trägt auch sie ein langes, über einer Schulter geknotetes Tuch, das bis weit über die Knie reicht. Wir fragen Pynshai nach ihrem offiziellen Namen, dem Namen, der auf den indischen Personalausweis gedruckt wird. Pynshai überlegt, lässt sich mit der Antwort Zeit und zuckt letztendlich die Schultern. Den Namen seiner Schwester habe er noch nie benutzt.
Über den Ursprung dieser Pfiffe und Rufe wird viel spekuliert. Genaue Antworten gibt es nicht. Vielleicht übermittelten sich einst heimliche Liebespaare Nachrichten, indem sie von einem Berg zum anderen Pfiffen. Heute sind die Rufe Teil der Identität der Dorfbewohner. Für sie sind ihre Töne so wichtig und bedeutend, so allgegenwärtig wie es Namen für uns sind. Mütter pfeifen wie selbstverständlich nach ihren Kindern, wenn es Zeit ist nach Hause zu kommen und jede Bekanntschaft wird schon aus der Ferne mit ihrem eigenen Ton gegrüßt.
In den Ausläufern des südlichen Himalajas schallen die Rufe über die Hänge. Immer wieder sind sie aus dem dichten Buschwerk zu hören. Bis in die späten Abendstunden dringen sie zu uns empor. Pfiffe erklingen aus der Nähe. Über größere Entfernungen werden sie zu Lauten, zu Rufen. Mit ihren höheren Frequenzen reisen die Töne viel weiter entlang der Hänge und über die Täler, als es der Klang eines herkömmlichen Namens vermag. So kommunizieren die Bewohner Kongthongs im Dickicht des umliegenden Waldes und der hoch aufragenden Tigergrasplantagen miteinander. Ohne zu sehen wissen sie, wer in ihrer Nähe oder in den benachbarten Feldern arbeitet.
Streifzüge durch Kongthong
Erst nach Sonnenuntergang kehren die meisten Dorfbewohner von den Feldern zurück. Dann ertönen nicht nur Pfiffe und Rufe, sondern auch die Klänge der Trommeln und der Tangmuri, einer Spielart der Oboe, durch das Dorf. Stumme Blitze zucken über den nächtlichen Himmel, erleuchten die Berge für Sekundenbruchteile. Dann beginnt der Regen.
Ein paar Tage verbringen wir mit Pynshai in Kongthong, lernen seine Bewohner kennen. Mehrmals täglich kehren wir im einzigen Teehaus des Ortes ein. In der winzigen, grob gezimmerten Hütte ist gerade einmal Platz für 6 oder 7 Gäste. Das schmale Angebot bietet Tee und trockene Kekse. Überhaupt gibt es in ganz Kongthong nur ein Geschäft in dem Zigaretten, Erdnüsse und Paan verkauft werden. Was nicht selbst im Dorf produziert wird, besorgen die Bewohner kilometerweit aus anderen Gemeinden. Bis vor einigen Jahren bedeutet das einen eintägigen Fußmarsch. Mittlerweile fährt jeden Morgen ein Geländewagen zu den nächstgelegenen Märkten. Es ist das einzige Fahrzeug, das Kongthong verlässt.
Auf unseren Streifzügen zeigt uns Pynshai auch die kleine Kirche, die von etwa 15 christlichen Familien in Kongthong genutzt wird. Die überwiegende Mehrheit der Dorfbewohner sind jedoch Animisten. Sie glauben an Geister und die Beseeltheit der Natur, die sie mit Ehrfurcht und Respekt behandeln.
Kongthongs Bewohner, deren Ahnen einst aus dem heutigen Myanmar und Thailand kamen, sind ausgesprochen zurückhaltend. Auf Fremde reagieren sie schüchtern. Vielen Frauen im Ort verbergen lachend ihr Gesicht, wenn wir versuchen sie anzusprechen, kleine Kinder verstecken sich hinter größeren, andere verschwinden blitzschnell in ihren Hütten. Doch mit Pynshai an unserer Seite haben wir die Möglichkeit am Dorfleben teilzunehmen und etwas mehr über Kongthong zu erfahren.
In einem konservativen Land wie Indien, das seit jeher patriarchal beherrscht wird, folgt die Gemeinschaft in Kongthong einem matrilinealen System. Kinder nehmen den Nachnamen der Mutter an, Frauen verwalten Geld und Eigentum, wenn ein Paar heiratet, zieht der Ehemann zur Familie seiner Frau.
Unsere Spaziergänge durch Kongthong werden häufig von Pfiffen und Tönen aus der Umgebung begleitet. Das „Wuhu Wu“ gelingt auch uns mittlerweile ganz gut. Es bedeutet „Wer ist da?“ und ist ein immer wiederkehrendes Geräusch draußen in den Feldern und Plantagen. In anderen Siedlungen in den östlichen Khasibergen wurde in der Vergangenheit ebenfalls auf diese Weise kommuniziert. Doch mit der Erschließung der Region durch Straßen und Mobilfunknetze, stirbt diese Tradition langsam aus. Nur die Einwohner Kongthongs bewahren bis heute diesen möglicherweise Jahrhunderte alten Brauch.
Antworten
Leider haben wir den Kontakt nicht mehr, aber das macht nichts. Die Menschen in Indien sind herzlich. Ihr findet bestimmt schnell Anschluss und könnt die vielen verschiedenen Kulturen auf eigene Faust entdecken. Das wird super. Wir wünschen euch viel Spaß
Hallo ihr Zwei!!! Wow, das klingt nach einem super tollen Erlebnis. Danke, dass ihr das mit uns geteilt habt 🙂
Sagt mal, habt ihr noch Kontakt zu dem jungen Mann? Wir reisen morgen nach Indien und die Kultur klingt so unfassbar interessant, dass wir super gern Kontakt zu ihm aufnehmen würden.
Viele Grüße aus Sri Lanka, Anni
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