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Ver­weile doch! Du bist so schön!

In mir tobt ein bit­ter-süßer Kampf und ich bin nur die stau­bige Bühne. „Werd ich zum Augen­bli­cke sagen: Ver­weile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fes­seln schla­gen, dann will ich gern zugrunde gehen.“ Mit die­sen Wor­ten ver­kaufte Goe­thes Faust, getrie­ben von Neu­gier und Hun­ger aufs Leben, Mephisto seine Seele.

3 Thailand

Manch­mal ertappe ich mich dabei, wie ich im Geiste mit dem ver­lo­cken­den Wesen um meine Seele ver­handle. Für die­sen einen Moment! Die­sen Augen­blick, in dem ich gegen alle Kon­se­quen­zen sagen kann: Ver­weile doch, du bist so schön und sich die Welt für einen Moment ohne mich wei­ter­dreht. Meis­tens dreht sich die Welt auch ohne meine see­li­sche Anwe­sen­heit wei­ter. Ich habe Tag­träume, rede mit mir sel­ber, starre debil lächelnd in die Wol­ken, bin oft Monate vor­aus oder Jahre hin­ter­her – nur eins eher sel­ten: Im hier und jetzt.

Thailand

Es begann an einem Don­ners­tag im Novem­ber ’89. Als die Mauer fiel, öff­nete sich für uns das Tor zum Wes­ten, aber vor allem zur Welt. Aus den gelieb­ten Tra­bi­tou­ren zur Ost­see und dem Klet­tern im Rie­sen­ge­birge wur­den Flüge nach Hawaii und Tre­cking im Hima­laja. Immer im Gepäck – ein Fern­weh, das mit jedem Pass im Stem­pel hart­nä­cki­ger wurde.

australien

Man sollte Rei­sen­den einen Bei­pack­zet­tel mit dem ers­ten Flug­ti­cket aus­hän­di­gen. Jede Aspi­rin-Wer­bung erzählt mir, dass ich zu Risi­ken und Neben­wir­kun­gen mei­nen Arzt oder Apo­the­ker befra­gen sollte, aber als Rei­sen­der werde ich vor­war­nungs­los in die Welt hin­aus geschubst. Nie­mand hat mir gesagt, dass eine unter­schwel­lige Schi­zo­phre­nie nach län­ge­rem und inten­si­vem Genuss des Rei­sens auf­tre­ten und sogar chro­nisch wer­den kann. Die­ses Gefühl, dass man hat, wenn man nach einem 18 Stun­den Flug kör­per­lich am Zoll steht und see­lisch noch Cai­pi­rinha an der Copa­ca­bana schlürft.

Brasilien christo

Ein ara­bi­sches Sprich­wort sagt, die Seele reist mit der Geschwin­dig­keit eines Kamels. In dem Fall hat mein Kamel in den letz­ten Jah­ren wohl irgendwo den Anschluss ver­lo­ren und trot­tet jetzt wer weiß wem hin­ter­her. Stän­dig sitzt mir die­ser Mephisto auf der Schul­ter und säu­selt süße Worte in mein Ohr wäh­rend sich Genosse All­tag mit end­lo­sen War­te­schlan­gen, Num­mern zie­hen und übel­ge­laun­ten Bus­fah­rern präsentiert.

Es gibt nur diese weni­gen Momente, diese Augen­bli­cke, in denen ich lie­be­voll mein Kamel streichle, Mephisto end­lich mal die Klappe hält und ich see­len­ru­hig ver­wei­len kann – unterwegs!

australien 2008

Der erste Big Mac im Land der unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten; die per­fekte Welle am Bells Beachs in Aus­tra­lien; ein glit­schi­ger Aus­rut­scher auf einer See­gurke im Golf von Thai­land; der erste Atem­zug auf dem Dach der Welt; ein Mönch, der mich in Bhu­tan mit einem Holz­pe­nis seg­net; ein Mari­lyn-Mon­roe-Hös­chen­blit­zer vor der Christo Sta­tue in Rio de Janeiro; ein war­mer Früh­lings­tag im Cen­tral Park; der freund­schaft­li­che Hand­schlag eines stol­zen Süd­afri­ka­ners oder ein klei­ner tibe­ti­scher Junge, der beim Berüh­ren mei­ner „gol­de­nen“ Haare vor Freude weint – zum Augen­bli­cke möcht’ ich sagen: Ver­weile doch! Du bist so schön!

New York

 

Cate­go­riesWelt
  1. Mariana says:

    Ich bin Bra­si­lia­ne­rin und es ist 2 oder 3 Jahre her, dass ich meine letzte Arbeit über deut­sche Lite­ra­tur an der Uni­ver­si­tät abge­ge­ben habe. goe­the und beson­ders faust hat mich in all den jah­ren des ger­ma­nis­tik­stu­di­ums am meis­ten fas­zi­niert! Ich habe Ihren Text plötz­lich gefun­den und er hat mich sehr auf­ge­regt. geht weiter!

  2. tine says:

    oh wie ich das gefühl kenne. ich bin über das goe­the zitat auf deine seite gekom­men, freu mich sehr dich gefun­den zu haben und schaue mal was du hier so machst.
    fern­weh ist meine krank­heit und der ver­such im moment zu leben mein ziel. gar nicht so einfach…
    viele grüße
    tine

  3. Pingback:Der Blogger-Wochenrückblick | Luxushotel-Tester

  4. Timo Sommer says:

    Das Gefühl kenne ich auch. Manch­mal möchte man ein­fach, dass die­ser Moment nie vor­bei geht. Er ist in die­sem Moment per­fekt und man kann sich nichts bes­se­res vor­stel­len. Ich hab dann immer ver­zwei­felt die Fern­be­die­nung aus dem Film „Klick“ in mei­nen Hosen­ta­schen gesucht, mit der man die Zeit anhal­ten kann. Ich hab sie lei­der nie gefun­den. Und so blieb mir nur immer Eins: Die­sen Augen­blick genie­ßen solange er da ist und sich danach auf die Suche des nächs­ten per­fek­ten Augen­blicks bege­ben. Er kommt bestimmt. 

    Viele Grüße Timo
    http://www.headformylife.com

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