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Der Junge, der vom Schrei­ben träumte

Ich kam nach Mel­illa, um den Ort zu sehen, wo Träume und Men­schen ster­ben. Aber dann traf ich Timo­thy, der alles besitzt, was fie­bern­des Leben aus­macht. Von dem ich lernte, was es bedeu­tet, zäh zu sein, durs­tig und vol­ler Hoff­nung. Und dass Träume strah­len wollen.

Die spa­nisch-marok­ka­ni­sche Grenze von Mel­illa. Fast immer End­sta­tion. Für Träume – wenn es gut läuft. Das Leben, wenn nicht. Was einem zuerst auf­fällt an die­sem Ort ist die Kälte. Ich fühlte, wie mein Kör­per schrumpfte und das Schlu­cken im Hals, ein­ge­engt. Es stimmte: Afrika beginnt dort, wo der weiße Mensch sei­nen Rücken streckt. Eine kilo­me­ter­weite Schneise, ein sechs Meter hoher Zaun und Sta­chel­draht ste­chen die ber­gige Küs­ten-Kulisse aus. Afri­ka­ner lau­fen durch die Stra­ßen der Stadt, machen ihre Geschäfte und spie­len sorg­los Fuß­ball, unten am Strand. Ich bin in Afrika ange­kom­men und irgend­wie auch nicht. Der Zaun ist es, der trennt Afrika vom Rest der Welt: Nicht will­kom­men, brüllt Europa von hier aus. Wer die Spra­che nicht ver­steht, ris­kiert das Leben.

Im Taxi über­legte ich, warum wir an eine Grenze rei­sen. Was mir ein­fiel war, dass wir uns dort­hin auf­ma­chen, um an einen Ort zu gelan­gen an dem wir leben wol­len. Und dann musste ich daran den­ken, was Philip Lar­kin sagte: Dass Tage die Orte sind, wo wir leben. Dass uns Tage wie­der und wie­der auf­we­cken, damit wir glück­lich in ihnen sind. Was brau­chen wir also mehr als Tage?

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An der Grenze. Nicht weit vom Über­gang ent­fernt, das Auf­fang­la­ger für die, die es her­über schaff­ten. Die noch hof­fen kön­nen und träu­men. Die “Sur­vi­vor”, wie Timo­thy sie nennt. Timo­thy ist ein­und­zwan­zig und kommt aus dem Chad. Was den Jun­gen auf den ers­ten Blick von den ande­ren unter­schied, war das viele Weiss in sei­nen gro­ßen, wachen Augen und dass sie mich sofort anstrahl­ten als ich ihn sah. Der Kör­per durch­trai­niert, die Hal­tung fel­sen­fest, schien er jeder­zeit wie­der in den Ring des Über­le­bens stei­gen zu kön­nen. Ein “Sur­vi­vor” eben. Timo­thy hat das Unver­meid­bare über­lis­tet, einen Aus­weg gefun­den: Er klet­terte über den Zaun. Wie es ihn stählt. Eiser­ner Vor­rat für alle wei­te­ren Tage.

Neben Timo­thy steht ein Junge. Der weiße Teddy in sei­nem Arm blen­det mich in der Mit­tags­sonne und ich muss die Augen zusam­men­knei­fen, was mich erschöpft. Timo­thys Freund ist im glei­chen Alter und trägt einen wei­ßen Rosen­kranz aus Plas­tik um den Hals. Er schielt an mir vor­bei, hat Tat­toos an bei­den Armen und zeigt mir seine Wund­male an Hän­den und Bei­nen. Ein drit­ter Junge steht bei uns, der rechte Arm in Gips gehüllt. Beim Sprung her­un­ter vom ers­ten der drei Zäune ist er dar­auf gefal­len. Das sind die Schram­men, die ich sehen kann. Die Jungs sind gemein­sam aus dem Chad gekom­men. Zu Fuss. Vor Jah­ren haben sie ihre Hei­mat auf­ge­ge­ben, sind von dort los­ge­zo­gen. Vor vier Tagen dann schli­chen sie von den Ber­gen aus zum Zaun, haben ihn gestürmt. Ein Arm brach dabei. Nicht ihr Wille.

Ich bli­cke auf die gegen­über­lie­gende Stra­ßen­seite. Zwi­schen dem Grenz­zaun und dem Lager ist ein Golf­platz. Rie­sige Netze sind gespannt, damit sich kein Golf­ball ver­irrt. Und kein Afri­ka­ner. Es ist heiß, die Sonne direkt über uns, quiet­schen­des Gummi auf dem Asphalt. Ein wei­ßer BMW Z4 rollt an uns vor­bei. Wie der Schlit­ten eines Reiß­ver­schlus­ses schnei­det das Fahr­zeug die bei­den Stra­ßen­sei­ten aus­ein­an­der, so tief wie einen Canyon.

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Die Augen, die mich anschlie­ßend anbli­cken, sind getränkt. Es ist eine trübe Lauge aus Erwar­tung, Hoff­nung und Träu­men. Die Jungs haben weder Pass noch Geld, kön­nen nicht ein­mal in der Hei­mat anru­fen, berich­ten, dass es sie noch gibt. Für die meis­ten der 2.000 Afri­ka­ner in die­sem Lager – das ein­mal Platz für 800 bie­ten sollte – geht es ums Über­le­ben. Für Timo­thy um etwas mehr.

Timo­thy erzählt, dass ihn der Traum triebe ruhig und fried­lich zu leben, Musik zu spie­len und Bücher zu schrei­ben. Und plötz­lich ver­än­derte sich seine Stimme und Glanz trat in seine Augen. Manch­mal, meint er, könne er nachts nicht schla­fen. Dann krie­chen die schat­ti­gen Tage sei­ner Flucht durch ihn hin­durch und er muss schrei­ben. “Ich kann nicht auf­ge­ben, dann würde alles ster­ben. Ich habe so viele Tage und Nächte auf das Leben gewar­tet”, sagt Timothy.

Aber auch die idio­ti­sche Scham vor der Fami­lie, es nicht geschafft zu haben, treibt ihn. Und die Museen von Paris – in denen will er stun­den­lang sit­zen und schrei­ben. Es war die unfass­bare Zähig­keit, die mich jetzt quälte, mit der die­ser Junge uner­schro­cken an sei­nen Plan glaubte, auch ein Leben besit­zen zu kön­nen, über das er frei bestimmt. Gott – oder wem auch immer – sei Dank, einer, der kapiert, wofür Träume erfun­den wur­den, einer, der Leben anhäu­fen will und kei­nen Kies.

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Die qual­volle Frage an die­sem Zaun ist nicht, ob Timo­thy es auf das Fest­land schafft. Viel­mehr beläs­tigt einen: Wohin mit einer afri­ka­ni­schen Lawine von Lust, Krea­ti­vi­tät und Spon­ta­ni­tät. Wohin mit ihrem Talent, mit ihrem Wil­len, wohin mit den Mil­lio­nen war­ten­den Men­schen? Wel­chen Platz will die Welt an diese Mit­in­ha­ber ver­ge­ben? Allein in den Ber­gen vor Mel­illa sind es tau­sende, die end­lich einen fin­den wollen.

Timo­thy sieht mich an und stellt mir unge­fähr hun­dert Fra­gen, weil er einer ist, der wis­sen will. Dann fragt er nach etwas, auf das ich nicht zu ant­wor­ten weiß. Wie Deutsch­land denn sei, will Timo­thy von mir wis­sen. “Can I come?”, fragt er mich. Ich sage nichts. Ich bewege mich auch nicht, denke nicht, atme nur. Ich atme jetzt tief, weil mir bei den drei Wor­ten die Luft für ein paar Augen­bli­cke weg­blieb. Wegen der Hitze. Und weil mir mein euro­päi­sches Leben plötz­lich lächer­lich erschien. Dann musste ich noch daran den­ken, wie eine Ant­wort auf Tims Frage in die­sem Moment einen Traum, ja, alle Hoff­nung zer­stö­ren würde. Was gäbe es jetzt zu sagen? Allein in sei­nem Traum, der an die­sem Tag fieb­ri­ger in sei­nen Augen strahlte als jede Ein­reise nach Europa, liegt alle Hoffnung.

Cate­go­riesMarokko Spa­nien
Markus Steiner

Es war 2011, als Markus das letzte Mal das dumpfe Klacken der Bürotür hinter sich hörte. Und beschloss Neues zu entdecken. Seitdem ist er in der Welt zu Hause. Markus schrieb 393 Reisetage auf, was er erinnerte und wie, um vom Leben zu erzählen. In seinem Blog vereint er seitdem seine Leidenschaften: Reisen und Schreiben. Markus erzählt Geschichten von unterwegs. Von den Menschen, der Schönheit der Welt und wie es sich anfühlt, in ihr zu reisen und mit ihr zu leben. Schöne Welt.

  1. Dr. Bernd Hofmann says:

    Mar­kus,
    ich habe dei­nen Namen in einem umfang­rei­chen Arti­kel über Wel­ten­bumm­ler ent­deckt. Das war im „FOCUS“, S.102/103. Es ist in der Tat so, Rei­sen bil­det, Rei­sen erwei­tert den per­sön­li­chen Hori­zont und macht süch­tig auf die Welt da drau­ßen. Ist es tat­säch­lich eine Flucht.…,wie du meinst? Gerade habe ich deine Repor­tage über THIMOTHY gele­sen. Was wird aus ihm gewor­den sein?
    Mir gefällt an dei­nen Arti­keln der phi­lo­so­phi­sche Tief­gang. Ich bin begeistert!
    Dr. Bernd Hofmann

    1. markus says:

      bernd, dan­ke­s­ehr für deine worte, das lesen des focus-arti­kels und der geschich­ten hier bei den rei­se­de­pe­schen. umso schö­ner zu hören, dass es bewegt.

      möchte man wis­sen, wie es timo­thy geht, ob er den lou­vre bestaunt hat.

      flucht ist das rei­sen, ja, na klar.
      weil dort drau­ßen die köst­li­che ver­schwö­rung tobt, von all dem, was ich nicht kenne.
      weil dort drau­ßen rei­sen und leben inein­an­der­flie­ßen wie tonic und gin.
      weil ich flie­hen kann – vor einer trü­ben brühe und sie tau­schen kann, gegen den fun­keln­den ozean abenteuer.

      bon voyage!

  2. Petra says:

    Lie­ber Markus,
    du hast ein ganz beson­de­res Talent. Du kannst Ein­drü­cke so zau­ber­haft, berüh­rend und leben­dig wie­der­ge­ben, wie ich es zuvor noch nie gele­sen habe. Ich würde ganze dicke Bücher in einem Zug davon ver­schlin­gen. Ganz beson­ders danke ich dir für dei­nen per­sön­li­chen „Ein­satz“ vor Ort. Es gibt viele Berichte aus aller Welt. Deine sind aber etwas sehr, sehr wert­vol­les. Der Leser reist mit. Du malst mit dei­nen Zei­len Bil­der der Wirk­lich­keit, die es wert sind in der Welt gezeigt zu wer­den. Es ver­bin­det die Men­schen und schafft mehr Ver­ständ­nis für­ein­an­der. Afrika ist für mich per­sön­lich gerade so aktu­ell, weil ich einen jun­gen Mann in Gam­bia unter­stütze mit einem gemein­sa­men Buch und einem Hilfs­pro­jekt. Afrika ist wirk­lich so anders. Und du hast Recht, wenn du fragst was wir mit den vie­len Talen­ten dort machen, indem wir sie an der Grenze zurück las­sen in der Hoff­nungs­lo­sig­keit. Das beschämt zu tiefst. Mach wei­ter so… ich bleib dran :) Herz­lichst Petra

    1. markus says:

      danke, liebe petra, fuer deine aus­ser­ge­woehn­li­chen zei­len. ja, bitte bleib dran, in afrika und auch hier bei uns. das wuerde mich freuen. sobald das buch da ist, melde ich mich. bis dahin, herz­li­che gruesse – markus

  3. Kathrin says:

    Lie­ber Mar­kus, wir haben zusam­men Abitur gemacht, ken­nen uns aber nicht wirk­lich, denn wenn wir ein­an­der ken­nen wür­den hätte ich damals sicher­lich viele inter­es­sante Gesprä­che mit dir füh­ren kön­nen. Ich bin durch Zufall auf deine Geschich­ten getrof­fen und bin wahr­lich begeis­tert. Du schreibst wun­der­voll und aus vol­lem Her­zen und man bekommt das Gefühl dane­ben zu ste­hen. Danke für deine Gedan­ken und für dei­nen Mut aus zu stei­gen und durch die Welt zu gehen, um über sie und den öffent­lich „nicht ganz so wich­ti­gen“ Men­schen zu berich­ten, denn das ist es was eigent­lich zäh­len sollte! Mach wei­ter so !
    Liebe Grüße
    Kathrin

    1. markus says:

      liebe kath­rin, danke herz­lich für deine worte. wie schön, dass dir die geschich­ten gefal­len. more to come, versprochen.

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