Vom Leben und Lieben an der Elbe

Lang ist es her und schnell fühlt es sich nach Rei­se an. Vor allem weil alle wei­ter fah­ren, nach Prag, ins Aus­land! Da steigt die Eupho­rie. Nicht von Braun­schweig nach Han­no­ver. Ber­lin – Prag, zwei Haupt­städ­te, da wird die Auto­bahn zur Haupt­schlag­ader, und der kas­ten­för­mi­ge Miet­wa­gen kurz­zei­tig zum Ori­ent-Express. Ent­spre­chend aus­ge­las­sen ist die Stim­mung, es wird Tee in Plas­tik­be­chern kon­su­miert und Lutsch­bon­bons sich hin­ter die Backen­zäh­ne gescho­ben. Letz­te Nacht kaum eine Auge zuge­drückt, nach­ge­dacht, gekrit­zelt und doch guter Din­ge und kom­mu­ni­ka­tiv.

Der Fah­rer Vik­tor kommt aus Russ­land, sei­ne freund­li­che Frau Sus­an auch. Vik­tor ist Infor­ma­ti­ker und erin­nert mich an einen guten Freund und ein bischen an Kaf­ka, in Schwarz-Weiß. Vik­tor aber in Far­be, mit Bril­le, grü­nem Woll­pul­li, dar­un­ter ein Hemd, und bemüht ein Gespräch zu füh­ren. Sus­an und er arbei­ten bei einer gro­ßen Online-Part­ner­ver­mitt­lung. Haupt- und ein­zi­ger Sitz ist Ber­lin, 300 Mit­ar­bei­ter, 15 Mio. Kun­den! Fast prus­te ich mei­nen Tee an die Innen­sei­te der Wind­schutz­schei­be. In Tsche­chi­en leben immer­hin 10 Mio. Men­schen. Par­ship ist es nicht, die, wie ich spä­ter in Dres­den bemer­ken soll, an allen Hal­te­stel­len der Stadt das Glück der Zwei­sam­keit pro­pa­gie­ren. Alle elf Minu­ten ver­liebt sich jemand bei denen, so steht es da in fet­ten gro­ßern Let­tern. Das liest sich but­ter­weich weg, aber wenn man mal rich­tig dar­über nach­denkt: LIEBEN. Das ist ne gro­ße Num­mer, und wie sieht das dann aus, wenn die sich ver­lie­ben, vor ihrer Rech­nern? Ich mei­ne, wer mißt das, wer kann dar­über ent­schei­den? Über­wacht da jemand Kaf­fee trin­kend und Käse­brot mamp­fend die vir­tu­el­le Unter­hal­tung zwei sich bei­na­he Lie­ben­der und drückt dann bei der zwei­ten Tas­se Kaf­fee den roten, herz­för­mi­gen Knopf?
Lie­ben also, wenn Wor­te zu lee­ren Hül­len wer­den. Vik­tor spielt Tra­cy Chap­man, aber das wirkt schwer, und in den Bechern düm­pelt Tee und nicht Rot­wein. Was neu­es muss her: die Doors. Schon bes­ser, der zwei­te Mit­fah­rer, Peter, neben mir, nickt ein, wäh­rend „Back Door Man“ aus den Laut­spre­chern dröhnt und in mir viel zu früh die Lust nach einem lan­gen Holz­tre­sen weckt. Im Ori­ent-Express wäre das kein Pro­blem gewe­sen. Sus­an schenkt Tee nach, die Stimm­bän­der somit befeuch­tet, um wei­ter Unter­hal­tung zu füh­ren. Schwarz­braun schwabbt er zu den Boden­wel­len im Becher hin und her. Am Grund schwe­ben klei­ne schwar­ze Blät­ter und wäh­rend ich da so drauf star­re, wird mir wie­der klar, wie müde ich eigent­lich bin.

Jetzt singt Tina Tur­ner, musi­ka­li­sche Rei­se ins 20. Jahr­hun­dert. Das erin­nert mich an die CD-Samm­lung mei­ner Frau Mama. Lässt man die Fin­ger über die CD Hül­len wan­dern, über den Dir­ty Dancing Sound­track, Ich und ich, – bei­na­he muss ich zum zwei­ten mal mei­nen Mund­in­halt in das Auto­in­ne­re ent­lee­ren -,  erwar­tet einen ganz am Ende Bar­ry White. An die­ser Rei­hen­fol­ge wird sich nie etwas ändern. Der läuft jetzt aber nicht, noch nicht. Ich wage zu behaup­ten, dass der als nächs­tes dran gewe­sen wäre. Viel­leicht sind Sus­an und mei­ne Mut­ter ja am glei­chen Tag gebo­ren.

Ich kom­me mit Peter ins Gespräch, der eine Aus­bil­dung als Kame­ra­mann in Babels­berg macht und der­zeit mit Kol­le­gen eine Webse­rie dreht: „Hel­den der Haupt­stadt“ nennt die sich, wird in Neu­koelln gedreht und ist Anfang nächs­ten Jah­res auf you­tube zu sehen und soll zur Ber­li­na­le in Licht­spiel­häu­sern im Kiez urauf­ge­führt wer­den. Inter­es­sant, da unter ande­rem ehe­ma­li­ge Wrest­ler mit­spie­len. Aus­ran­giert, da zu alt, die Idee stammt vom Regis­seur. Und das klingt erst mal enga­giert, nicht wie in ande­ren Haupt­stadt­se­ri­en „Kame­ra läuft, bit­te strei­ten!“ und sich das Leben schwe­rer machen, als es ohne­hin schon ist.

Drau­ßen fliegt Sach­sen an uns vor­bei, die Plas­tik­tas­sen damp­fen, wie die Kühl­tür­me von Atom­kraft­wer­ken. Rie­si­ge Wind­rä­der schie­ben sich an uns vor­bei, der Mor­gen­ne­bel löst sich auf, und auch mein Kopf wird immer kla­rer, als gäbe es da eine Ver­bin­dung. In Sicht­wei­te drei Rehe auf einem Feld, Hell­braun schim­mert ihr Fell. Früh­auf­ste­her, eins passt auf. Schön sind sie ja, aber immer schreck­haft und auf der Hut. Anstren­gend stel­le ich mir das vor, immer weg­ren­nen, sobald jemand am Hori­zont auf­taucht.
Ankunft in Dres­den, ich las­se mich an der Elbe abset­zen, sehe aus der Fer­ne die Sem­per­oper und die Elb­ter­as­sen. Gol­de­ner Emp­fang bei maxi­ma­lem Son­nen­schein, die Elbe wie gegos­se­nes Blei, sil­ber­far­bend und dick­flüs­sig wie ein Lava­strom, trennt sie die Alt- von der Neu­stadt. Wie­vie­le Bli­cke sie in die­sem Gewand heu­te wohl schon auf sich gezo­gen hat?  Wel­che Gedan­ken sie in sich trägt, die den Men­schen bei ihrem Anblick durch die Köp­fe gegan­gen sind, das bleibt ihr Geheim­nis. Ein wah­re Schatz­tru­he.
Und zu Ost­zei­ten –  der Strom als Flucht vor der Rea­li­tät. Wäre ich hier auf­ge­wach­sen, ich hät­te oft hier geses­sen und mir ein Leben in Frei­heit vor­ge­stellt – die Fluss­mün­dung in der Nord­see als hei­li­gen Ort, das hät­te mir nie­mand neh­men kön­nen, die­sen Gedan­ken – und an einer Rezep­tur hät­te ich gebas­telt, mich voll­kom­men in Was­ser auf­lö­sen zu kön­nen.

Ich las­se mich trei­ben, am Wochen­en­de platzt Dres­den aus allen Näh­ten, die Frau­en­kir­che und der sie umge­ben­de Platz ist Dreh- und Angel­punkt, hier trifft His­to­rie auf Dis­ney­land­kitsch. Spä­ter spielt vor dem Luther­denk­mal ein Kla­vier­spie­ler „Mad World“. Wie vor­her Tra­cy Chap­man passt auch das gar nicht zur Stim­mung. Jim Mor­ri­son wäre hier zwar ähn­lich depla­ziert aber sicher­lich die bes­se­re Wahl.

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Ein paar Schrit­te wei­ter der Zwin­ger, direkt dane­ben die Sem­per­oper und noch mehr altes Gemäu­er, zu Tode foto­gra­fiert. Da jemand mit Han­dy- und Digi­tal­ka­me­ra gleich­zei­tig.
Vie­le Fami­li­en, aber es domi­niert Sil­ber-Grau­es Haar, pas­send zum Erschei­nungs­bild der Elbe heu­te. Grau- und Pas­tell­tö­ne geben Aus­kunft über das geho­be­ne Durch­schnitts­al­ter der Tages­aus­flüg­ler.

Am Wurst­stand die­ser bei­ßen­de säch­si­sche Dia­lekt. Die Spa­ni­sche Tou­ris­tin ver­sucht sich im Eng­lisch, der Mann hin­term Grill ver­steht und scherzt, dass er alle Spra­chen kön­ne. Nur spre­chen tut er in sei­ner Mut­ter­spra­che. Im Star­bucks ste­hen sie Schlan­ge, im MC Donalds auch, die tra­di­tio­nel­len Kaf­fee­häu­ser dage­gen eher leer.

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In der Haupt­ein­kaufs­stra­ße pro­pa­giert ein älte­rer Mann mit Sowjet­flag­ge Ver­gan­gen­heit, das scheint hier kaum jeman­den zu inter­es­sie­ren. Der Stern auf der Flag­ge stand einst für die Ver­ei­ni­gung aller Län­der der fünf Kon­ti­nen­te, unter der Idee des Kom­mu­nis­mus. Jetzt pros­tet man sich zu „Mad World“, Melan­cho­lie heu­chelnd,  mit Star­bucks-Bechern zu.

Ich schla­ge mich zum Haupt­bahn­hof durch, der Kopf ist voll. Die letz­ten Meter sind von 90er Jah­re Neu- oder groß­spu­ri­gen DDR Plat­ten­bau­ten flan­kiert und schla­gen eine Schnei­se zwi­schen his­to­ri­scher Alt­stadt und dem Bahn­hofs­vier­tel.

Mein Freund aus Argen­ti­ni­en war­tet schon am Ein­gang zum Haupt­bahn­hof, mit mei­nem hand­ge­päck­gro­ßen Kof­fer,  den ich nach län­ge­rem Auf­ent­halt in Bue­nos Aires zurück­las­sen muss­te. Wir trin­ken einen Kaf­fee, er muss los, hat heu­te noch einen Flug nach Süd Ame­ri­ka. Wir ver­ab­schie­den uns mit fes­tem Hän­de­druck, gefolgt von einer Umar­mung und ver­spre­chen ein­an­der Kon­takt zu hal­ten. Da steht er nun vor mir, der ver­lo­re­ne Sohn. Bei­na­he wie Weih­nach­ten fühlt sich das an, denn so recht kann ich mich nicht mehr dar­an erin­nern, was ich da vor einem hal­ben Jahr zusam­men gesam­melt habe. Heu­te Abend in Ber­lin dann Besche­rung. Jetzt noch eine Stun­de am Bahn­hof Zeit tot schla­gen und dann via Mit­fahr­ge­le­gen­heit zurück nach Ber­lin.

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Die Heim­rei­se, erneut im Auto, ist wenig spek­ta­ku­lär. Es wird nicht gere­det, die Namen der Mit­rei­sen­den sind mir unbe­kannt. Der Bei­fah­rer spielt ein Stra­te­gie­spiel auf sei­nem Smart­phone. Ich schla­fe ein, öff­ne die Augen und erken­ne müde blin­zelnd den Ber­li­ner Fern­seh­turm. Die blin­ken­den Lich­ter ver­ra­ten ihn, kon­stan­ter Puls und ewi­ger Fels in der Bran­dung. Ob er spä­ter in der Nacht stär­ker aus­schlägt, wenn Ber­lin sein ande­res Gesicht zeigt, oder zwei Suchen­de sich per Knopf­druck die Lie­be geste­hen?

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Antworten

  1. Avatar von Alisa Wagner
    Alisa Wagner

    Ich war schon lan­ge nicht mehr rei­sen. Die­ser Blog inspi­riert mich wie­der öfters mal zu Rei­sen, wo die Zeit noch da ist und die Gesund­heit noch mit macht.

    Lie­be Grü­ße Ali­sa

  2. Avatar von Jo

    Ich hab auch schon mal jeman­dem einen Ruck­sack hin­ter­her­ge­bracht. Am Ende bin ich dann da geblie­ben wo ich den Ruck­sack an sei­nen Besit­zer über­ge­ben habe, in Spa­ni­en 🙂

  3. Avatar von Susanne

    Mir gefällt die Vor­stel­lung vom kaf­fee­trin­ken­den, käse­brotm­amp­fen­den Sin­gle­bör­sen­mit­ar­bei­ter. Auch ansons­ten ein wun­der­vol­ler Text!

  4. Avatar von sylvia

    Ich hat­te ja jetzt auf ein Foto mit dem Inhalt des Kof­fers gehofft 🙂
    Die­ses freu­di­ge Wie­der­se­hen ken­ne ich nur all­zu­gut… schö­ne Sache!

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