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Weil Kushwant Singh den libe­ra­len Geist Indi­ens verkörperte

Kushwant Singh gehört für mich zu den beson­ders inter­es­san­ten indi­schen Per­sön­lich­kei­ten des 20. Jahr­hun­derts. Beson­ders beein­dru­ckend waren dabei seine Inte­gri­tät und seine Uner­schro­cken­heit, seine stark pola­ri­sie­ren­den Mei­nun­gen zu ver­tre­ten, selbst wenn diese unpo­pu­lär waren und ihm ein­fluss­rei­che Feinde ein­brach­ten. Kushwant Singh war ein Libe­ra­ler im bes­ten Sinne, der sich nie von Poli­tik oder Reli­gion ver­ein­nah­men ließ.

Singh wurde 1915 im heute paki­sta­ni­schen Teil des Pun­jabs in eine wohl­ha­bende Sikh-Fami­lie gebo­ren. Das ermög­lichte ihm das Jura­stu­dium in Lahore und spä­ter auch in Cam­bridge und Lon­don. Im Anschluss war er acht Jahre lang als Anwalt in Lahore tätig. Danach nahm er einen Pos­ten im indi­schen Außen­mi­nis­te­rium an, der ihn jedoch nie erfüllte und ihn so sehr ent­täuschte, dass er sich vom Jura ab- und dem Jour­na­lis­mus zuwandte. Er machte sich schnell einen Namen und stieg schließ­lich zum Her­aus­ge­ber von gleich drei Magazinen/​Zeitungen auf: der zur Times of India gehö­ren­den Illus­tra­ted Weekly of India, des The Natio­nal Herald und der Hin­du­stan Times.

Zu sei­nem Mar­ken­zei­chen wur­den jedoch seine scharf­zün­gi­gen Essays und Kolum­nen. Zeit­weise schrieb er wöchent­lich drei Kolum­nen. Für ihn waren Tabus da, um sie zu bre­chen, er pro­vo­zierte jedoch nicht um der Pro­vo­ka­tion wil­len, son­dern um den Fin­ger in die offe­nen Wun­den der indi­schen Gesell­schaft zu legen. Vor allem Schein­hei­lig­keit, über­trie­bene Fröm­mig­keit und Heu­che­lei waren ihm zeit sei­nes Lebens ein Dorn im Auge. Für Eng­stir­nig­keit hatte er nur Spott übrig.

Er war ein viel­schich­ti­ger und bis­wei­len wider­sprüch­li­cher Cha­rak­ter, ein Mul­ti­ta­lent, das sowohl Kurz­ge­schich­ten, Spon­tan­prosa, Essays, Erzäh­lun­gen, Romane und Witz-Bücher ver­öf­fent­lichte. Kushwant Singh war ein beses­se­ner Work­aho­lic, der über 80 Bücher verfasste.

Sein bekann­tes­tes Werk erschien bereits 1954. In Train to Paki­stan beschrieb er die bru­tale Ver­trei­bung und die Pogrome, die auf die »Tei­lung« in Indien und Paki­stan folg­ten. Ein groß­ar­ti­ges Buch, das die Grau­sam­kei­ten glaub­haft schildert.

1963 ver­fasste er in zwei Bän­den die History of the Sikhs. 1974 wurde ihm der Lite­ra­tur­preis Padma Bus­han ver­lie­hen. 1984 gab er ihn jedoch aus Pro­test gegen die Mili­tär­ak­tion »Blue Star« zurück, wäh­rend der der Gol­dene Tem­pel in Amrit­sar blu­tig gestürmt wurde, nach­dem Sikh-Natio­na­lis­ten ihn besetzt hat­ten. Von 1980 bis 1986 war er Mit­glied des Ober­hau­ses im Par­la­ment. 1989 schrieb er Delhi – die Stadt sollte ihm bis zu sei­nem Tod Hei­mat bleiben.

Er war ein küh­ner, streit­ba­rer und unan­ge­pass­ter Mann, der per­fekt mit Humor, Iro­nie und Sar­kas­mus zu spie­len wusste, gleich­zei­tig anrü­chig wie zärt­lich, mes­ser­scharf in sei­nen Ana­ly­sen und kaum eitel. Der Per­so­nen­kult, der ihn umwehte, war ihm eher pein­lich. Er liebte die sub­ver­sive Pro­vo­ka­tion und hasste Denk­ver­bote. Das zeigte sich noch ein­mal deut­lich in sei­nem 2003 erschie­ne­nen Buch The End of India, in dem er die Hindu-Fana­ti­ker offen und scharf kritisierte.

Viele nah­men ihm auch übel, wie offen er über Sexua­li­tät schrieb. Zwar kann man seine Texte im Ver­gleich höchs­tens als »Soft­porno« beschrei­ben, doch das reicht bis heute, um die in Prü­de­rie erstarr­ten Inder zu scho­ckie­ren. Trotz­dem ist bei­spiels­weise ein Charles Bukow­ski mit sei­ner »Gos­sen-Lite­ra­tur« ein völ­lig ande­res Kali­ber. Sehr angreif­bar für seine Kri­ti­ker war Singh auch, weil er sich offen als Agnos­ti­ker oder Athe­ist bezeichnete.

2013 ver­öf­fent­lichte er mit sei­nem Buch The Good, the Bad and the Ridi­cu­lous eine scharfe Kri­tik an Reli­gi­ons­pra­xis, Pries­tern und der Leicht­gläu­big­keit der neuen indi­schen Mit­tel­schicht und ihrer Bereit­schaft, sich unre­flek­tiert dem Hindu-Natio­na­lis­mus hin­zu­ge­ben. Groß­ar­tig ist auch sein Buch Abso­lute Kushwant – Bet­ween Life and Death, in dem der Groß­meis­ter der Kolumne wenige Jahre vor sei­nem Tod noch ein­mal unge­schminkt und vol­ler Schalk und ohne Ver­bit­te­rung auf sein beweg­tes Leben zurückblickt.

Kushwant Singh wurde 99 Jahre alt und bleibt für mich eine wich­tige Stimme eines libe­ra­len, welt­of­fe­nen Indi­ens, das sich keine Tabus auf­zwin­gen lässt und Reli­gion als Pri­vat­sa­che und nicht als Poli­ti­kum ver­steht. Man­che sagen, er habe sich gegen Ende sei­nes Lebens noch ein­mal stär­ker dem Glau­ben zuge­wandt. Natür­lich immer mit dem ihm ganz eige­nen Humor und sei­ner Leich­tig­keit. Wie er selbst schrieb: »Thank the Lord he is dead, this son of a gun.«

Eine Per­sön­lich­keit wie Kushwant Singh fehlt Indien sehr! Ich hoffe, dass in sei­nen Fuß­stap­fen neue Lite­ra­ten den Mut fas­sen zu schrei­ben, was sie bewegt, und sich dabei nicht von Hard­li­nern in ihrer Mei­nungs­frei­heit ein­schrän­ken zu lassen.

 

In mei­nem Buch stelle ich noch wei­tere indi­sche Per­sön­lich­kei­ten vor. Hier eine Auswahl:

 

  • Weil Rabin­dra­nath Tagore die indi­sche Seele aus­drü­cken konnte
  • Weil Mahatma Gan­dhi den fried­li­chen Wider­stand entfachte
  • Weil Ashoka sich vom grau­sa­men Feld­herrn zum fried­li­chen König wandelte
  • Weil Sal­man Rush­die die „Mit­ter­nachts­kin­der“ erschuf
  • Weil Van­dana Shiva für die Rechte der Bau­ern und gegen die Saat­gut­kon­zerne kämpft
  • Weil sich Arund­hati Roy für die Rechte von Min­der­hei­ten einsetzt
  • Weil Jiddu Krish­na­murti sich nicht zum „Wel­ten­leh­rer“ ver­klä­ren ließ

 

„111 Gründe, Indien zu lie­ben“ ist erschie­nen im Schwarz­kopf & Schwarz­kopf Ver­lag in Ber­lin und umfasst 336 Sei­ten. Pre­mium-Paper­back mit zwei far­bi­gen Bildteilen

Bereits zuvor auf den Rei­se­de­pe­schen erschienen:

 

Cate­go­riesIndien

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