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Weih­nach­ten in New York

Der Wecker hatte noch nicht geklin­gelt, doch ich war seit Stun­den wach. Durch die ver­glaste Fas­sade des „W“ strömte das erste blaue Licht des Tages in unsere Suite. Ich schob die Dau­nen­de­cke zur Seite, zog meine Woll­so­cken über und trat ans Fens­ter. Rechts vor mir ruhte der Hud­son River in sei­nem Win­ter­schlaf. Auf den Dächern der umlie­gen­den Wol­ken­krat­zer glit­zerte der Rau­reif. Win­zige gelbe Punkte beweg­ten sich ent­lang des Broad­ways und hup­ten kaum hör­bar. Es war der Mor­gen vor dem Hei­lig­abend und 55 Stö­cke unter mir lag der Times Square. Ich lehnte mich gegen das Fens­ter­glas und schaute zu, wie die Sonne über Man­hat­tan hochstieg.

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Der Wunsch, Weih­nach­ten in New York zu ver­brin­gen, reifte in mir acht­zehn Jahr zuvor, inmit­ten post­so­wje­ti­scher Win­ter­ro­man­tik. Die rie­si­gen Mas­sen Dezem­ber­schnee hat­ten alles unter sich ver­gra­ben. Die Stra­ßen außer­halb des Zen­trums von Alma-Ata gli­chen dun­kel­grauen und schwer pas­sier­ba­ren Matsch­ber­gen. In der Küche des Hau­ses mei­ner Groß­mutter glühte der Koh­le­of­fen und heizte die Wände auf. Das Haus roch nach Kind­heit, Holz und Gemüt­lich­keit. In der Mitte unse­res Gar­tens bogen sich die kah­len Äste des alten Bir­nen­baums, den mein Groß­va­ter kurz nach dem Krieg gepflanzt hatte, unter dem Schnee und auf der ande­ren Seite des Chaus­sees, das einst zur Sei­den­straße führte, rat­ter­ten im Stun­den­takt schwer bela­dene Güter­züge vor­bei. Das rhyth­mi­sche Geräusch ihrer Räder ist bis heute die ein­zige Melo­die, die mich in den Schlaf schau­keln kann.

Es war 30. Dezem­ber 1993, der Tag vor der Ankunft des Ded Moroz mit sei­nen Geschen­ken zu Novyj God. Im Fern­se­hen lief zum ers­ten Mal „Kevin allein in New York“. Und noch bevor die kleb­ri­gen Ban­di­ten von der Poli­zei geschnappt wur­den, hatte ich beschlos­sen, an Weih­nach­ten nach New York zu rei­sen. Ich war acht Jahre alt und hatte keine Ahnung, wo USA lie­gen und dass man einen Ozean über­que­ren muss, um nach Man­hat­tan zu gelan­gen. Was ich jedoch mit Sicher­heit wusste, war, dass ich eines mor­gens in die­ser bunt leuch­ten­den Stadt auf­wa­chen werde, wo es Vitri­nen vol­ler Spiel­zeuge, eine Eis­bahn mit­ten im Zen­trum und rie­sige Tan­nen­bäume gab, an denen rot­weiß gestreifte Lol­li­pops hin­gen. Diese Reise gehörte ab da an zu mei­nem Lebensplan.

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Mein Mann und ich lie­ßen das Grau-in-Grau des win­ter­li­chen Ber­lin hin­ter uns. Es war das Jahr 2011 und ich habe die Hälfte davon damit ver­bracht, durch die süd­ost­asia­ti­schen Staa­ten zu rei­sen und meine nach dem Uni­ab­schluss wie­der­erlangte Frei­heit zu fei­ern. Sechs Monate, sie­ben asia­ti­sche Län­der und eine Hoch­zeit spä­ter, war unser Rei­se­bud­get für fünf Jahre im Vor­aus auf­ge­braucht. Aber es war Dezem­ber… Und zum ers­ten Mal in mei­nem Leben stan­den keine Prü­fun­gen auf dem Plan. Die Zeit für New York war gekommen.

Eine Woche vor Weih­nach­ten stie­gen wir in der fros­ti­gen Mor­gen­kälte von Man­hat­tan aus dem Local Train aus. Der Him­mel über der Penn Sta­tion war strah­lend blau. Die bei­ßende Kälte kroch unter unsere Män­tel und ließ die Wan­gen glü­hen. Die Sire­nen der New Yor­ker Feu­er­wehr ver­stumm­ten gerade irgendwo am Ende der Straße und ein Obdach­lo­ser mit einem Ren­tier-Weih­nachts­hut ging mit sei­nem Hund an uns vor­bei. Ich zog mei­nen Schal über die Nase und hoffte, dass die Freu­de­trä­nen, die in sol­chen Augen­bli­cken immer flie­ßen, mir nicht sofort auf den Lip­pen ein­frie­ren. Wir waren in New York, dem ein­zi­gen wah­ren New York, das es gibt: New York wäh­rend der Weihnachtszeit.

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Man­hat­tan begrüßte uns mit dem bes­tem, was es zu bie­ten hat: Die Schau­fens­ter an der Fifth Ave­nue strahl­ten in fei­er­li­chem Rot, Gir­lan­den säum­ten die Stra­ßen von Little Italy und China Town, der Baum am Rocke­fel­ler Cen­ter fun­kelte präch­ti­ger als es jede Fern­seh­über­tra­gung zu über­tra­gen ver­mag (und zog gefühlt die Hälfte der Stadt­be­völ­ke­rung an) und an der Süd­spitze von Man­hat­tan konnte man jeden Abend See­mö­wen bei ihrem Flug in den Son­nen­un­ter­gang beob­ach­ten. Wir ver­brach­ten unsere Tage meist unter­wegs, mit einem hei­ßen Kaf­fee in der Hand und stets auf der Suche nach Kind­heits­er­in­ne­run­gen, die eigent­lich nur in mei­nem Kopf exis­tier­ten und hier Wirk­lich­keit wur­den. Auf dem Weih­nachts­markt im Cen­tral Park gab es hei­ßen Apfel­punsch. Wir hiel­ten an der Brü­cke vor dem Woll­man Rink, wo die Schlitt­schuh­fah­rer ihre Pirou­et­ten zu „Last Christ­mas“ und „Jingle Bells“ dreh­ten. Es war genauso, wie ich es mir mit acht Jah­ren vor­ge­stellt hatte. Viel­leicht sogar ein biss­chen bes­ser. Ich nahm einen Schluck vom Apfel­punsch, des­sen Duft mich an die blü­hen­den Apfel­gär­ten mei­ner Hei­mat­stadt erin­nerte. Alma-Ata heißt (in der ursprüng­li­chen kasa­chi­schen Form Almaty) wört­lich über­setzt „Äpfel­stadt“… eine Tat­sa­che, die mich schmun­zeln ließ, als ich mich nun im Her­zen von Big Apple wiederfand.

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Hei­lig­abend nahte. Und mit ihm der „Nuss­kna­cker“ des New York City Bal­letts. Ich bin es gewohnt, mit Ruck­sack, Flip­flops und Lonely Pla­net durch die Welt zu zie­hen und in fünf-Dol­lar-Hos­tels zu über­nach­ten. Und ich kann wirk­lich nicht sagen, ob eine Suite hoch über den Dächern von Man­hat­tan die bes­sere Alter­na­tive ist. Aber dies­mal mach­ten wir es ein­fach auf diese Weise. Mit Abend­robe und Anzug beklei­det, stie­gen wir in ein Taxi, das uns zur Upper West Side brachte. Auf der Rück­bank des Yel­low Cab hör­ten wir dem Fah­rer beim Tele­fo­nie­ren zu, wäh­rend die Nacht­lich­ter der Stadt an uns vor­beiglit­ten. Ich fühlte, wie wir in der Stadt ankamen.

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Nach dem Ende der Vor­stel­lung war­fen wir all unsere Christ­mas Din­ner Pläne über Bord, kehr­ten ins Hotel zurück und fei­er­ten Hei­lig­abend. Als Vor­speise gab es die Aus­sicht auf die City, als Haupt­gang jede Menge Tris­cuits, Jelly Bel­lys, M&Ms und Rot­wein und als Des­sert einen Mara­thon aus unzäh­li­gen Fol­gen „How I met your mother“. Ein bes­se­res Weih­nach­ten hatte ich nur ein­mal als Kind erlebt, als es an dem besag­ten Novyj God im Jahr 1993 kurz vor Mit­ter­nacht ein klei­nes Erd­be­ben gab, was für die Region nicht unüb­lich, aber den­noch beson­ders war. Die anwe­sen­den Erwach­se­nen mach­ten uns weis, dass es Väter­chen Frost per­sön­lich war, das gerade auf dem Weg zu uns die Erde beben ließ. Wir waren eigent­lich schon zu alt für Weih­nachts­mär­chen, aber an die­sem einem Abend haben wir kurz wie­der daran geglaubt – denn wie von Zau­ber­hand stan­den plötz­lich unsere Geschenke an der Ein­gangs­tür. „S Novym Godom“ hallte es von über­all aus der Nach­bar­schaft…. „Merry Christ­mas“ tönte es aus dem New Yor­ker Radio. „Frohe Weih­nach­ten“ sagte mein Mann und reichte mir das Glas Rotwein.

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Am ers­ten Weih­nachts­mor­gen und unse­rem letz­ten Tag in New York ver­lie­ßen wir um fünf Uhr früh das Hotel. Die Stra­ßen am Times Square waren wie leer gefegt. Rie­sige Leucht­re­kla­men, auf denen Weih­nachts­wer­be­spots lie­fen, waren das ein­zige Zei­chen des Lebens an die­sem sonst lär­men­den Fleck der Stadt. Zum ers­ten Mal konn­ten wir ein­fach ent­lang des Broad­ways spa­zie­ren und in die Luft schauen, ohne uns in der Men­schen­menge zu ver­lie­ren. Weit oben über dem Times Square, zwi­schen den stock­düs­te­ren Fas­sa­den der Wol­ken­krat­zer, brannte ein ein­zi­ges Licht – die Nacht­tisch­lampe in unse­rem Man­hat­tan-Zuhause. Wir blie­ben bis zur Mor­gen­däm­me­rung drau­ßen. New York gehörte für einen kur­zen Augen­blick nur uns allein.

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Cate­go­riesUSA
Belka Berlin

Mit 5 Jahren wurde Belka als blinder Passagier an Bord einer sowjetischen Il-86 geschleust und leidet seitdem an Fernweh. Heute ist sie Herausgeberin und Redakteurin des Print-Magazins „The Fernweh Collective“. Sie lebt in Berlin und träumt von einer Hütte auf Sansibar.

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