Die Hardan­ger­vidda ist eine der unfreund­lichs­ten Gegen­den im nor­we­gi­schen Win­ter. Der Foto­graf und Aben­teu­rer Mar­tin Hülle hat in ihr jedoch ein zwei­tes, eisi­ges Zuhause gefun­den. Seit 10 Jah­ren kehrt er immer wie­der dort­hin zurück. Geschich­ten eines frei­wil­lig Süchtigen …

Im Januar 2003 machte ich mich zum ers­ten Mal im Win­ter auf, eine Runde mit Ski und Pulka-Schlit­ten auf der Hoch­ebene Hardan­ger­vidda zu dre­hen. Zu dem Zeit­punkt spielte ich schon mit dem Gedan­ken, Grön­land zu durch­que­ren. Daher erschien mir die Gegend zur Vor­be­rei­tung ideal. Ich lief zur mie­ses­ten Zeit allein über das Hoch­pla­teau, und von den 12 Tagen, die ich unter­wegs war, ver­brachte ich fünf bei Sturm und White-Out im Zelt. Begeg­net bin ich nie­man­dem, aber es war auf jeden Fall ein gutes Training.

Hardangervidda Winter 2008/2009

Käl­te­re­kord

Mein Herz schlägt für Polar­aben­teuer, und zur Vor­be­rei­tung auf Expe­di­tio­nen ist die wind­um­toste Hardan­ger­vidda ein per­fek­tes Gebiet, da die kli­ma­ti­schen Ver­hält­nisse und die Topo­gra­fie ver­gleich­bare Bedin­gun­gen schaf­fen wie auf aus­ge­dehn­ten Eis­kap­pen. Natür­lich ist es nicht schön, bei 33 Grad unter Null im Zelt zu sit­zen. Ich erlebte mei­nen bis­he­ri­gen Tiefst­wert bei einer Januar-Tour. Der Dampf des hei­ßen Tees gefror am Becher­rand, und die Frage war durch­aus berech­tigt, ob das far­ben­frohe Idyll am Him­mel – diese blauen, roten und vio­let­ten Abend­stun­den – die Unan­nehm­lich­kei­ten auf­wiegt. Aber wie immer war es die Schön­heit der Natur, die all die Stra­pa­zen nich­tig machte.

Hardangervidda Wintertour 2010

Sturz in die Tiefe

Ein paar Jahre spä­ter lief ich mit Jerome Blös­ser über die Hoch­ebene, um für ein Grön­land­aben­teu­rer zu trai­nie­ren. Aber Her­aus­for­de­run­gen lie­gen oft näher, als man denkt. Wenige Stun­den nach unse­rem Auf­bruch in Hau­ke­li­se­ter ver­schlech­terte sich das Wet­ter, jeg­li­che Kon­tu­ren ver­schwan­den in dich­ten Wol­ken, die mit dem Schnee zu unse­ren Füßen zu einem ein­heit­li­chen Brei ver­schmol­zen. White-Out! Ein Oben und Unten war nicht mehr zu unter­schei­den. Ich glaubte einen Stein­mann im Nichts zu erken­nen und hielt auf diese Som­mer­mar­kie­rung zu, als mir urplötz­lich die Beine weg­sack­ten und ich in die Tiefe stürzte. Den Abgrund hatte ich beim bes­ten Wil­len nicht erkannt. Der Fall ins Boden­lose dau­erte eine gefühlte Ewig­keit, und mir ging durch den Kopf, wor­auf ich auf­schla­gen könnte. Eine Schre­ckens­vi­sion von spit­zen Stei­nen. Doch nach Sekun­den­bruch­tei­len fing mich ein tief ver­schnei­ter Hang sanf­ter auf als befürch­tet. Ich sor­tierte meine Beine, sah, dass nichts zu Bruch gegan­gen war, weder Mensch noch Ski, und blickte nach oben. In dem Moment kam Jerome an die Abbruch­kante. Er war hin­ter mir her­ge­lau­fen und hatte im Gegen­wind nur auf seine Ski­spit­zen gestarrt und mei­nen rasan­ten Abgang gar nicht mit­be­kom­men. Als er mich dann unter sich ent­deckte, war es auch für ihn zu spät. Er konnte sei­nen eige­nen Absturz nicht auf­hal­ten und fiel eben­falls in den meter­tie­fen Gra­ben. Wie eine Gra­nate schlug er neben mir ein. Doch bis auf ein kaput­tes Zug­ge­stänge an den Pul­kas kamen wir mit dem Schre­cken davon. Fast ein Wun­der. Nach­dem uns das Ent­set­zen aus den Augen gewi­chen war und wir unser gro­ßes Glück rea­li­sier­ten, ver­fie­len wir in hys­te­ri­sches Geläch­ter. Von da an tas­te­ten wir uns behut­sa­mer über die Hardan­ger­vidda, bei wei­ter­hin meist schlech­ter Sicht, in der sich nur sel­ten die Sonne zeigte und die Sze­ne­rie in ein fah­les Licht tauchte.

Hardangervidda Winter 2008

Mit Fon­due ins neue Jahr

Einen beson­de­ren Jah­res­wech­sel erlebte ich einst unweit der Tuva-Hüt­ten. Wenige Tage nach Weih­nach­ten waren wir in Finse auf­ge­bro­chen und lie­fen in einem Bogen ost­wärts über Krækkja und Hein­se­ter zurück in Rich­tung Bahn­li­nie. Zur Freude mei­nes Schwei­zer Tour­part­ners gab es am Sil­ves­ter­abend Käse­fon­due. Das Brot dazu hatte die Minus­grade eini­ger­ma­ßen schad­los über­stan­den, und das Essen war ein Genuss. Nur der Sekt blieb ein­ge­fro­ren unan­ge­tas­tet im Schlit­ten. Spä­ter stie­gen über den umlie­gen­den Berg­rü­cken ein paar Rake­ten in den klir­rend kal­ten Nacht­him­mel auf, die wohl im nahen Ust­ao­set zu früh gezün­det wor­den waren. Den eigent­li­chen Über­gang ins neue Jahr ver­schlie­fen wir tief und fest in unse­ren kusche­li­gen Schlafsäcken.

Hardangervidda Wintertour 2010 Hardangervidda Wintertour 2011 Hardangervidda Wintertour 2010

Der beson­dere Kick

Allein in der Spur, die Ver­ant­wor­tung für alles tra­gen. Solo­tou­ren über die Hardan­ger­vidda sind vor allem in den frü­hen Win­ter­mo­na­ten eine lockende Her­aus­for­de­rung. Die Chan­cen ste­hen gut, kei­ner ande­ren Men­schen­seele zu begeg­nen. Die Aus­sicht auf diese Ein­sam­keit ent­fachte auch bei mir einen zusätz­li­chen Kit­zel – völ­lig frei durch die Berge zu zie­hen, ist ein erha­be­nes Gefühl. Aber es setzt Erfah­rung vor­aus. Die beste Sicher­heit – neben guter Aus­rüs­tung – ist zu wis­sen, was man zu tun und zu las­sen hat. Und zwar nicht erst dann, wenn es brenz­lig wird, son­dern auch schon vor­beu­gend. Die­ses Wis­sen muss man sich über viele Tou­ren erar­bei­ten, und es ist sinn­voll, klein anzu­fan­gen und die Schwie­rig­kei­ten der Unter­neh­mun­gen nach und nach zu stei­gern. Wenn man weiß, was man tut, ist es beson­ders. Die ohne­hin weit aus­ein­an­der lie­gen­den Pole zwi­schen uner­träg­li­cher Kälte, der oft zer­mür­ben­den Anstren­gung des Schlit­ten­zie­hens, dem „Kampf mit den Ele­men­ten“ und der Freude über einen wär­men­den Son­nen­strahl, einen Scho­ko­rie­gel zur rech­ten Zeit oder auch mal eine Sicher­heit spen­dende Hütte sind allein erlebt umso intensiver.

Hardangervidda Wintertour 2011/2

Als Guide unterwegs

Der Hardan­ger­vidda-Klas­si­ker ist eine Nord-Süd-Über­que­rung der Hoch­ebene von Finse bis nach Hau­ke­li­se­ter. Oder umge­kehrt. Min­des­tens acht Tage sollte man für die Tour ein­pla­nen, um auch mal einen Schlecht­wet­ter­tag aus­sit­zen zu kön­nen. In den letz­ten Jah­ren habe ich als Guide meh­rere Grup­pen über die Hardan­ger­vidda geführt und konnte ande­ren meine Erfah­run­gen wei­ter­ge­ben. Gemein­sam durch dick und dünn zu gehen war auch für mich eine Berei­che­rung. Die Gegend ist eine wahr­lich weiße Wüste. Vor allem im fla­che­ren Ost­teil scheint die Ein­sam­keit bis jen­seits des Hori­zonts zu rei­chen. Ohne jeg­li­che Mar­kie­rung kann die Ori­en­tie­rung in der weit­läu­fi­gen Land­schaft aller­dings schwie­rig wer­den. Erst ab Anfang März wer­den einige Rou­ten mit Ästen ver­se­hen, die den Ski­wan­de­rern auch im mie­ses­ten White-Out die Rich­tung wei­sen. Über die „Kvis­te­ru­ter“, die abge­steck­ten Wege, sollte man sich vorab infor­mie­ren und Ände­run­gen auf­grund des Wet­ters oder wegen der Schnee­be­din­gun­gen bei der Pla­nung einer Route immer beden­ken. Im vori­gen Win­ter erwischte uns das Wet­ter beson­ders schlimm, und sehr oft war es stür­misch. Für unsere zehn­köp­fige Gruppe hat­ten wir ein sepa­ra­tes Koch­zelt dabei, worin wir jeden Abend und jeden Mor­gen zusam­men­ka­men, um gemein­sam zu essen. Das große Zelt war den Natur­ge­wal­ten natür­lich stär­ker aus­ge­setzt und nicht so wind­schnit­tig wie die klei­ne­ren Schlaf­un­ter­künfte. Eines Mor­gens traute ich nach einer durch­rüt­teln­den Nacht mei­nen Augen nicht. Unter Schnee­mas­sen begra­ben, ver­steckte sich ein Hau­fen Elend mit gebro­che­nen Gestän­ge­bö­gen und zer­fetz­ter Außen­hülle. Wir waren gewarnt und bar­gen Kocher und Über­reste aus unse­rem Spei­se­saal. Fortan muss­ten wir uns auch zum Kochen auf die übrig geblie­be­nen Zelte ver­tei­len, die wir bei Sturm und Wind­stärke Neun peni­bel sicherten.

Aber wie sag­ten wir uns wäh­rend der tur­bu­len­ten Tour immer wie­der: „Es könnte noch schlim­mer kom­men!“ So erreich­ten wir das Ziel glück­lich und vol­ler Stolz. Dar­über, uns mit der har­schen Natur arran­giert zu haben. Und vol­ler Freude, sie so inten­siv gespürt haben zu dürfen.

Hardangervidda Wintertour 2012

Cate­go­riesNor­we­gen
Martin Hülle

Martins Herz schlägt vor allem für die abgeschiedenen Regionen des hohen Nordens. Dabei sind die Fotografie und das Schreiben für ihn eine Lebensart – eine Möglichkeit, Gefühle einzufangen, auszudrücken und mit anderen zu teilen. Kamera und Notizblock sind seine ständigen Begleiter auf der Suche nach spannenden Geschichten, Reportagen und Dokumentationen. 2017 erschien sein erster Bildband „Mein Norden“ – Eine Liebeserklärung an raue Landschaften, karge Regionen und eine intensive Art des Unterwegsseins.

  1. Sibille Zillmer-Barnasch says:

    Gerade habe ich das Buch „die Brü­cken­bauer“ von Jan Guil­loou gele­sen und
    an Hand die­ser Beschrei­bun­gen der wirk­lich ein­drucks­vol­len Land­schaft und Wit­te­rungs­ver­hält­nis­sen, fest­ge­stellt, dass es sich bei dem wun­der­ba­ren, inter­es­san­ten und erst­klas­sig recher­chier­ten Inhalt um ein tol­les Buch handelt!
    Viele der gele­se­nen Ereig­nisse konnte ich hier bestä­tig fin­den. Danke dafür

  2. Pia Röder says:

    Ach je, jetzt fühl ich mich nach mei­ner abge­bro­che­nen Hardan­ger­vidda-Tour im August erst recht wie eine rich­tige Trek­king-Memme ;) Super schöne Bil­der. Im Win­ter ist es echt noch schö­ner als im Sommer!

  3. Alex says:

    Es ist schon erstaun­lich wie schnell sich der mensch­li­che Kör­per an das Drau­ßen­sein bei unge­wohnt nied­ri­gen Tem­pe­ra­tu­ren anpasst.…

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