Wandern zum Sitz des Riesen

Kaum ver­wun­der­lich, dass sich um vie­le Gebir­ge Sagen und Legen­den ran­ken. Spon­tan auf­tre­ten­de Gewit­ter, sich stän­dig ver­än­dern­de Him­mels­far­ben, Haus­dä­cher zer­stö­ren­der Hagel – für sol­che Natur­phä­no­me­ne suchen Men­schen nach Erklä­run­gen, und unge­wöhn­li­che, beson­ders extre­me Wet­ter­la­gen tre­ten eben gehäuft in extre­men Land­schaf­ten auf.

Dazu stell­te sich die Fra­ge, wie die vie­len Fels­bro­cken auf den Berg­rü­cken gekom­men sind, war­um die Wän­de eines Gebirgs­zu­ges so steil abfal­len oder wie es sein kann, dass ganz oben Schnee liegt, wenn unten bereits Früh­lings­tem­pe­ra­tu­ren herr­schen. Wenn jemand in den Abgrund rutsch­te oder die Ern­te durch ein Unwet­ter zer­stört wur­de, brauch­te man außer­dem einen Schul­di­gen – und ein wenig Hoff­nung, durch ein Ritu­al zur Besänf­ti­gung der Über­macht. Schließ­lich ist es immer noch ange­neh­mer, sich einem manch­mal guten, manch­mal bösen Gott zu stel­len oder einer Welt, in der das Hel­le gegen das Dunk­le kämpft, einen Sinn in dem zu sehen, was geschieht, anstatt sich dem alles ver­nich­ten­den Zufall aus­zu­set­zen.

Sagen und Legen­den haben nicht nur die Fähig­keit, Unvor­stell­ba­res zu erklä­ren, son­dern sie brin­gen auch Men­schen zusam­men. In einer Zeit ohne Ablen­kung boten Geschich­ten Unter­hal­tung, waren Erzäh­lun­gen eine Mög­lich­keit, sich in ande­re Wel­ten zu träu­men, ver­ban­den Mär­chen Fami­li­en, da sie von den Ältes­ten an die Jüngs­ten wei­ter­ge­ge­ben wur­den.

Heu­te brau­chen wir all das nicht mehr, denn wir kön­nen uns die Welt erklä­ren. Wir fin­den uns mal bes­ser und mal schlech­ter damit ab, dem eis­kal­ten Schul­tern­zucken des Zufalls ins Auge zu bli­cken, und schaf­fen es sogar manch­mal, es zu kal­ku­lie­ren und vor­her­zu­se­hen. All unse­re Geschich­ten sind zu Hun­der­ten erzählt, in Bild, in Ton, in Text. Und doch – wenn ich vor einem Berg ste­he, bleibt mir der Mund offen und mein Wis­sen über die Welt setzt für einen Moment aus.

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Cad­air Idris, einer der höchs­ten Ber­ge in Wales, soll ein­mal der Sitz des Rie­sen Idris gewe­sen sein. Mit den Gip­feln als Arm­leh­ne saß er hier und hat sich die Ster­ne ange­se­hen. Dort, wo er ein­mal ruh­te, ist heu­te ein See, von dem man wie von vie­len Seen in Wales sagt, er wäre boden­los. Die hohen Gip­fel, die sich halb­kreis­för­mig um den tief­blau­en Berg­see Llyn Cau auf­rei­hen, las­sen kei­ne Zwei­fel an der Grö­ße des Rie­sen – und zei­gen zugleich ganz deut­lich, dass der Berg­rü­cken aus sehr lang ver­gan­ge­ner vul­ka­ni­scher Akti­vi­tät her­aus ent­stan­den ist.

Wenn sich der Wind in den stei­len Abgrün­den ver­fängt, kann man das Heu­len der Cwn Annwn hören, der Hun­de des Herr­schers über die Unter­welt, die bevor­zugt in Cad­air Idris jagen. Je näher sie kom­men, des­to sanf­ter und lei­ser wer­den ihre Geräu­sche, die von einem bal­di­gen Tod kün­den. Im dich­ten Wali­ser Nebel wird ein Fels­bro­cken oder ein Baum­stumpf schon ein­mal zu einem Höl­len­hund – oder zu Mallt-y-Nos, einer älte­ren Dame, die sich Zeit ihres Lebens so sehr der Jagd ver­schrie­ben hat, dass sie nun, nach ihrem Tod, nachts immer noch die Hun­de der Unter­welt auf ihrer Jagd beglei­tet. Frü­her sind vor allem Bar­den auf den Gip­fel gestie­gen und haben dort über­nach­tet, denn wer in Cad­air Idris näch­tigt, der kommt ent­we­der als Poet zurück – oder ver­rückt.

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Wir wagen den Auf­stieg bei Tage und kön­nen uns dar­über freu­en, dass der Berg extra für uns aus dem sonst fast immer­wäh­ren­den Nebel auf­ge­taucht ist. Vor­bei geht es an einem Bach, stets berg­auf, erst über Stei­ne, schließ­lich über Gras. Der zwei­te anstren­gen­de Auf­stieg belohnt uns mit einer traum­haf­ten Aus­sicht über den Llyn Cau, in dem sich der blaue Him­mel spie­gelt. Mehr­mals muss ich mit einem Blick auf die umlie­gen­den Gip­fel, die immer höher zu wer­den schei­nen, schlu­cken. Da sol­len wir noch rauf? Und auch wie­der run­ter?

Immer wei­ter nach oben, im Kampf gegen Schweiß­trop­fen und schmer­zen­de Füße. Ich tra­ge irgend­wann Pul­li und Jacke im Ruck­sack und lau­fe im T‑Shirt gegen die Son­ne an. Der ers­te Gip­fel eröff­net uns einen fan­tas­ti­schen Blick über den süd­li­chen Snow­do­nia Natio­nal Park. Ber­ge wech­seln sich hier ab mit bild­schö­nen Seen. Der gla­zia­le Ursprung gibt den Wali­ser Ber­gen trotz ihrer gerin­gen Höhe ein alpi­nes Aus­se­hen – und wohl auch eine alpi­ne Beschaf­fen­heit, schließ­lich trai­nier­te Edmund Hil­la­ry hier erfolg­reich für sei­ne Ever­est-Bestei­gung.

Wir sit­zen hoch wie kaum jemand sonst und las­sen die Füße über dem Abgrund bau­meln. Die Luft weht uns ent­ge­gen, Raub­vö­gel glei­ten im Auf­trieb. Das Rascheln der Grä­ser, die sich dem Wind beu­gen, dröhnt hier oben in unse­ren Ohren.

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Die Wan­de­rung um den Cad­air Idris hält die eine oder ande­re Ent­täu­schung bereit, denn nach dem lan­gen Weg nach oben zum ers­ten Gip­fel scheint der Abstieg und erneu­te kräf­te­zeh­ren­de Auf­stieg zum zwei­ten Gip­fel wie Betrug. „Hät­te man da nicht eine Brü­cke drü­ber bau­en kön­nen?“, beschwert sich der Rei­se­be­glei­ter. Ich has­se mich dafür, alles mit­ge­brach­te Was­ser bereits aus­ge­trun­ken zu haben. Auf dem zwei­ten Gip­fel ist auf ein­mal deut­lich mehr Betrieb. Moun­tain­bi­ker haben ihr Rad am Stein abge­stellt, der den höchs­ten Punkt mar­kiert.

Spä­ter führt der Weg am drit­ten Gip­fel vor­bei – noch mehr Betrug! Wenn schon, dann wol­len wir wenigs­tens alle drei Erhö­hun­gen mit­neh­men und kämp­fen uns durchs nas­se Gras, um uns noch ein­mal als die Höchs­ten zu füh­len. Zurück ist der Weg schwer zu fin­den, wir lau­fen einen klei­nen Umweg bis zum Zaun, an dem wir nun ent­lang­lau­fen. Abwärts ist bei­na­he anstren­gen­der als auf­wärts, da der Weg nun kaum mehr einer ist, son­dern nur noch über Geröll und lose Stei­ne führt. Erschöpf­te Wan­de­rer lie­gen neben­an im Gras und ver­si­chern uns, dass es jetzt nicht mehr weit ist.

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Wenigs­tens haben wir den unein­ge­schränk­ten Blick auf sogar zwei Seen, den vom Cad­air Idris ein­ge­schlos­se­nen Llyn Cau und den Tal-y-llyn neben­an. Trotz­dem bin ich froh, als wir wie­der am Bach ankom­men und nach eini­gen Metern sogar im Schat­ten wan­dern. Für heu­te bin ich erst ein­mal genug gelau­fen, ach was, eigent­lich gefühlt für mein gan­zes Leben. Stolz stel­len wir zu Hau­se fest, dass wir die in unse­rem Wan­der­füh­rer ange­ge­be­ne Zeit sogar unter­bo­ten haben, und ich ver­söh­ne mich mit dem Wan­dern und mit mei­nen schmer­zen­den Füßen. Und natür­lich mit dem Rie­sen, der sei­nen Thron ein­fach so in die wun­der­schö­ne Land­schaft von Wales gestellt hat – und ihn uns als Aus­sichts­punkt zur Ver­fü­gung stellt. Viel­leicht set­ze ich mich ja auch irgend­wann ein­mal dort hin und gucke in die Ster­ne, wie der alte Idris. Und wer­de hof­fent­lich über Nacht zur Dich­te­rin.

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Antworten

  1. Avatar von Tobias

    Das sieht wirk­lich wun­der­schön aus, den Ort ver­mer­ke ich mir mal zu mei­nen Rei­se­zie­len!

    Lie­be Grü­ße 🙂

  2. Avatar von Melissa

    Tol­ler Bei­trag!
    Mich wür­de inter­es­sie­ren mit was für einer Kame­ra die Bil­der gemacht wur­den und ob auch eine Anfän­ge­rin den Auf­stieg schaf­fen wür­de ?

  3. Avatar von Wildkamera_Peter

    Lie­be Aria­ne,

    vie­len Dank für die­sen wun­der­ba­ren Rei­se­be­richt, das macht direkt Lust auf die Nächs­te Wan­de­rung. Wir waren in die­sem Hebst auf dem Rot­haar­steig unter­wegs und konn­te dort vie­le wun­der­schö­ne Tier­auf­nah­men machen. Wie sieht mit Wild-Begeg­nun­gen in Wales aus, sind dir des nächs­tens eini­ge Wild­tie­re begeg­net und wenn ja wel­che Art?

    LG und einen guten Rutsch wün­sche ich Dir.

    1. Avatar von Ariane Kovac

      Hal­lo Peter, erst ein­mal vie­len lie­ben Dank! Tie­re sind mir in Wales außer Scha­fe, Pfer­de und Kühe kei­ne begeg­net – ich war aber nachts auch nicht unter­wegs. Eine Rei­se lohnt sich aber so oder so, die Land­schaf­ten sind toll und da das Land so leer und wenig tou­ris­tisch ist, kann ich mir vor­stel­len, dass sich auch Tie­re fin­den, wenn man sucht.

  4. Avatar von Ole

    Was für eine traum­haf­te und wun­der­schö­ne Gegend – da wür­de ich ganz ger­ne auch mal noch hin­rei­sen irgend­wann. Nicht nur die Land­schaft fas­zi­niert mich dort, son­dern auch die Men­schen.

    Ein­fa­che Men­schen, die ihr Leben der Jagd ver­schrie­ben haben. So etwas fas­zi­niert mich!

  5. Avatar von Markus

    Hal­lö­chen, genau dahin wol­len mei­ne Frau und ich im Febru­ar! Ein­drucks­vol­le Bil­der und ein schö­ner Bericht!!!! Vie­le Grü­ße aus Köln
    Mar­kus

  6. Avatar von todayis Magazin

    Ich habe mir für nächs­tes Jahr auch vor­ge­nom­men mehr zu wan­dern! Tol­ler Post:

    Lie­be Grü­ße,

    Sabri­na

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