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Eine dreiwöchige Wanderung führte mich von Jiri zum Kala Pattar an den Fuß des Mount Everest. Auf dem ersten Teilstück warteten Momente tiefen Friedens, aber auch Schmerz und Einsamkeit. Am Ende traf ich einen ganz besonderen Freund.
Kathmandu lag in den frühen Morgenstunden in ungewohntem Frieden. Der war am Busbahnhof zu Ende; hier herrschte bereits Hochbetrieb. Ich irrte zwischen den abfahrbereiten Bussen umher. Erst mithilfe freundlicher Helfer und nachdem ich einige Zeit im falschen Bus gesessen hatte, saß ich in dem altersschwachen Ungetüm, das den Fahrgästen nach Jiri zugedacht war: der Süper Express Bus. Die Fahrt durch die engen Serpentinen, die sich an abgrundtiefen Schluchten entlanghangelten, war nichts für schwache Nerven.
Jiri liegt am Rande des Hochgebirges auf knapp 2000 Metern. Beim Blick auf die Nadelwälder und sanften Hügel deutet nichts darauf hin, dass der Mount Everest nur 75 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Angesichts der zu überwindenden Höhenmeter sagt das für den Wanderer ohnehin wenig aus, zumal die Route in einem weiten Bogen verläuft.
Jiri war Startpunkt der Bergsteiger-Touren zum Everest, bis 1964 in Lukla ein Flugfeld gebaut wurde. Seitdem erspart sich der Wanderer die halbe Wegstrecke zum Base Camp. Die asphaltierte Straße von Kathmandu endet im Dorf hinter Jiri. Heute wählen nur noch wenige Touristen die klassische Route. Viele Waren gelangen aber immer noch über diese Route auf dem Rücken der Sherpas in Richtung Everest. Mich reizen die wenig begangenen Wege, und ich wollte mir die vielfältige Landschaft mit den subtropischen Tälern auf dem Weg ins Hochgebirge nicht entgehen lassen. So würde ich mir die Berge Stück für Stück erobern müssen.
Anfangs lief ich durch würzig duftende Tannenwälder an kleinen Weilern vorbei.
Doch bald würde die ersten Etappen bis nach Lukla vor allem eins bieten: ein ewiges Auf und Ab mit knackigen Aufstiegen über vier nennenswerte Pässe.
Früh entwickelte ich eine Spezialität dafür, vom Weg abzukommen. Doch oft habe ich in der Retroperspektive das Gefühl, dass mich erst die Umwege meiner Reisen auf die richtigen Wege geführt haben. Zu meinem größten Problem wurde das Überbein unter meinem linken Knie. Während eines steilen Abstiegs bekam ich unerträgliche Schmerzen. Es fühlte sich an, als würde mir jemand eine Messerklinge im Knie umdrehen. Ich quälte mich auf einen Stock gestützt wie ein Tattergreis in Zeitlupe den Berg hinab. Das schien bereits am vierten Tag das frühe Ende meiner Wanderung zu sein. Wehmütig blickte ich auf die Schönheit der blühenden Rhododendren und des Bergwaldes. Ich befand mich in einer Zwickmühle: egal ob ich weiter nach Lukla ging oder umdrehte – es machte kaum einen Unterschied. Zu allem Überfluss zog ein heftiges Gewitter auf und gewaltige Hagelkörnern prasselten auf mich ein. Tiefer Nebel legte sich über die Landschaft und verlieh der Umgebung etwas zutiefst Trostloses. Völlig durchnässt und verzweifelt erreichte ich meinen nächsten Etappenort. Schließlich entschied ich mich, meinen Weg nach Lukla fortzusetzen. Ich hoffte darauf, die Schmerzen würden nachlassen. In den nächsten zwei Wochen wurde es jedoch kaum besser; vor allem die Abstiege waren pures Gift. Der Schmerz veränderte sich ständig: mal wurde er stärker, mal schwächer, mal pochte er ohne Unterbrechung, dann kam er in stechenden Schüben. Über Paracetamol lachte er.
So verkam die Wanderung früh zu einer Tortur, zu einer reinen Frage des Willens. Ich war erstaunt, dass ich immer weiter machen konnte, obwohl es immer häufiger Momente gab, in denen ich es nicht mehr auszuhalten schien. Doch ich wollte auf keinen Fall aufgeben!
Mindestens genauso sehr quälten mich die Momente, in denen mich grenzenlose Einsamkeit befiel. Umso mehr freuten mich die kleinen Gesten, wenn ich mit der Dämmerung auf einen freundlichen Menschen traf, der mir ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit anbieten konnte. Das rückte die Dinge wieder zurecht. Neben dem intensiven Naturerlebnis und meinem Stolz waren es solche Erfahrungen, die mich immer weiterlaufen ließen.
Oft blieb mir in den Gasthäusern nur die Kommunikation mit Händen und Füßen. Aber Sympathie entsteht auch durch den Austausch eines Lächelns. Die Saison ging bereits ihrem Ende entgegen. Die Zahl der kurzen Begegnungen mit anderen Ausländern konnte ich an einer Hand abzählen. Einheimische Wanderer waren genauso rar. Oft stieß ich auf fast verwaiste Dörfer. Die Männer hatten Arbeit als Träger oder Führer gefunden. ihre Frauen hielten mit den Kindern die Stellung und boten den vereinzelten Wanderern Unterkunft und Verpflegung. Gerade auf den Passhöhen wurde es abends empfindlich kalt, besonders im eisigen Wind. Dann genoss ich es, mich in der Wohnstube der Familie aufhalten zu dürfen, und wärmte mich am offenen Feuer, über dem mir die Frau des Hauses Tee, eine Suppe und ein Nudel‑, Linsen- oder Kartoffelgericht zubereitete. Ich wusste die unverfälschte Gastfreundschaft zu schätzen. Die Kinder waren voller Neugier. Ihr Fremdeln wich schnell einem Lachen. Ich stellte mir vor, in dieser Abgeschiedenheit zu leben. Nur im Ansatz konnte ich erahnen, wie schwer das Leben hier im Winter sein musste. Andererseits beneidete ich die Familien um ihren einfachen Lebensstil. Doch die Kinder erfuhren durch die merkwürdigen Gestalten, die mit Rucksäcken, Funktionskleidung, schweren Kameras und Teleskopstangen durch ihre Heimat liefen, früh, was sich außerhalb ihrer sichtbaren Welt abspielte. Der Fernseher zeichnete den Rest des verheißungsvollen Bildes nach einem „besseren“ Leben. Sie würden kaum zu halten sein. Mir wäre es sicher nicht anders ergangen.
Warum diese Privilegierten ohne Not durch diese abgelegene Region wanderten, blieb vielen ein unlösbares Rätsel. Selbst in Kathmandu hatten Viele nur mit dem Kopf geschüttelt. Was mochten die Touristen hier wohl suchen, wo man doch offenbar alle Möglichkeiten besaß, ein Leben ohne Anstrengungen zu genießen?
In einem Gasthaus begegneten mir zwei Wanderer, die bereits auf dem Rückweg waren und ihre Wanderung gemächlich ausklingen ließen. Mit leuchtenden Augen erzählten sie mir von ihren Erfahrungen. Doch nach der Kargheit der Berge waren sie jetzt vom Abwechslungsreichtum in den Tälern begeistert. Neben den Nadelhölzern waren es die gelb, rot oder violett leuchtenden Rhododendrenwälder und Terrassenfelder, auf denen Kartoffeln und Weizen wuchsen, die die Landschaft dominierten. In den subtropischen Tälern wuchsen sogar Bananenstauden. Der extreme Kontrast von den Tälern zu den vegetationslosen Pässen bot schon einmal einen Vorgeschmack auf das, was noch folgen sollte.
Mit dem Wetter hatte ich wenig Glück. Es regnete immer wieder in Strömen und die Majestät der Berge war ständig von dichten Wolken bedeckt. Nur einmal sah ich den Everest aus den Wolken auftauchen. Gebannt blickte ich auf den Horizont. Wie weit er noch entfernt lag!
Es blieb eine Einzelkämpfererfahrung. Das hatte ich mir schließlich auch so ausgesucht; allerdings hatte ich gehofft, unterwegs auf Gleichgesinnte zu treffen. Ich war in letzter Zeit schon reichlich mit mir selbst und meinen Gedanken konfrontiert gewesen. In der Stille dieser abgeschiedenen Region wurden die Gefühle und Gedanken intensiver. Die Empfindsamkeit auf manchen Teilstrecken war überwältigend. Selten habe ich mich so verletzlich gefühlt. Diese Empfindsamkeit bot mir aber auch Glücksmomente. Alle Sinne waren hellwach. Besonders schön waren die Momente, wenn im Augenblick grenzenloser Erschöpfung der ewige Gedankenstrom versiegte und alle Konzentration der Gegenwart galt: den umgebenden Geräuschen, dem eigenen Herzschlag, dem vorbeiziehenden Vogel, den Bergen um mich herum, dem Pfad vor meinen Augen – das war alles, was zählte.
Auch emotional erreichte ich mein Limit. Oft dachte ich an meinen Opa, der meine Faszination für die weite Welt wesentlich geweckt hatte. Er würde für mich immer ein Vorbild bleiben. Gerade auf Reisen fühle ich mich ihm manchmal sehr nah. Er hatte selbst viele Reisen unternommen und hätte sich vielleicht in ähnliche Abenteuer gestürzt, wenn sein Leben durch den zweiten Weltkrieg nicht früh weitreichende Entscheidungen erfordert hätte. Ob ich wohl auf seinen Spuren wandelte, und ob er stolz auf mich wäre, wenn er mich sehen konnte? Das wünschte ich mir so sehr. Es gab so viele Dinge, über die ich so gerne noch mit ihm gesprochen hätte.
Ich dachte auch häufig darüber nach, wie einfach das Leben im Grunde doch war und wie kompliziert wir es uns machten. Gerade ich. Dabei gab es doch eigentlich nur eine Handvoll wirklicher Bedürfnisse. Das unterstrichen meine Erfahrungen beim Reisen immer wieder. Aber es gab so viele Irrwege, die vom wahren Glück abhalten konnten. Ich trage eine unstillbare Sehnsucht nach Liebe in mir, die ihr Ziel selten gefunden hat. Vielleicht laufe ich noch immer davon. Es betrübt mich, dass ich unfähig bin, längerdauernde Zufriedenheit in meinem Leben zu erreichen.
Vor einem Gasthaus traf ich am siebten Tag einen anderen einsamen Wanderer, Johannes. Das sollte noch einmal alles auf den Kopf stellen. Wir hatten auf Anhieb dieselbe Wellenlänge. Beide hatten wir seit Tagen kaum ausführliche Gespräche geführt und schnatterten bald wie die Weltmeister. Auch wenn den Nepali die deutsche Analogie ihres Ortsnamens Shurke sicher nicht geläufig ist, so nutzten wir den Anlass, um ein kleines Trinkgelage zu veranstalten und den hiesigen Alkohol zu testen. Rakshi heißt das Höllenzeug und befindet sich je nach Intention des Schwarzbrenners irgendwo zwischen Reiswein und ‑schnaps. Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend. Johannes befand sich am Anfang einer großen Reise. Er war in einem Selbstversorgerhof in der Steiermark aufgewachsen und war voller Energie und Abenteuerlust. Er besaß ein feines Gespür für andere und kam gerade mit den Einheimischen leicht in Kontakt. Es war sehr interessant, unsere Erfahrungen aus Nepal zu vergleichen. Nach Indien würde er erst noch reisen, doch er war vor Jahren in Sri Lanka gewesen. So konnten wir uns gut in die Geschichten des anderen hineinversetzen. Gewisse Erfahrungen verbinden ungemein. Schnell schien es, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. Unser Humor bewegte sich zwischen Lakonie, Schmäh und Abgrund. Irgendwann fanden wir uns im Gastraum des Gasthauses wieder und tranken gemeinsam mit der hiesigen Dorfjugend. Alle im Haus feierten, es war der 1. Mai – der Tag der internationalen Arbeiterbewegung.
Wir wussten nichts davon, dass zur gleichen Zeit 150 000 Menschen in Kathmandu einem Aufruf der maoistischen Partei gefolgt waren und eine Großdemonstration abhielten. Der folgende Generalstreik legte das Land zwei Wochen lang weitgehend lahm.
Unbeschwert von diesen Ereignissen, befanden wir uns in den Bergen und waren ausschließlich von völlig betrunkenen Menschen umgeben – uns eingeschlossen. Wir kamen in den Genuss, Chang, das warme, tibetische Bier, probieren zu dürfen. Schließlich wurde uns noch ein halb vergorener Rakshi kredenzt, den unsere Mägen mit einem feindlich klingenden Gluckern quittierten. Der Hausherr schätzte mich auf 50 Jahre. Seine grobe Fehleinschätzung von über 20 Jahren erklärte er mit der Differenz zwischen meinem dichten Bart und den kümmerlichen Härchen, die sein Gesicht zierten und die er sich – wie er mir eindringlich versicherte – mit großer Mühe hatte sprießen lassen. Außerdem hätte ich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem zahnlosen alten Mann neben mir. Zu seiner Ehrenrettung muss ich gestehen, dass ich den Hausherren auf 40 geschätzt hätte, obwohl er gerade 25 Jahre alt war. Gelebte Völkerverständigung. Die Nacht von Shurke würde in Erinnerung bleiben.
Eigentlich hatte Johannes geplant, sehr früh am nächsten Tag aufzubrechen, und so hätten wir uns gleich wieder getrennt. Aber der Rakshi tat seine Wirkung. Am späten Morgen nach unserem feuchtfröhlichen Kennenlernen stapften Johannes und ich mit schweren Köpfen auf den zweiten Teil unserer Wanderung. Die Schmerzen in meinem Knie hatten kaum nachgelassen, doch die Begleitung gab mir einen erheblichen Motivationsschub. Wir wählten eine Route, die an Lukla vorbeiführte, und betraten kurz danach die gut ausgebaute Hauptroute zum Everest Base Camp. Wir waren geschockt. Erst angesichts des Kontrasts konnten wir richtig erfassen, welchen Genuss uns die Stille auf dem bisherigen Weg geboten und wie wenig die seltene Begegnung mit anderen Wanderern einen Verlust bedeutet hatte.
Wir hatten uns ganz auf unsere Sinne und unser Inneres konzentrieren können. Nie hatte ich die Naturelemente so unmittelbar erlebt; das hatte einen intensiven Widerhall in meiner Gedanken- und Gefühlswelt.
Antworten
Hallo Oleander!
Ganz spannend dein Bericht. Wie in unserem Blog https://world.wide.photos/nepal-everest-base-camp-trek/ zu lesen, haben wir letztes Jahr im Mai den Everest Basecamp Trek von Lukla aus gemacht Da ich ebenfalls Knieprobleme habe, kann ich deinen Bericht gut nachvollziehen! Die ganzen Anstrengungen sind es aber am Ende Wert!
LG RainerHallo Rainer! Es hat sich eindeutig gelohnt, durchzuhalten und diese magische Welt erleben zu dürfen! Liebe Grüße!
…um pokhara gibt es,so glaube ich wunderbare wanderungen,der ort ist sehr schön,ich war 1992 das letzte mal vor ort…das ganze land ist halt ein traum…
Ich bin so neidisch… habe beide Berichte gelesen… definitiv auch noch ein Land welches ich bewandern will.. irgendwann in den nächsten Jahren!
Das war wirklich ein ganz besonderes Erlebnis! Neben den vielbegangenen Routen zum Everest und rund um den Annnapurna gibt es noch viele andere Routen zu entdecken. Viel Erfolg beim verwirklichen dieses Traums!
…ist es denn die richtige reisezeit für nepal?…wie auch immer noch viel freude und gutes gelingen.…
Auch hier nochmal zur Reisezeit: ich war im Mai unterwegs. Die besten Bedingungen finden sich im März/April und Oktober/November.
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