Klein Siri und die Entdeckung der Sprache

End­lich waren wir da. An schon wie­der einem neu­en Ort. Die letz­ten Tage hat­ten wir tur­bu­lent jeden Tag woan­ders und mit wem anders ver­bracht. Das war toll und auf­re­gend und anstren­gend. Jetzt war es mit­ten in der Nacht und wir woll­ten ein­fach nur ankom­men. Und das taten wir auch. In einem wun­der­ba­ren, azur­blau­en Haus genau an der Klip­pe zum Meer. Abdel­la­bra­him war der Haus­hü­ter und emp­fing uns trotz eige­ner Schlaf­trun­ken­heit mit gro­ßer Herz­lich­keit und tiger­ge­mus­ter­ter Bett­wä­sche. Die mach­te sich ganz her­vor­ra­gend auf unse­rem Bett, in dem mei­ne Freun­din Isi und ich bereits beim hin­ein­fal­len ein­schlie­fen.

 2_Haus_Panorama

Am nächs­ten Mor­gen war alles wie­der frisch und fröh­lich und wir erkun­de­ten erst ein­mal, wo wir eigent­lich waren. In Abdel­la­bra­hims Burg­fes­tung. So zumin­dest fühl­te sich das Haus an. Das Haus stand in einem klei­nen Dorf zwi­schen Tag­az­hout und Essaoui­ra in Marok­ko. Es hat­te etwa sie­ben Zim­mer, die alle Schlaf­platz für meh­re­re Leu­te boten. Zudem eine Küche vol­ler selbst­ge­mach­ter Köst­lich­kei­ten und zwei spo­ra­di­sche Bäder – eines davon sogar mit Warm­was­ser.

3_Haus_Wäsche

Aber die Räu­me waren es nicht, die das Haus aus­mach­ten. Alles Leben im Haus spiel­te sich drau­ßen ab. Jedes der Zim­mer führ­te zur gro­ßen Ter­as­se, die wie­der­um zum Meer führ­te. Sie hat­te ein wahn­sin­ni­ges Pan­ora­ma über eine rie­si­ge Bucht. Was­ser, Wel­len, Ber­ge und ganz viel Him­mel. Von hier konn­te man Son­nen­auf- und unter­gang sehen. Genau­so ging auch der Mond jeden Abend genau gegen­über hin­ter den Ber­gen auf. Als wür­den sich Son­ne, Mond und Ster­ne wie Pla­ne­ten um die Ter­as­se dre­hen. Mor­gens schwirr­te immer ein fri­scher Brot­duft auf der Ter­as­se umher und glück­li­che Marok­ka­ner lie­fen mit beschwing­tem Schritt und vol­ler Brot­tü­te vor­bei. Denn genau unter der Ter­as­se war eine klei­ne Bäcke­rei, die fri­sche Brot­lai­be aus Argan­nuss­scha­len back­te. Das war die schöns­te Loca­ti­on, die sich eine Bäcke­rei wün­schen konn­te.

Wenn man über die Ter­as­sen­mau­er klet­ter­te, muss­te man sich nur noch die Füße an spit­zen Stei­nen auf­rat­schen und schon war man ohne Umwe­ge direkt unten am Meer. Salz­was­ser ist schö­ner­wei­se gnä­dig zu Fuß­wun­den, denn die sam­mel­ten wir hier.

5_Bäckerei_Eingang

 

4_Bäckerei_view

Zudem gab es einen gro­ßen Holz­tisch, an dem immer alle Haus­be­woh­ner zum Essen zusam­men­ka­men. In die­sem Drau­ßen­haus konn­te man ein­fach blei­ben und man wür­de nie etwas ver­pas­sen. Zur Stra­ße hin war es mit einem hohen Zaun und einem gro­ßen Tor abge­schirmt. Das war zwar gar nicht nötig, weil es auf der fried­li­chen Stra­ße nichts zu fürch­ten gab, aber es war trotz­dem eine Ehre von Abdel­la­bra­him den klei­nen Fin­ger­trick ver­ra­ten zu bekom­men, mit dem man das Tor öff­ne­te. Den ver­riet er nicht vie­len. Wir fühl­ten uns jeden­falls wie mit einem beson­de­ren Staats­ge­heim­nis ver­traut.

6_Haus_Terasse_Surfbretter

Spä­ter stell­ten wir fest, dass wir uns jedes­mal so fühl­ten, wenn Abdel­la­bra­him uns etwas erzähl­te. Abdel­la­bra­him war ein Mann, der alles, was er tat mit gro­ßer Hin­ga­be und gro­ßem Geschickt tat. Ursprüng­lich kommt er aus einem klei­nen Ber­ber­dorf mit­ten in Marok­kos Ber­gen, dann wur­de er Fischer, zog in die­ses klei­ne Fischer­dorf und grün­de­te hier eine Fami­lie. Mit die­ser lebt er jetzt als Haus­hü­ter in die­sem wun­der­ba­ren, azur­blau­en Haus, das durch Abdel­la­bra­hims Beschüt­zer­au­ra wie eine siche­re Fes­tung erscheint. Hier emp­fängt er regel­mä­ßig Gäs­te wie uns. Aber nur über Freun­de oder Freun­des­freun­de, Fremd­lin­ge kom­men ihm nicht ins Haus. Für die fängt er dann kei­nen Fisch mehr, aber kocht ihn. So gut, wie kein Ster­ne­koch es kann, sagen alle Dorf­be­woh­ner. Alle Marok­ka­ner zwi­schen Essaoui­ra und Aga­dir, die gut Fisch kochen kön­nen, haben es von ihm gelernt, sagen die Dorf­be­woh­ner. Abdel­la­bra­him ist bei allen bekannt als der Fisch­flüs­te­rer. Ein­mal fuh­ren wir mit ihm und einem Eimer fri­scher Fische sogar bis nach Essaoui­ra, damit er die­se mit einem Freund zube­rei­ten konn­te. Nur zube­rei­ten, nicht essen.

7_Fischeimer

Sei­ne Frau Fat­na lern­te er tra­di­tio­nell marok­ka­nisch ken­nen: Eines Tages wur­de Abdel­la­bra­him von einem Freund ange­ru­fen und gefragt, ob er hei­ra­ten wol­le. Er habe da jeman­den. Also tra­fen sich Abdel­la­bra­him und Fat­na in einem Café. Sie unter­hiel­ten sich über Stun­den, fan­den sich toll und beschlos­sen dar­auf­hin zu hei­ra­ten. „Fat­na never went to school. But Fat­na is good wife, good wife. Love of my life!“, sagt Abdel­la­bra­him vol­ler Inbrunst. Was Fat­na sagt, weiß ich nicht, sie spricht nicht viel und wenn, dann ara­bisch. Aber sie hat ein fröh­li­ches Lächeln und ein ent­spann­tes Gemüt. Auch ihre jün­ge­re Schwes­ter Ama­ra lebt mit in der Fami­li­en­burg. Ama­ra geht noch zur Schu­le und möch­te spä­ter ein­mal Mathe­ma­ti­ke­rin wer­den. Ich hof­fe sie hält dar­an fest.

8_Amara&Mohammed

Abdel­la­bra­hims und Fat­nas erst­ge­bo­re­nes Kind ist Siri. Ein Mäd­chen. Dar­über war Abdel­la­bra­him erst ent­täuscht, aber als er sie dann ansah, wur­de er erleuch­tet, wie er sagt. „Kids are the best that can ever hap­pen to you. Kids are the reason. And Siri is so won­derful.“, sagt er öfter und dann drückt er sie ganz fest. Trotz­dem muss­te noch ein Jun­ge her: Moham­med ist knapp zwei Jah­re alt.

9_Abdellabrahim&Siri

Siri ist sechs Jah­re alt, total klein, total smart und total süß. Am frü­hen ers­ten Mor­gen war sie noch etwas schüch­tern, doch das leg­te sie schnell ab, kam stän­dig zu Isi und mir gelau­fen und erzähl­te uns Geschich­ten. Bis sie merk­te, dass wir kein Wort von ihr ver­stan­den. Lei­der. Zu ger­ne hät­ten wir Geschich­ten über glit­zern­de Fische und lila Regen­bo­gen gehört. Das waren ihre Lieb­lings­the­men, wie wir spä­ter erfuh­ren. Ihr Ara­bisch-Fran­zö­sisch-Mix klang zwar nied­lich, aber auch wie Spa­nisch in unse­ren Ohren. Ihr Vater erzähl­te uns, dass sie nor­ma­ler­wei­se nie im Haus sei, wenn Gäs­te da sind. Men­schen, die sie nicht ver­ste­hen, waren also neu für sie.

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Wir saßen auf der Ter­as­se des Hau­ses und starr­ten uns alle drei wort­los an. Wir konn­ten förm­lich sehen, wie sie an einem ande­ren Weg grü­bel­te, mit uns zu kom­mu­ni­zie­ren. Bis Siri die Ges­ten ent­deck­te. Mit wil­dem Hän­de­wir­beln bedeu­te­te sie uns zu tan­zen, zu sprin­gen, sie hoch­zu­he­ben, hoch­zu­wer­fen, umher­zu­dre­hen, zu fan­gen, ‚Engel­chen flieg’ zu spie­len und was man sonst noch so alles anstel­len kann. Wir hat­ten gro­ßen Spaß zusam­men – ohne ein Wort zu reden. Die gan­ze Zeit über ach­te­te Siri sorg­fäl­tig dar­auf, nur Quietsch­tö­ne und kein Wort von sich zu geben. Ich neh­me an, um uns nicht zu ver­wir­ren. Manch­mal biss sie sich sogar auf die Lip­pen, um nicht plötz­lich los­zu­re­den. Isi und ich spiel­ten das Schwei­ge­spiel erst mit, unter­hiel­ten uns dann aber immer wie­der auf Deutsch. Über die­se selt­sa­men, aber doch flüs­si­gen Rede­l­au­te von uns, war Siri sicht­lich erstaunt. Sie hat­te wohl ange­nom­men, wir sein stumm. So ger­ne woll­te ich sol­che Rede­l­au­te auch mit ihr aus­tau­schen.

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In Siris Zim­mer ent­deck­ten wir ein Mal­buch von ihr. Das war allein schon inter­es­sant, weil man es von hin­ten nach vor­ne und von links nach rechts blät­ter­te. Aber auch, weil es voll von Siris Male­rei­en war. Vol­ler Stolz zeig­te sie mir ihre Kunst­wer­ke. Auf der sichers­ten Ter­as­se der Welt setz­te sie sich auf mei­nen Schoß, führ­te mich bedäch­tig durch die bun­ten Sei­ten und zeig­te mir jedes ein­zel­ne Werk. Eini­ge davon hät­te ich sonst auch gar nicht als Werk iden­ti­fi­ziert. Dabei ent­deck­ten wir, dass wir gemein­sam Voka­beln üben konn­ten. Hat­te sie eine Blu­me gezeich­net, lern­ten wir bei­de ‚fleur’ und da waren auch pois­sons, étoi­les, dino­sau­res, éle­phan­tes, natür­lich arc-en-ciels und sogar para­plu­ies, obwohl man die in Marok­ko wirk­lich nicht braucht. Anschei­nend weil sie noch nie einen benutzt hat­te, reg­ne­te es sogar auch unter Siris para­plu­ies. So saßen Siri und ich lan­ge auf der Ter­as­se und arbei­te­ten uns durch das gesam­te Buch. Zu ein­zel­nen Voka­beln kamen Arti­kel dazu, irgend­wann auch mal ein Verb und spä­ter wur­den gan­ze Sät­ze draus. Siri und ich brach­ten uns peu à peu gegen­sei­tig Fran­zö­sisch bei. Am Ende des Buches konn­ten wir sogar über Din­ge reden, die gar nicht in ihrem Buch gemalt waren. Was wil­des Gekrit­zel auf fran­zö­sisch heißt, weiß ich aller­dings bis heu­te nicht.

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Nach einem hal­ben Tag schwei­gen­der, wil­der Ges­ti­ken, hat­te ich mit die­sem klei­nen Mäd­chen gemein­sam die Spra­che neu ent­deckt. Es reich­te zwar noch nicht, um uns zu sagen, wie sehr wir uns dar­über freu­ten nun mit­ein­an­der reden zu kön­nen, aber dafür rede­ten wir über alles, wozu uns Voka­beln ein­fie­len. Ein­fach um zu reden. Sol­eil, nuage, frè­re Moham­med, faim. Faim hat­ten wir gro­ßen. Also nah­men Isi und ich Siri mit zum Essen um die Ecke, außer­halb der Burg­mau­ern aus Vater­für­sor­ge. Bis dahin reich­te das Fran­zö­sisch sogar schon so weit, um Siri zu sagen, dass sie kei­ne Cola, aber einen Oran­gen­saft bekommt. Das war der Moment, in dem Siri und ich bei­de merk­ten, dass die non­ver­ba­le Kom­mu­ni­ka­ti­on mehr Zau­ber hat­te. Nach der Cola konn­ten wir ihr aber nicht auch noch einen zwei­ten Saft aus­schla­gen. Nicht bei die­sem Blick. Der O‑Saft gefiel ihr so gut, dass sie direkt zwei Glä­ser exte. Das wie­der­um gefiel ihrem Magen nicht so gut, sodass sie sich mit­ten auf dem Dorf­platz oran­ge­far­ben über­gab. Wobei sie alle Leu­te anschau­ten und sie nur beschämt zurück­sah. Wir lie­fen zu ihr, nah­men sie in den Arm, tru­gen sie zum nächs­ten Was­ser­con­tai­ner, wuschen sie dort ab, beru­hig­ten sie und fühl­ten uns wahn­sin­nig schlecht. Ein­mal Ver­ant­wor­tung für so einen klei­nen Men­schen bekom­men und schon ver­sagt. Aller­dings war sie gleich wie­der mun­ter und nie­mand war böse.

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Nach dem Essen hol­te sich Siri ihren Kamm und eröff­ne­te zurück auf der Ter­as­se ein Fri­sör­stu­dio. Sie kämm­te mich stun­den­lang, ver­such­te immer wie­der Fri­su­ren aus, die alle gleich aus­sa­hen und hat­te einen Mords­spaß dabei. ‚Jolie, jolie’, ‚che­veux longue’ und ‚attend, attend!’ waren hier­bei ihre Lieb­lings­kom­men­ta­re. Als ich zwi­schen­durch irgend­ein Siri-Gebrab­bel mit Oui beant­wor­tet hat­te, stand sie kurz danach freu­de­strah­lend mit einer Sche­re vor mir. Cise­aux hat­te ich wohl über­höhrt. Wir blie­ben doch lie­ber beim coif­fer. Und beim rouge à lèv­re. Siri ent­deck­te mei­nen Ber­ber­frau­en­lip­pen­stift, der grün ist, aber mit Lip­pen­kon­takt die natür­li­che Lip­pen­far­be ver­stärkt. Das fand sie so famos, dass sie es schaff­te, die unna­tür­li­che Lip­pen­far­be zu ver­stär­ken. Als die Haa­re durch­fri­siert, die Lip­pen maxi­mal pink und ihr Buch voll­ge­malt waren, bemal­te sie eben unse­re Arme. Vol­ler Sorg­falt, Lie­be und Stolz hat­te Siri bald alle vier Arme von Isi und mir voll­ge­krit­zelt. Sogar zwei Tage lang konn­ten mei­ne Tat­too­kunst­wer­ke dem Was­ser trot­zen.

14_Siri_Lippenstift

Am Abend gab es noch eini­ge bon­ne nuit bis­ous und wir brach­ten Siri ins Bett pour couch­er. Zurück auf der Abend­te­r­as­se ver­miss­te ich sie direkt. Nur sel­ten zuvor hat­te ich jeman­den an nur einem Tag so inten­siv ken­nen­ge­lernt. Und noch nie hat­te jemand an nur einem Tag den Fran­zö­sisch­schal­ter in mir wie­der akti­viert.

 

Wir blie­ben vier Tage bei Siri und ihrer Fami­lie. Auch spä­ter wäh­rend unse­res Marok­ko­trips kehr­ten wir noch zwei­mal an die­sen Ort zurück. Siri und ich waren jedes­mal wie unzer­trenn­li­che See­len, ver­brach­ten ein­fach die Tage zusam­men, lern­ten neue Voka­beln, ent­deck­ten klei­ne Tier­chen, eine gro­ße wil­de Schild­krö­te und gif­ti­ge Pflan­zen im Gar­ten. Ihr Vater Abdel­la­bra­him sag­te „Siri doesn’t know not­hing. She doesn’t know things about peo­p­le. But she likes you. So you are good peo­p­le.“ Und ich mag Siri. Für die­se Erkent­nis, für das Fran­zö­sisch, das sie mir zurück­brach­te und weil sie der ehr­lichs­te und inspi­rie­rends­te Mensch war, dem ich in ganz Marok­ko begeg­ne­te. Denn manch­mal sagt nichts sagen, so viel mehr als viel sagen.

 

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