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Enger Blick, weiter Horizont

Ein­kaufs­stra­ßen? Ziga­ret­ten­stan­gen hor­tende Spa­nier? Voll­ge­stopfte Stra­ßen? Sehe ich erst mal alles gar nicht, als ich in Andorra ankomme. Statt­des­sen – Berge, in jede Rich­tung. Tie­fes Grün, durch­bro­chen von ein paar Fel­sen und weiß getünch­ten Spit­zen. Der Blick ist eng, die Schat­ten lang, man fühlt sich direkt gebor­gen. Aus dem Hotel­fens­ter schaut man auf dun­kel­grü­nen Wald, ein Baum neben dem ande­ren, end­los, und schläft ein mit Fluss­rau­schen im Ohr.

Ein Gefühl wie mit­ten im Nir­gendwo, abge­schot­tet von der Außen­welt. Wie soll es auch voll wir­ken, wenn die größte Stadt des Lan­des 22.000 Ein­woh­ner hat und damit mehr als ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung umfasst? Dafür kom­men auf unter 80.000 Ein­woh­ner 65 Gip­fel über 2.000 Meter. Der nied­rigste Punkt im Land liegt mehr als dop­pelt so hoch wie der höchste Punkt der Niederlande.

Wandern in Andorra

Klingt nach einem rich­ti­gen Wan­der­pa­ra­dies, und man muss die Men­schen hier wirk­lich darum benei­den, wie schnell sie in den Ber­gen sind. Nach Aus­sichts­punk­ten und Pan­ora­ma­rou­ten muss man sich hier nicht rich­ten, die lie­gen ganz von alleine auf dem Weg. Auf unse­rer Wan­de­rung durch das Tal von Madriu-Pera­fita-Claror haben wir erst ein­mal den Blick über die Haupt­stadt Andorra La Vella – und auf das Kunst­werk „Sóm“ von Marc Sel­larès, das für das „Land Art“-Festival mit Stoff­bah­nen auf einen Hang gespannt wurde und die Flücht­linge wür­digt, die im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert in Andorra Zuflucht gefun­den haben. Zum zwei­ten Mal wer­den die­sen Som­mer in Andorra Kunst und Natur mit­ein­an­der ver­bun­den, 50 Werke wer­den bis zum 28. Juli aus­ge­stellt. Ich find’s groß­ar­tig – in wel­chem Land sollte das auch bes­ser gehen, als in Andorra, wo die Berg­hänge die span­nends­ten Lein­wände darstellen?

Schnell sind wir mit­ten in der Natur, fol­gen dem Wan­der­weg durch den Wald berg­auf, bevor wir abstei­gen in Rich­tung eini­ger klei­ner Hüt­ten, die frü­her von Schä­fern benutzt wur­den. Inzwi­schen restau­riert, kön­nen sie nicht nur ange­se­hen wer­den, son­dern ste­hen teils auch als Schutz­hüt­ten für Über­nach­tun­gen zur Ver­fü­gung. Über­all auf den Wie­sen im Tal summt und blüht es, Schmet­ter­linge flat­tern um uns herum, neben uns fließt ein Bach ent­lang – Ber­gi­dylle, wie sie im Buche steht.

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Hoch zu Ross

Ber­gi­dylle gibt’s übri­gens auch zu Pferd – ich sitze zum ers­ten Mal seit der Kind­heit auf so einem Tier und fühle mich damit eher bedingt wohl. Groß sind die Tiere, und ver­fres­sen. Irgend­wann gebe ich auf mit dem Zügel-Zie­hen und lasse mein Pferd die Berg­wie­sen genie­ßen, sonst fühle ich mich ein­fach zu gemein. Als mein Sat­tel ver­rutscht, hänge ich end­gül­tig wie ein Schluck Was­ser in der Kurve auf dem Pfer­de­rü­cken, und rechne damit, beim Abstieg jeden Moment lang­sam, aber sicher nach unten zu rut­schen. Doch die Tiere sind ver­mut­lich tritt­si­che­rer als ich, und abso­lut tie­fen­ent­spannt, egal, wer oder was da auf ihnen hängt.

Hat man sich erst ein­mal an das Geschau­kel gewöhnt, kann man es sogar ganz beru­hi­gend fin­den, merke ich. Und beein­dru­ckend, wie viel Stärke, wie viel Kraft da unter einem läuft. Lang­sam und ste­tig geht es voran, eigent­lich könnte ich die Zügel sogar los­las­sen, so brav gehorcht das Pferd, wäh­rend es sei­nen Art­ge­nos­sen hin­ter­her­trot­tet und nur ab und an vom Weges­rand nascht. Trotz­dem – ich bin froh, als ich wie­der auf mei­nen Füßen stehe.

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Mit dem Helikopter über ganz Andorra

Höher hin­aus geht es mit dem Hub­schrau­ber – in Andorra ein beson­de­res Erleb­nis. Denn in etwa fünf­zehn Minu­ten sieht man das ganze Land, inklu­sive der Gren­zen zu Frank­reich und Spa­nien. Wir heben ab und flie­gen in Rich­tung Comape­drosa, des höchs­ten Gip­fels im Land. Ich warte auf die Kurve und bin im ers­ten Moment scho­ckiert, als wir gefühlt nur noch einen Stein­wurf Abstand zur Fels­wand haben. Der Pilot zieht nach oben, schwingt über den schnee­be­deck­ten Gip­fel, und dann bleibt mir der Mund offen ste­hen: Unter uns fällt die Kante steil ab, wir flie­gen dar­über und vor uns eröff­net sich mit einem Mal ein Pan­orama über die Pyre­näen, das sei­nes­glei­chen sucht.

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Wir müs­sen einen lang­sa­men Schwenk machen, um in Andorra zu blei­ben, und flie­gen jetzt die Städte des Lan­des ab. Kommt einem die Haupt­stadt nur von hier oben so klein vor? Ich klebe begeis­tert am Fens­ter und könnte noch stun­den­lang so wei­ter­flie­gen. Doch dafür müsste man in Andorra einen Kreis nach dem ande­ren zie­hen, bei einer Flä­che nur knapp grö­ßer als das kleinste deut­sche Bundesland.

Andorras ungewöhnliche Entwicklung

Kleine Län­der wie Andorra üben auf mich eine gewisse Fas­zi­na­tion aus. Wie mag es sein, hier zu leben? Kennt hier jeder jeden, hat man das irgend­wann satt? Bil­det man eine ein­ge­schwo­rene Gemein­schaft oder öff­net man sich, so gut es geht, nach außen, um ein­fach mal andere Gesich­ter zu sehen, andere Geschich­ten zu hören?

Nach und nach ver­stehe ich: Andorra ist ein Son­der­fall – und steht gleich­zei­tig wie ein per­fek­tes Bei­spiel für eine welt­of­fene Ent­wick­lung moder­ner Staa­ten. Ein eige­nes Land zu sein, eine eigene Kul­tur zu behal­ten, und der gan­zen Welt offen zu ste­hen, das ist hier abso­lut kein Widerspruch.

Noch 1950 war es tat­säch­lich leer im Fürs­ten­tum: Gerade ein­mal um die 5.000 Men­schen leb­ten damals in Andorra. Kein Wun­der, schließ­lich war das Land auf­grund der Höhen­lage kaum frucht­bar. Stra­ßen nach Spa­nien und Frank­reich waren erst Anfang des 20. Jahr­hun­derts instal­liert wor­den. In den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren explo­dierte dann die Bevöl­ke­rungs­zahl – Ein­wan­de­rer aus Spa­nien, Por­tu­gal und Frank­reich füll­ten nicht nur die lee­ren Täler und Hänge, son­dern präg­ten auch die Kultur.

Heute sind die Andor­ra­ner so etwas wie eine Min­der­heit im eige­nen Land: Zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung besit­zen kei­nen andor­ra­ni­schen Pass, und selbst vom rest­li­chen Drit­tel ist nur ein Teil auch fami­li­en­ge­schicht­lich aus Andorra. Trotz­dem darf man einen Feh­ler auf kei­nen Fall bege­hen – das Land ist eben nicht Teil von Kata­lo­nien, und die Frage, ob sich die Andor­ra­ner mehr als Fran­zo­sen oder mehr als Spa­nier sehen, stößt auf Unver­ständ­nis. Als Andor­ra­ner eben.

Hier kann man Ruhe finden

Einer der zwei Drit­tel Aus­wärts-Andor­ra­ner ist auch Dimi­tri, der uns eine Yoga­stunde auf einer Wiese ober­halb des Städt­chens Ordino gibt. Eigent­lich war vor­her eine Wan­de­rung ange­dacht, mit Yoga­matte auf dem Rücken, hin zu einem Platz, der uns gefällt und an dem wir Lust haben, uns mit Ker­zen und her­ab­schau­en­den Hun­den zu erden. Doch das Wet­ter hat uns einen Strich durch die Rech­nung gemacht – in den Ber­gen kann man eben lei­der nie wis­sen. An der geplan­ten Stelle liegt noch Schnee, über der Alter­na­tive reg­net es. Doch auch auf der Berg­wiese über dem Ort kann man gut zu Ruhe kom­men. In der Ferne grollt der Don­ner, es hat merk­lich abge­kühlt, doch Bie­nen und Schmet­ter­linge flat­tern unbe­ein­druckt von Blüte zu Blüte, wäh­rend wir auf den Mat­ten unsere Figu­ren trai­nie­ren und so lange wie mög­lich ein- und ausatmen.

Dimi­tri erzählt, dass Yoga für ihn nie ein rich­ti­ger Sport war – bis er nach Andorra gekom­men ist. Yoga und Andorra, wie hängt das zusam­men? „Hm, in Indien gibt es Berge, hier gibt es Berge?!“ In den Pyre­näen ist die Luft bes­ser als woan­ders, und in Andorra ist es leicht, sei­nen Frie­den zu fin­den. Wer wirk­lich Yoga trai­nie­ren möchte, der braucht so wenig Ablen­kun­gen wie mög­lich, und da ist man in Andorra an einer guten Adresse. Seine Matte auf die Berg­wie­sen Andor­ras mit­zu­neh­men, ist viel­leicht nicht ganz das Glei­che, wie aske­tisch in Höh­len zu prak­ti­zie­ren – aber dafür um eini­ges gemütlicher.

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Auch, wenn Andorra mitt­ler­weile ein welt­of­fe­nes Land ist: Die Berge, die sich in jede Him­mels­rich­tung erstre­cken, geben einem das Gefühl eines Schutz­walls vor dem Rest der Erde. Wer den Küs­ten­blick gewohnt ist, mag das ein­engend fin­den, ich fühle mich gebor­gen. Pas­sen­der­weise lese ich, als ich wie­der zu Hause bin, dass Andorra eines der sichers­ten Län­der der Welt ist. Die 12 Sol­da­ten des andor­ra­ni­schen Mili­tärs mar­schie­ren nur bei Zere­mo­nien auf, um die Lan­des­flagge zu prä­sen­tie­ren. Gekämpft wurde hier seit 700 Jah­ren nicht mehr.

Ein bisschen mehr Leben: Andorra La Vella

Wem es im Rest des Lan­des zu ruhig zugeht, der kann sich in die Haupt­stadt flüch­ten. Nach deut­schen Maß­stä­ben eine Klein­stadt, gibt es hier alles, was man braucht, und mehr – zum Bei­spiel ent­spannte Bars und Knei­pen, die drau­ßen auf den kopf­stein­ge­pflas­ter­ten Plät­zen zwi­schen alt­ehr­wür­di­gen Häu­sern mit dicken Stein­wän­den zu einem Bier bei Son­nen­un­ter­gang ein­la­den. Zu sagen, dass hier das Leben tobt, wäre – außer­halb der gro­ßen Shop­ping­mei­len, die EU-Bür­ger mit güns­ti­ger Mehr­wert­steuer anlo­cken – viel­leicht über­trie­ben, aber je län­ger man in Andorra ver­weilt, desto mehr fragt man sich, ob das wirk­lich ein Nach­teil sein muss. „Todo tran­qui“, alles ent­spannt, wird zum Schlag­wort unse­rer Reise.

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Nach­dem wir den gan­zen Tag in der Natur unter­wegs waren, behalte ich von der Stadt­füh­rung am Abend nicht mehr viel im Kopf, und erfreue mich statt­des­sen an der Kulisse der alten Bruch­stein­häu­ser mit den Ber­gen im Hin­ter­grund. Reicht defi­ni­tiv, um sich hier mehr als nur wohl zu füh­len. Was mir dazu noch im Gedächt­nis bleibt, sind Käse, Salami und Wein, mit denen wir in einen Kiosk gelockt wer­den, wo uns der Besit­zer beim fünf­ten Nach­schen­ken vom Leben in die­sem klei­nen, hohen, ruhi­gen, stol­zen, offe­nen, ein biss­chen kurio­sen und lie­bens­wer­ten Land erzählt.

Was für ein Glück, denke ich, und, wie schön, dass Andorra auf mei­ner Land­karte kein wei­ßer Fleck mehr ist.

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Cate­go­riesAndorra
Ariane Kovac

Hat ihr Herz irgendwo zwischen Lamas und rostigen Kleinbussen in Peru verloren. Seitdem möchte sie so viel wie möglich über andere Länder und Kulturen erfahren - wenn möglich, aus erster Hand.

Wenn sie gerade nicht unterwegs sein kann, verbringt sie viel Zeit damit, den Finger über Landkarten wandern zu lassen und ihre eigene Heimat ein bisschen besser zu erkunden, am liebsten zu Fuß. Immer dabei, ob in Nähe oder Ferne: Kamera und Notizbuch, denn ohne das Schreiben und das Fotografieren wäre das Leben für sie nicht lebenswert.

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