Tag 9: Tijuana makes me happy

»Bien­ve­ni­dos a Tijua­na«, krächzt es aus den Laut­spre­chern des Flie­gers. Eine küh­le Bri­se füllt die Nacht. Es schlägt einem der unver­wech­sel­ba­re Geruch der Stadt ent­ge­gen: Eine Mischung aus gegrill­tem Fleisch, stau­bi­ger Erde und sal­zi­gem Meer. Das Mili­tär am Flug­ha­fen wirkt bedroh­lich, jedes ein­zel­ne Gepäck­stück wird hän­disch durch­sucht. Die Stadt im Nord­wes­ten Mexi­kos, direkt an der Gren­ze zu den USA, ist berühmt-berüch­tigt. Schon Manu Chao besang sie in sei­nem Lied »Wel­co­me to Tijua­na« mit den Wor­ten »Tequi­la, Sexo, Mari­hua­na«. Zu die­sen Schlag­wor­ten gesell­ten sich in den letz­ten Jah­ren jene der Gewalt, des Mor­dens, des Dro­gen­krie­ges. Es mag son­der­bar wir­ken, dass man solch einen Ort zum Sehn­suchts­ort erklärt. Doch in Wahr­heit ist Tijua­na Inbe­griff des­sen, was man Sehn­sucht nen­nen kann.

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Auf Träu­men gewach­sen
Die Rasen­spren­ger sur­ren. Im Schat­ten der Bäu­me des Par­que Guer­re­ro spie­len Män­ner Schach, dane­ben sitzt ein klei­nes Mäd­chen in der Wie­se. Gedan­ken­ver­lo­ren ver­sucht es sei­nem Zwerg­kan­nin­chen Gras ins Maul zu stop­fen. Der Groß­teil der Bewoh­ner Tijua­nas ist an die­sem Ort gestran­det, getrie­ben vom unste­ten Leben und dem ame­ri­ka­ni­schen Traum, der ver­meint­lich auf der ande­ren Sei­te des Grenz­zauns auf sie war­tet. Tijua­na ist die Stadt der geplatz­ten Sei­fen­bla­sen, Geschich­ten davon fin­det man über­all. Sie sind gera­de­zu mit die­sem Ort ver­wo­ben.

In die­sem Jahr 2014 fei­ert Tia Jua­na – Tan­te Jua­na, wie die Stadt lie­be­voll genannt wird – Geburts­tag. Gewach­sen auf einem Podest von Träu­men, zählt sie heu­te etwas mehr als ein­ein­halb Mil­lio­nen Ein­woh­ner und gehört damit zu den zehn größ­ten Städ­ten Mexi­kos. 125 Jah­re hat sie am Buckel, unglaub­lich wenig, wenn man sie mit ande­ren Städ­ten die­ser Grö­ße ver­gleicht. So jung die Stadt, so frisch und bunt das Leben in ihr.

Eine jun­ge Fil­me­ma­che­rin, Cath Cue­vas, erklärt mir ein­mal, dass Tijua­na das puber­tie­ren­de Mexi­ko wäre, unver­stan­den und kri­ti­siert. Auf den ers­ten Blick wirkt die Stadt wild und chao­tisch. Die Aus­geh­mei­le Ave­ni­da Revo­lu­ción im Stadt­zen­trum zog lan­ge Zeit US-ame­ri­ka­ni­sche Jugend­li­che an, da sich ihnen hier Frei­hei­ten boten, die sie zuhau­se auf­grund der restrik­ti­ven Geset­ze nicht aus­le­ben konn­ten. Seit die USA aber 2009 und 2010 Rei­se­war­nun­gen für Mexi­ko aus­ge­spro­chen haben, ist der Tou­ris­mus in Tijua­na stark rück­läu­fig. Die Stadt muss mit einem Image leben, das über Dro­gen, Pro­sti­tu­ti­on und Gewalt nicht hin­aus­geht und das ihr womög­lich für immer blei­ben wird.

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Tief­grün­dig und hoff­nungs­voll
Bei genaue­rem Hin­se­hen zeigt sich Tijua­na aber von einer voll­kom­men ande­ren Sei­te, man muss viel­leicht etwas an der Ober­flä­che krat­zen, um sie zu ent­de­cken. Unweit der hek­ti­schen Ave­ni­da Revo­lu­ción befin­det sich der Pasa­je Rodri­guez, ein Flucht­punkt inmit­ten der Stadt der Sün­de. Er ist Krea­tiv­schmi­de einer tief­grün­di­gen und ehr­gei­zi­gen Gene­ra­ti­on, die vol­ler Hoff­nung ver­sucht, die Stadt nach ihren eige­nen Vor­stel­lun­gen zu gestal­ten. Erst kürz­lich wur­de die Innen­stadt mit bun­ten Wand­ma­le­rei­en ver­se­hen. In den letz­ten Jah­ren hat sich in Tijua­na eine auf­stre­ben­de Künst­ler­sze­ne eta­bliert, die sich in ihren Wer­ken mit dem Leben an die­sem viel kri­ti­sier­ten Ort aus­ein­an­der­setzt. Gleich­zei­tig began­nen unzäh­li­ge klei­ne Kaf­fee­häu­ser ihre Pfor­ten zu öff­nen, die oft als Orte des Aus­tauschs und Arbei­tens die­nen. Sie sind der Ruhe­pol in einer pul­sie­ren­den Stadt und gleich­zei­tig Aus­stel­lungs­ort der Krea­ti­vi­tät. Café Lati­tud 32, Casa de la Nue­ve oder Grafó­gra­fo sind nur drei der klin­gen­den Namen die­ser Kaf­fee­häu­ser.

Vie­le der jun­gen Krea­ti­ven in Tijua­na sagen, dass das nega­ti­ve Bild, das man außer­halb der Stadt kennt, sie in ihrer Krea­ti­vi­tät antreibt. Pedro Gabri­el Beas, Mit­glied des Nor­tec Coll­ec­ti­ve, einer Band aus Tijua­na, die den Sprung auf den inter­na­tio­na­len Musik­markt längst geschafft hat, erklär­te mir dazu sei­ne Theo­rie: lan­ge Zeit waren die Men­schen, die in der Stadt leb­ten, nur auf Durch­rei­se. Tijua­na war das Sprung­brett in die USA, ein Durch­zugs­ort, an dem man sich nicht nie­der­las­sen woll­te und der von einem stän­di­gen Kom­men und Gehen beherrscht war. Heu­te, so ver­mu­tet er, sind vier von zehn Ein­woh­ner tat­säch­lich in Tijua­na gebo­ren und auf­ge­wach­sen, die­se Gene­ra­ti­on über­nimmt jetzt das Ruder. Sie setzt sich mit der eige­nen Iden­ti­tät aus­ein­an­der, ver­sucht die Geschich­te in eine neue Rich­tung zu len­ken. Die Kunst ist das Werk­zeug, das sie benutzt, um das Sin-City-Image abzu­strei­fen und aus Tijua­na doch noch einen schö­nen Fle­cken auf die­ser Erde zu machen. Die­ser Ein­druck mani­fes­tiert sich auch in einem Lied des Nor­tec Coll­ec­ti­ve, in dem es heißt: »Some peo­p­le call it the hap­piest place on earth, others say it’s a dan­ge­rous place, it has been the city of sin, but you know I don’t care: Tijua­na makes me hap­py.«

Die­ser Opti­mis­mus ist anste­ckend. Tijua­na, so sagt man, neh­me einen unwei­ger­lich gefan­gen. Wer ein­mal wirk­lich dort gewe­sen sei, wür­de immer wie­der an die­sen Ort zurück­keh­ren. Und es stimmt: In drei auf­ein­an­der­fol­gen­den Jah­ren gin­gen mei­ne mehr­wö­chi­gen Rei­sen immer wie­der nach Tijua­na. Mein Sehn­suchts­ort ließ mich ein­fach nicht los.

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In 14 Texten um die Welt!

Tag 1: Im Bal­kan
Tag 2: Damas­kus, Syri­en
Tag 3: Petra, Jor­da­ni­en
Tag 4: Sier­ra Leo­ne
Tag 5: Kap­stadt, Süd­afri­ka
Tag 6: Decep­ti­on Island, Ant­ark­tis
Tag 7: La Paz, Boli­vi­en
Tag 8: Havan­na, Cuba
Tag 9: Tijua­na, Mexi­ko
Tag 10: Mel­bourne, Aus­tra­li­en
Tag 11: Sula­we­si, Indo­ne­si­en
Tag 12: Hanoi, Viet­nam
Tag 13: Don Det, Laos
Tag 14: Bhu­tan

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Antwort

  1. […] Tokeh Beach, so ein qua­si-mythi­scher Ort, unzu­gäng­lich und ver­hei­ßungs­voll. Mein per­sön­li­ches Tijuha­na, Sehn­suchts­ort der mich glück­lich macht – also machen wür­de. Halt Stopp! Kor­rek­ter­wei­se […]

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