Wan­ger­ooge – im Win­ter? Ich sehe fra­gende Augen und eine gerun­zelte Stirn, hin­ter der sich ein­deu­tig der Gedanke „Du bist ja ver­rückt!“ formt. Dabei gibt es gut 1.300 Insel­be­woh­ner, die in der kal­ten Jah­res­zeit brav auf der See­pferd­chen-för­mi­gen Insel im Her­zen des Wat­ten­mee­res aus­har­ren. Und dann gibt es tat­säch­lich auch Men­schen, die betre­ten im Win­ter frei­wil­lig in Harle­siel die Fähre und las­sen sich acht Kilo­me­ter spä­ter auf dem knapp fünf Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ßen Eiland wie­der aus­spu­cken. Um sorg­los über die Straße zu lau­fen, denn Autos gibt es nicht. Um sich von Wind und Regen Gassi füh­ren zu las­sen. Um zu begrei­fen, dass eine nasse Jacke ein fai­rer Tausch für einen freien Kopf ist. Für „Thalasso“, die Heil­kraft des Mee­res. Um Insu­la­nern zu lau­schen, die viele Geschich­ten auf Lager haben. Geschich­ten von ver­schwun­de­nen Strän­den und Leucht­tür­men, von Krieg und Wie­der­auf­bau, von Hoff­nung, Vögeln und dem Watt. Und nicht zuletzt vom Lebe­we­sen mit dem längs­ten Penis der Welt.

Ech­ter Friesengeist

„Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.“ Auch wenn man das Wan­ger­oo­ger Motto bei der Ankunft noch nicht kennt, spürt man es. Von dem Moment, als die Fähre andockt und sich die weni­gen Win­ter­be­su­cher in den Wag­gons der Insel­bahn ver­tei­len, die in etwa 15 Minu­ten mit 20 km/h durch Salz­wie­sen bis zum Haupt­ort zuckelt – mit­ten durchs Meer. Zumin­dest kommt es mir so vor, als ich auf bei­den Sei­ten Wel­len sehe, als wären die Schie­nen auf Was­ser gebaut. Die ers­ten bei­den Türme der „Insel der drei Türme“ ragen im Wes­ten empor, der West­turm und der Neue Leucht­turm, der dritte, der Alte Leucht­turm, zeich­net sich zwi­schen Häu­sern am Hori­zont ab.

Etwas, das zu Hause all­ge­gen­wär­tig ist, fehlt: das stän­dige Hin­ter­grund­ge­räusch von Moto­ren, Brem­sen und Hupen. Die ein­zi­gen Ben­zi­ner, die auf Wan­ger­ooge ver­keh­ren, sind Ret­tungs­fahr­zeuge, dane­ben fah­ren ein paar Elek­tro­wa­gen, die Gepäck trans­por­tie­ren oder Gäste von A nach B brin­gen. Wäh­rend ich durch sanft beleuch­tete Stra­ßen spa­ziere, an denen sich Läden und Wohn­häu­ser anein­an­der­rei­hen, kann ich mir bild­lich vor­stel­len, was mir eine Wan­ger­oo­ger Bekannte, Ramona Engel­meier, 28, die nach eini­gen Aus­bil­dungs­jah­ren auf dem Fest­land auf die Insel zurück­kehrte und bei der Kur­ver­wal­tung arbei­tet, erzählt hat: „Das Beste war unsere Kind­heit auf Wan­ger­ooge, wir hat­ten so viel Frei­heit, konn­ten auf der Straße spie­len und muss­ten nicht zu bestimm­ter Zeit zu Hause sein. Immer­hin kann­ten sich alle untereinander.“

Ich denke daran, wie lange ich als Kind brauchte, mich mit dem Fahr­rad in den Ver­kehr zu wagen. Schade nur, dass es mitt­ler­weile kaum noch Kin­der auf Wan­ger­ooge gibt: Obwohl eine Grund­schule besteht und eine wei­ter­füh­rende, die Haupt- und Real­schule sowie Gym­na­sium unter einem Dach ver­eint, besu­chen aktu­ell nur noch rund 80 Kin­der die erste bis zehnte Klasse. Und wer nicht gerade Hotel­fach, Ein­zel­han­del, Büro­kauf­frau- oder mann oder wenige wei­tere auf der Insel ange­bo­tene Aus­bil­dungs­zweige wählt, ist gezwun­gen, nach der Schule aufs Fest­land zu zie­hen. Wo sich die Insu­la­ner dann über etwas freuen, das für den Groß­stadt­bür­ger nor­mal ist – den Piz­za­ser­vice anzu­ru­fen oder ins Kino zu gehen. In Wan­ger­oo­ges ein­zi­gem Insel­kino wird ein Film näm­lich nur ange­schmis­sen, wenn min­des­tens fünf Leute im Saal sit­zen. Wer nicht selbst kochen will, geht ins Restau­rant, wo am Nach­bar­tisch der Onkel oder Kol­le­gen sit­zen. Und wo der Kell­ner bei jedem geor­der­ten Frie­sen­geist den Schnaps anzün­det und zur Flamme einen Trink­spruch auf­sagt: „Wie Irr­licht im Moor, flackert’s empor, lösch aus, trink aus, genieße leise auf echte Frie­sen­weise, den Frie­sen zur Ehr vom Frie­sen­geist mehr.“

Der längste Penis der Welt

Eigent­lich sollte bei der früh­mor­gend­li­chen Watt­wan­de­rung die Sonne auf­ge­hen. Doch das Ein­zige, was an die­sem Tag auf­geht, ist der Him­mel, um neuen Regen aus­zu­schüt­ten. Was Watt­füh­re­rin Inga Blanke, eine Hacke über der Schul­ter und warm in Regen­klei­dung ein­ge­packt, nicht stört. Es geht raus aus den Schu­hen und rein in die Gum­mi­stie­fel, denn immer­hin befin­det sich Wan­ger­ooge genau in der Mitte des Wat­ten­meers, das sich auf 500 Kilo­me­tern von Esbjerg in Däne­mark bis nach Den Hel­der in den Nie­der­lan­den erstreckt. Und das 2019 sei­nen zehn­ten UNESCO-Welt­erbe-Geburts­tag fei­ert, denn die UNESCO-Auf­nahme erfolgte im Juni 2009. Schon seit Lan­gem fas­zi­niert es mich, die­ses Meer, das Pflan­zen, Tie­ren und Men­schen sei­nen Gezei­ten-Rhyth­mus auf­zwingt und das in sei­ner jet­zi­gen Form an die 2.000 Jahre als sein soll.

„Man sollte grund­sätz­lich nur mit Watt­füh­rer ins Watt gehen“, ermahnt mich Inga, denn immer wie­der gibt es Besu­cher, die dem Was­ser in die Ferne fol­gen und nie wie­der­ge­se­hen wer­den. Weil sie glau­ben, sie hät­ten sechs Stun­den Zeit, bis das Was­ser wie­der­kommt. Und das Fest­land ist ja nur schlappe acht Kilo­me­ter ent­fernt. Inga, die Mütze tief ins Gesicht gezo­gen, hat trotz rot­ge­fro­re­ner Wan­gen ein Dau­er­lä­cheln auf den Lip­pen und gräbt mit ebenso rot­ge­fro­re­nen Hän­den immer wie­der im schlam­mi­gen Mee­res­bo­den, um kleine Wun­der an die Ober­flä­che zu zau­bern. Nur der Gabel­tang zeigt sich an die­sem Mor­gen frei­wil­lig, braun-röt­li­che Spros­sen, die sogar ess­bar sind. Bereits bei mei­ner ers­ten Watt­wan­de­rung war ich erstaunt, wie ein schlam­mi­ger, meer­lo­ser Mee­res­bo­den so fas­zi­nie­rend sein kann. Etwas, das auf den ers­ten Blick leb­los wirkt, steckt vol­ler Leben: Da sind die Watt­schne­cken, vier bis sechs Mil­li­me­ter groß, die das wäss­rige Schlick­watt lie­ben. Die Schne­cken haben sogar etwas mit Kühen gemein, denn sie gra­sen am Boden Algen und die dar­auf leben­den Bak­te­rien ab und zäh­len damit zu den Weidegängern.

Inga stu­diert die vie­len Sand-Spa­ghet­tih­au­fen mit Löchern in unmit­tel­ba­rer Nähe und nickt. „Hier ver­steckt sich ein Watt­wurm. Das Loch ist der Kopf, und hin­ten, am Po, schei­det er den gerei­nig­ten Sand als Häuf­chen aus.“ Bald hält sie einen sich ver­stört krin­geln­den Wurm auf der Hand. „Diese Wür­mer haben eine beson­dere Fähig­keit – sie kön­nen ihren Po abwer­fen, wenn zum Bei­spiel eine Möwe ihn in den Schna­bel bekommt.“ Und dann? Ohne Po kein Klo? Von wegen! „Der Po kann ganze 33 Mal nach­wach­sen. Und wuss­test du, dass wir Men­schen und diese Wür­mer eine große Gemein­sam­keit haben?“ In der Fan­ta­sie durch­wühle ich Men­schen, die ich öfter mit Wür­mern ver­glei­che, doch Inga winkt ab. „Watt­wür­mer haben den glei­chen Blut­farb­stoff wie wir, Hämo­glo­bin!“ Das sei Uni­ver­sal­blut für Men­schen und man denke daran, Watt­wür­mer absicht­lich zu Blut­über­tra­gungs­zwe­cken zu züchten.

Inga liest ein Algen­ge­strüpp vom Boden auf. Daran hän­gen Mies­mu­scheln – denen zu Ehren im Sep­tem­ber 2018 erst­mals das „Wan­ger­oo­ger Mies­mu­schel­fest“ mit vie­len Ver­kaufs­stän­den star­tete, das wegen des gro­ßen Erfolgs 2019 erneut statt­fin­den soll – sowie graue Steine. „Das sind keine Steine, das sind See­po­cken, kleine Krebse!“ Ich kann kei­nen Krebs aus­ma­chen. „Die See­po­cken hef­ten sich an und kön­nen sich dann nicht mehr vom Unter­grund lösen. Sie rei­sen als blin­der Pas­sa­gier auf Muscheln, Krab­ben, Walen oder auch an Boo­ten durch die Welt.“ Als ob das nicht Luxus genug wäre, haben die Vie­cher noch mehr zu bie­ten: „Die See­po­cken haben den längs­ten Penis der Welt im Ver­gleich zur Kör­per­größe!“ Was ich für einen Scherz halte, soll tat­säch­lich stim­men. „Um sich fort­zu­pflan­zen, müs­sen die Penisse eine weite Reich­weite haben, denn die See­po­cken kön­nen sich ja nicht mehr bewe­gen. Und so fah­ren sie die Geschlechts­teile aus, bis sie ein Weib­chen erreichen.“

Wer wie ich bei Schiet­wet­ter auf Wan­ger­ooge ist und eine Stunde lang Sturm und Regen im Watt trotzt, fin­det alle wei­te­ren Infor­ma­tio­nen dazu im Natio­nal­park­haus – vor dem seit 2016 ein ech­tes Pott­wal­ske­lett, aller­dings ohne Zähne, steht. Im Januar 2016 stran­de­ten 29 männ­li­che Pott­wale an der Nord­see­küste, zwei davon ver­en­de­ten auf Wan­ger­ooge. Das Ske­lett eines der Tiere, 13 Meter lang, wurde prä­pa­riert und 2017 vor dem Natio­nal­park­haus aufgebaut.

Das Wan­ger­oo­ger Watt, das den Walen zum Ver­häng­nis wurde, ist dage­gen für die Zug­vö­gel im Herbst ein Schla­raf­fen­land: Das Wat­ten­meer zählt zu den belieb­tes­ten Rast­plät­zen der Zug­vö­gel, denn dort kön­nen Sie sich an Muscheln, Watt­wür­mern und lan­gen Penis­sen satt­fut­tern. „Jeden Herbst fin­den bei uns die Zug­vo­gel­tage statt“, erfahre ich spä­ter von Ramona. „In den Tagen gibt es einen Wett­be­werb, den Avi­a­th­lon, auf wel­cher Insel die meis­ten ver­schie­de­nen Zug­vö­gel gesich­tet wer­den.“ Auch Insel­be­su­cher könn­ten mit­ma­chen und gesich­tete Vögel mel­den. Eine Sie­ger­ur­kunde von 2016 ziert die Wand, als auf Wan­ger­ooge in einer Okto­ber­wo­che 138 Vogel­ar­ten gesich­tet wur­den. Außer­dem star­tet wäh­rend die­ser beson­de­ren Tage der „Vogel­zug zu den Zug­vö­geln“, wobei die Insel­bahn lang­sam durch die Salz­wie­sen tuckert und man die Vögel in ihrem Lebens­raum durchs Fern­glas beob­ach­ten kann.

Urge­steine Wangerooges

Nicht nur die See­po­cken hef­ten sich an den Unter­grund und bewe­gen sich nie wie­der fort – auch einige der älte­ren Bewoh­ner Wan­ger­oo­ges zei­gen diese Ten­denz. Eine davon ist Heike Han­ken, 1940 gebo­ren, die ab und zu einen Dorf­bum­mel für Besu­cher anbie­tet und dabei Geschich­ten und Anek­do­ten zum Bes­ten gibt. Auf meine Frage, ob sie auf der Insel gebo­ren wor­den sei, schüt­telt sie belus­tigt den Kopf. „Offi­zi­ell wird nie­mand hier gebo­ren, wir haben näm­lich kein Kran­ken­haus!“ Es gäbe aber Hub­schrau­ber, die wer­dende Müt­ter schnell ans Fest­land bräch­ten, zum Bei­spiel nach Wil­helms­ha­ven. Ein­mal sei ein Baby aller­dings auf Hel­go­land zur Welt gekom­men, weil der Hub­schrau­ber wegen Nebels nicht auf dem Fest­land lan­den konnte.

„Das erste Dorf Wan­ger­oo­ges stand am West­strand mit dem West­turm, wurde aber an Neu­jahr zwi­schen 1854 und 1855 von einer Sturm­flut zer­stört.“ Dar­auf­hin seien zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung aufs Fest­land gezo­gen und nur 80 Bewoh­ner geblie­ben. Sie hät­ten das heu­tige Wan­ger­oo­ger Dorf gegrün­det, das bes­ser zu schüt­zen war. Heike führt mich in eine Sei­ten­straße rechts vom Haupt­platz, die den Namen „Rob­ben­straße“ trägt und wo 1863 die ers­ten Häu­ser ent­stan­den. „Dies war die erste Dorf­straße. Sie trägt die­sen Namen, weil hier ein Rob­ben­jä­ger lebte, der die Tiere vor sei­nem Haus zer­legte. Des­we­gen stank es bes­tia­lisch nach Tran.“ Aus dem Tran habe man auch Ker­zen gemacht, die gedämpf­tes Licht abga­ben – wor­aus sich der Begriff „tran­fun­zig“ entwickelte.

Vor Hei­kes Eltern­haus blei­ben wir ste­hen, neben dem Café Famoos, das die ein­zige Ampel auf Wan­ger­ooge beher­bergt – um mög­li­chen Gäs­ten schon von Wei­tem anzu­zei­gen, ob es geöff­net oder geschlos­sen ist. Immer­hin befin­det es sich auf einem Hügel von bestimmt drei Höhen­me­tern. „Mein Eltern­haus ist das älteste Haus im Dorf.“ Über­se­hen kann man es auch nicht – dank den bunt deko­rier­ten Zaun­lat­ten und bun­ten Kugeln im kah­len Baum vor dem Haus. Heike zeigt auf das Haus, wo der Grün­der des Insel­ho­tels Han­ken groß wurde. Auch sie selbst habe einen Han­ken gehei­ra­tet. „Wenn man auf einer Insel lebt, hat man keine große Aus­wahl.“ Sie lacht. Am Ende der Straße thront der Alte Leucht­turm, 1856 in Betrieb genom­men, nach­dem der West­küs­ten-Leucht­turm von der Sturm­flut beschä­digt wurde. Wer genau hin­schaut, erkennt auf der Turm­spitze die guss­ei­serne Zahl 1926. „1926 wurde der Leucht­turm um fünf Meter auf­ge­stockt, denn die Hotels an der Pro­me­nade waren so hoch gewor­den, dass die Schiffe den Turm nicht mehr sahen!“ Heike schaut nost­al­gisch zurück zu ihrem Eltern­haus. „1962 hat­ten wir wie­der eine schlimme Sturm­flut, da ver­salz­ten sogar die Brun­nen im Gar­ten, aus denen wir Trink­was­ser gewan­nen.“ Dar­auf­hin habe Wan­ger­ooge als ein­zige Ost­frie­si­sche Insel eine Was­ser­lei­tung unterm Meer bekommen.

Wir tre­ten in die evan­ge­li­sche St.Nikolai-Kirche, dem Schutz­pa­tron der See­fah­rer und Han­dels­leute gewid­met. Dort hängt ein gro­ßes Holz­boot, wie sie oft in Küs­ten­kir­chen zu sehen sind. „Das sind Votiv­schiffe, sie wur­den von See­leu­ten nach Vor­bil­dern ech­ter Schiffe gebaut. Sie schenk­ten sie den Kir­chen ihrer Hei­mat­dör­fer zum Dank dafür, dass sie auf See über­lebt hatten.“

Etwa drei Vier­tel der Insu­la­ner seien evan­ge­lisch, ein Vier­tel katho­lisch. „Wir haben auch eine katho­li­sche Kir­che, die wurde 1965 fer­tig. Ein sehr moder­ner Bau mit einem nach Nor­den steil abfal­len­den Dach.“ Die Insu­la­ner hät­ten sich gegen den unschö­nen Bau gewehrt. „Wir nann­ten sie die See­len­ab­schuss­rampe.“ Aber mitt­ler­weile habe man sie akzep­tiert. „Unser altes Dorf hatte gar keine Kir­che, nur einen Turm, der als Land­marke diente. Des­we­gen wurde im zwei­ten Stock ein Kir­chen­raum ein­ge­rich­tet.“ Rich­tig inter­es­sant seien die dritte und vierte Etage gewe­sen, wo man Strand­gut sam­melte – eine ille­gale Ein­nah­me­quelle für arme Insu­la­ner, da gefun­de­nes Strand­gut in Deutsch­land offi­zi­ell abge­ge­ben und ver­nich­tet wer­den müsse. „Damals betete sogar der Pas­tor für einen geseg­ne­ten Strand, und wenn man sah, dass ein Schiff auf eine Sand­bank auf­lief, freute man sich dar­auf, wenige Tage spä­ter Strand­gut zu bekom­men.“ Zu Beginn des Ers­ten Welt­kriegs habe man den Turm jedoch gesprengt. Hin­ter der Kir­che eröff­net sich eine kleine Grün­flä­che, der alte Dorf­platz. „Hier steht das dritte Hotel, das auf der Insel gebaut wurde. Man warb damit, dass die Leute hier ruhig schla­fen konn­ten, ohne vom Mee­res­rau­schen gestört zu werden.“

Eine ähn­li­che Aus­sage könnte auch von dem etwa 14 Jahre älte­ren Hans-Jür­gen Jür­gens stam­men, Jahr­gang 1926, der abge­se­hen von einer Lehre zum Hotel­fach­mann, Zeit auf See und an der Ost­front den Groß­teil sei­nes Lebens auf der Insel ver­bracht hat. Der alte Mann hat wache Augen, aber die Mund­win­kel zei­gen nach unten. Wirk­lich Lust zu reden hat er nicht, und den­noch tut er es – wäh­rend wir die selbst­ge­ba­cke­nen Plätz­chen sei­ner Frau fut­tern und dazu Ost­frie­sen­tee mit Kluntje und Wulkje trin­ken – mit Kan­dis­zu­cker, der beim Ein­gie­ßen des Tees springt und zu dem ein Sah­ne­wölk­chen gehört.

Hans-Jür­gen Jür­gens spricht von sei­nem Vater, der nicht wollte, dass die Kin­der auf der Insel blei­ben, son­dern, dass sie auf dem Fest­land ein bes­se­res Leben fan­den. Und von sei­nen Büchern. Auf dem Weg ins Wohn­zim­mer streift mein Blick einen Raum, der bis an die Decke dicht ist mit voll­ge­stopf­ten Akten- und Bücher­re­ga­len. Etwa so stelle ich mir das Haus eines berühm­ten Schrift­stel­lers zu Zei­ten vor, bevor man begann, Recher­chen über Inter­net zu betrei­ben und Texte am Com­pu­ter zu tip­pen. Hans-Jür­gen Jür­gens recher­chiert und schreibt sein Leben lang. Dabei her­aus­ge­kom­men sind nicht zuletzt eine Wan­ger­oo­ger Chro­nik und ein Kriegs­ta­ge­buch mit dem Titel „Zeug­nisse aus unheil­vol­ler Zeit“. „Dafür habe ich zehn Jahre recher­chiert und zehn Jahre daran geschrie­ben“, erzählt er. Und wie hat er geschrie­ben? „Am Com­pu­ter, den ich als Schreib­ma­schine benutze. Sonst habe ich mit Com­pu­tern nichts am Hut, damit ver­liere ich nur Zeit.“

Diens­tags und frei­tags bie­tet der 92-jäh­rige Bun­ker­füh­run­gen an. Denn auch wenn er die vie­len Ver­än­de­run­gen, die er auf der Insel mit­er­lebt hat, nicht alle begrüßt, liegt ihm seine Insel doch am Her­zen: „Ich habe ins­ge­samt 60 Maß­nah­men für Wan­ger­ooge ergrif­fen.“ In einem Notiz­buch hat er sämt­li­che Zei­tungs­ar­ti­kel dar­über sowie Recher­che­er­geb­nisse ein­ge­klebt. Eine sei­ner größ­ten Errun­gen­schaf­ten war, dass der Alte Leucht­turm erhal­ten und nicht etwa in einen Nacht­club umge­wan­delt oder abge­ris­sen wurde. Er war es, der für die Glo­cke der evan­ge­li­schen Kir­che Geld sam­melte, Bäume pflanzte, sich für den Erhalt der Klin­ker an Häu­sern ein­setzte und der für die in den Dünen­schutz­ge­bie­ten auf­ge­stell­ten As ohne Mit­tel­strich sorgte, um Schutz­ge­biete zu markieren.

Nach­dem ich mit Hans-Jür­gen Jür­gens gespro­chen habe, sehe ich Wan­ger­ooge mit ande­ren Augen. Sehe Details, die nur einem Men­schen, der mit der Insel ver­wach­sen ist, wich­tig sein kön­nen und über die viele andere hin­weg­se­hen. „Die Leute sol­len her­kom­men und kei­nen Stress haben, sie sol­len in aller Ruhe über die Straße gehen und kei­nen Beton sehen“, gibt er mir mit auf den Weg.

Das Meer – Räu­ber und Therapeut

Schon oft habe ich auf Inseln davon gehört, dass Stürme und die See die Strände mit der Zeit abtra­gen, habe sogar schon strand­lose Inseln besucht. Doch erst­mals lerne ich mit Wan­ger­ooge eine Insel ken­nen, wo sich die Bewoh­ner jeden Früh­ling den Strand zurück­ho­len. „Bis Februar gibt es Sturm, ab März begin­nen wir dann mit den Sand­auf­fahr­maß­nah­men“, erzählt Ramona von der Kur­ver­wal­tung. Diese dau­er­ten etwa bis Ende April oder Anfang Mai. „Wir trom­meln Teams von zehn Strand­wär­tern zusam­men, die in Schich­ten bei Nied­rig­was­ser arbei­ten.“ Und woher kommt der Sand? Aus dem Osten, wo der Strand weni­ger strö­mungs­ge­fähr­det ist und von wo vom Fest­land impor­tierte Dum­per den Sand zum Haupt­strand kar­ren. Doch das Meer ist nicht nur ein Strand­räu­ber, son­dern auch ein rich­tig güns­ti­ger The­ra­peut. Mit Thalasso-Diplom von 2014, denn da wurde Wan­ger­ooge als zer­ti­fi­zier­tes Thalasso-Nord­see­heil­bad zuge­las­sen. „Thalassa“ kommt aus dem Grie­chi­schen, bedeu­tet „Meer“, wäh­rend „Thalasso“ die Heil­kraft des Mee­res beschreibt. Zunächst dachte ich dabei an teure Mas­sa­gen, Meer­was­ser­bä­der und Augen­pa­ckun­gen aus Algen – was es im Gesund­heits­zen­trum oder im Meer­was­ser-Erleb­nis­bad an der Pro­me­nade eben­falls gibt, aber man kann „Thalasso“ auch genie­ßen, ohne einen Cent auszugeben.

Im Grunde reicht See­luft aus, um Atem­wege zu befreien. Die steife Brise, die Ankömm­lin­gen Müt­zen und Kapu­zen vom Kopf reißt, ist dabei nicht etwa ein win­ter­li­ches Ärger­nis der Insel, son­dern kann hel­fen, das Immun­sys­tem in Schuss zu brin­gen und das Kreis­lauf­sys­tem zu stär­ken. Wer auf eigene Faust vom Nord­see-Reiz­klima pro­fi­tie­ren möchte, fin­det eine Reihe vor­ge­schla­ge­ner Thalasso-The­ra­pie­wege rund um den Bade- und Bur­gen­strand, bei denen die Reiz­in­ten­si­tät genau ange­ge­ben ist und sich daran ori­en­tiert, ob man am offe­nen Meer läuft oder von Dei­chen und Häu­sern geschützt ist. „Wenn zum Bei­spiel jemand aus Bay­ern kommt, sollte er es ruhig ange­hen las­sen. Er ist die­ses Klima gar nicht gewöhnt und schon nach zwei Stun­den hun­de­müde und immer hung­rig“, lerne ich. Gute Wege auch für Bay­ern sind die Straße oder der Fuß­weg zum Wes­ten, die par­al­lel zuein­an­der in Rich­tung Wes­ten verlaufen.

Dort ver­bin­den sich Meer und Insel­ge­schichte: Wenige Meter hin­term Dorf erin­nert ein Denk­mal mit gro­ßem Kreuz und Namens­ta­fel an einen Laza­rett­bun­ker, in dem am 25. April 1945 kurz vor Ende des Zwei­ten Welt­kriegs 20 junge Leute star­ben. Sie hat­ten sich bei einem Bom­ben­an­griff ver­schanzt, als die Bombe den Bun­ker traf und alle tötete. Denn ja, Wan­ger­ooge spielte auch im Krieg eine Rolle, waren dort doch einige Geschütz­bat­te­rien auf­ge­stellt zur Ver­tei­di­gung gegen Über­griffe von See­seite und Kano­nen zur Luft­ver­tei­di­gung. Gegen Ende des Krie­ges galt Wan­ger­ooge sogar als Fes­tung und sollte eine mög­li­che Inva­sion abwehren.

Einen kur­zen Spa­zier­gang wei­ter bie­tet sich eine sehr viel rosi­gere – oder an die­sem Tag weni­ger graue – Aus­sicht: Hin­term soge­nann­ten Bie­le­feld-Haus füh­ren Stu­fen hoch zum Aus­sichts­punkt, an dem sich Insu­la­ner und Besu­cher bei schö­nem Wet­ter zum Son­nen­un­ter­gang anein­an­der kuscheln. Bei Sturm und Regen habe ich den Ort für mich. Stehe über den tosen­den Wel­len, direkt neben dem Dünen­schutz­ge­biet, mar­kiert von einem A ohne Strich in der Mitte, für das sich Hans-Jür­gen Jür­gens ein­ge­setzt hat. Rechts bli­cke ich über das Dorf Wan­ger­ooge, links erhe­ben sich aus dem Wol­ken­grau die zwei Türme des Wes­tens, schräg gegen­über liegt der Fähr­an­le­ger ver­las­sen da.

An mei­nem Win­ter­wo­chen­ende auf Wan­ger­ooge sehe ich die Sonne ein ein­zi­ges Mal. Für etwa drei Minu­ten. Doch ich lasse mich immer wie­der vom Wind an der Leine neh­men, trotze dem Regen, der mir waa­ge­recht ent­ge­gen­peitscht. Stehe mehr­mals am Tag vor den Wel­len, spüre die Gischt auf dem Gesicht. Und mit ihr eine unglaub­li­che Kraft. Es ist zu nass und zu stür­misch, um Kar­ten aus der Tasche zu zie­hen und vor­ge­ge­be­nen Thalasso-Wegen zu fol­gen. Doch die brau­che ich auch gar nicht. Keine Kar­ten und kein Geld sind nötig, um sie mit jeder Pore zu spü­ren, diese Heil­kraft des Mee­res. Mei­ner Mei­nung nach ohne­hin der effek­tivste The­ra­peut, den es gibt. Denn egal, ob ich fünf Minu­ten oder fünf Stun­den oder fünf Tage am Meer sitze, danach fühle ich mich immer wie neu gebo­ren. Also kann es schon stim­men, das Wan­ger­oo­ger Insel­motto: „Erho­lung ist eine Insel“.

Diese Reise wurde unter­stützt von Tou­ris­mus Wan­ger­ooge.

Emp­feh­lens­werte Unterkünfte:

Villa Marie mit wun­der­schö­nen Zim­mern und Apartments

Hotel Han­ken

Nette Restau­rants & Cafés:

Hotel Han­ken: Fisch- und wei­tere regio­nale Gerichte in der Hauptstraße

Unser Boot: sehr leckere Fleisch­ge­richte am Hauptplatz

Strand­Lust Wan­ger­ooge: Fisch- und wei­tere regio­nale Gerichte, auch sehr geeig­net für eine typisch ost­frie­si­sche Tee­zeit mit Meeresblick

Dig­gers Strand­bar: Tol­les Cafés zum Chil­len direkt auf der Pro­me­nade, bei gutem Wet­ter mit schö­ner Terrasse

Cate­go­riesDeutsch­land
Avatar-Foto
Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert