Paläs­tina, oder bes­ser gesagt das West­jor­dan­land, ist für die meis­ten kein Ort, wo man den Urlaub ver­bringt. Kein Ort, wo man frei her­um­fährt, und erst längst kein Ort, wo man wan­dern geht. Die Gebiete im Nahen Osten las­sen in vie­len Köp­fen Alarm­glo­cken schril­len, beschwö­ren Bil­der von Kämp­fen und Rake­ten her­auf und sind syn­onym mit nicht enden wol­len­den Kon­flik­ten. Und ja, all das ist Paläs­tina auch. Aber wer die Fern­seh­bil­der und Radio­nach­rich­ten im Kopf aus­knipst und ein­fach mal hin­fährt, lernt eine lie­bens­werte Region mit herz­li­chen, gast­freund­li­chen Men­schen ken­nen, wird zum Star von Sel­fies mit paläs­ti­nen­si­schen Groß­fa­mi­lien und kann auf Hun­der­ten von Kilo­me­tern durchs Land wandern.

Jeru­sa­lem für die Sinne

Nachts ist Ost-Jeru­sa­lem, das aus paläs­ti­nen­si­scher Sicht die Haupt­stadt eines künf­ti­gen Paläs­ti­nen­ser­staa­tes sein wird, die Stadt der Kat­zen. Dann fär­ben die Stra­ßen­la­ter­nen die Gas­sen der Alt­stadt Gelb und sie wer­den gleich, das christ­li­che, das jüdi­sche, das mus­li­mi­sche und das arme­ni­sche Vier­tel, durch eine Mauer zusam­men­ge­hal­ten. Ich trete ein durch das Damas­kus­tor, das größte Tor zur Alt­stadt, von wo die Wege ins mus­li­mi­sche und ins christ­li­che Vier­tel führen.

Hier kracht ein Roll­la­den auf den Boden, dort fällt ein Tor äch­zend ins Schloss, wei­ter hin­ten schiebt ein Junge einen lee­ren Kar­ren in einen Gebäu­de­ein­gang. Dann ist Platz für Stille. Ohne Män­ner mit Kippa auf dem Kopf und ohne Frauen mit Kopf­tuch oder Burka legt die Stadt ihre reli­giö­sen Sie­gel ab, wird zu einem Ort, wo der Duft nach ver­schie­de­nen Gewür­zen noch in der Luft hängt, wo die Schat­ten kür­zer sind als die­ses fast jeden Win­kel durch­flu­tende gelbe Licht. Kat­zen schlei­chen über hoch­glanz­po­lierte Steine, krie­chen aus ver­git­ter­ten Fens­tern, aus Müll­ber­gen, aus Haus­rit­zen. Wer­den nur dann hör­bar, wenn ein Rivale ihren Weg kreuzt.

Nachts ist Alt-Jeru­sa­lem ein Ort, wo der Weg das Ziel ist. Meine Füße ent­schei­den, in wel­che Gasse sie als Nächs­tes ein­bie­gen. Ich treibe vor­bei an Syn­ago­gen, Kir­chen und Moscheen, an Stra­ßen­schil­dern, die vom Arme­ni­schen Vier­tel spre­chen, an unzäh­li­gen geschlos­se­nen Läden und manch offe­nem Kiosk. Außer mir sind da kaum Men­schen – oder doch, da lau­fen ein paar Sol­da­ten, Knar­ren über der Schul­ter. Sie plau­dern und lachen.

Und dann stehe ich vor Metall­de­tek­to­ren, muss hin­durch­ge­hen, meine Tasche wird geson­dert durch­leuch­tet. Bevor man in Jeru­sa­lem kla­gen und beten darf, wird man durch­ge­checkt wie am Flug­ha­fen. Zig Male habe ich sie im Fern­se­hen gese­hen, immer wie­der davon gehört, und nun stehe ich selbst davor: vor der Kla­ge­mauer. Gut 48 Meter lang, 19 hoch. Auf den ers­ten Blick nicht viel mehr als auf­ge­bockte Steine, aus denen stel­len­weise Grün­zeug wächst. Die Juden nen­nen sie die ‚west­li­che Mauer‘ oder kurz ‚Kotel‘, doch anfangs war sie viel mehr als eine Mauer: Sie stellte den west­li­chen Teil des Hero­dia­ni­schen Tem­pels von Jeru­sa­lem dar, stammt angeb­lich aus dem Jahre 19 vor Chris­tus. Bereits in der früh­is­la­mi­schen Zeit wuchs rund um die West­mauer ein jüdi­sches Vier­tel, doch erst unter den Osma­nen bekam diese Gemeinde an der Kla­ge­mauer offi­zi­el­les Gebets­recht. Heute steht sie für viele Juden für den ewi­gen Bund Got­tes mit sei­nem Volk.

Rechts beten die Frauen, links die Män­ner. Es ist, als wären die gel­ben Gas­sen so leer, weil ganz Jeru­sa­lem vor der Mauer steht. Unzäh­lige Män­ner mit schwar­zen Anzü­gen oder lan­gen Män­teln und Kippa oder Hut auf dem Kopf, etwas weni­ger Frauen mit lan­gen oder kür­ze­ren Röcken und dicken Jacken. Die meis­ten hal­ten Gebets­bü­cher in der Hand, und wie in Trance schau­keln sie vor und zurück, wäh­rend sie vor sich hin­mur­meln oder aus dem Buch lesen. Unter den Mur­mel-Kanon mischt sich das Schreien von Hun­der­ten von Vögeln, die über dem Schau­spiel vor der Mauer krei­sen, als woll­ten sie den Stim­men der Kla­gen­den mehr Inbrunst ver­lei­hen. Auch als Aus­län­de­rin darf ich mich zu den Frauen gesel­len und schaue zu, wie sie beten, wie man­che sogar Zet­tel in die Rit­zen der Mauer schie­ben, auf die sie Gebete, Wün­sche oder Dank­sa­gun­gen geschrie­ben haben. Dann ent­fer­nen sie sich lang­sam rückwärts.

Am frü­hen Mor­gen ist das gelbe Licht aus den Gas­sen gewi­chen, nur die Kup­pel des Fel­sen­doms auf dem Tem­pel­berg – nach Mekka und Medina die dritt­hei­ligste isla­mi­sche Stätte der Welt – glänzt Gol­den in der Sonne. Der Dom thront als Schrein über dem Fel­sen, von wo aus Muham­mad seine Reise gen Him­mel ange­tre­ten haben soll. Es ist Frei­tag und Nicht­mus­li­men der Zugang an die­sem Tag streng verboten.

Also ziehe ich wie am Vor­abend durch die Gas­sen, und auf ein­mal ist alles anders. Kein Duft nach Gewür­zen, son­dern nach fri­schem Brot hängt über der Stadt, denn an fast jeder Ecke steht ein über­di­men­sio­na­ler Schub­kar­ren, auf dem Brot mit Sesam­kör­nern in Form von Stan­gen oder Krin­geln ver­kauft wird.

Die Kat­zen sind ver­schwun­den, die Men­schen wie­der da. Viele Män­ner mit Kippa auf dem Kopf, mit lan­gen Bär­ten und in schwar­zer Klei­dung eilen durch die Stra­ßen, Frauen mir lan­gen Gewän­dern und Kopf­tü­chern schlep­pen Ein­kaufs­tü­ten zu den Gemüse- und Süßig­keits­ge­schäf­ten. Von den Mina­ret­ten rufen die Muez­zins zum Gebet, irgendwo läu­ten Glo­cken, und ein älte­rer Mann läuft laut sin­gend vor mir her: „Hal­le­luja, Hal­le­lu­ja­aaaaa!“ Dann komme ich an Grup­pen Beten­der vor­bei. Es ist ein biss­chen wie beim Gas­sigang vom Kreuz­fahrt­schiff aus: Der Guide schwingt die Fahne und über­singt alle, ihm fol­gen im Gän­se­marsch Gläu­bige asia­ti­schen Aus­se­hens, die brav aus einem Buch nach­sin­gen und vor einer Kir­che zum Ste­hen kommen.

Erst jetzt wird mir rich­tig bewusst, dass ich in Jeru­sa­lem ja auf Jesus‘ Spu­ren wan­dele. Die Via Dolo­rosa, die am ver­gan­ge­nen Abend Gelb im Lam­pen­schein und von Kat­zen bemannt dalag, ist nun Anzie­hungs­ort Hun­der­ter Gläu­bi­ger, die auf 14 Sta­tio­nen in die angeb­li­chen Fuß­stap­fen von Jesus auf sei­nem Lei­dens­weg von der Ver­ur­tei­lung bis zum Tod am Kreuz wan­deln – ‚angeb­lich‘, weil die genauen geo­gra­fi­schen Bege­ben­hei­ten, wo der Arme nun sein Kreuz schleppte, gar nicht his­to­risch bewie­sen sind. Aber Sou­ve­nir- und Safthänd­ler in der Via Dolo­rosa schla­gen ordent­lich Pro­fit aus dem Mas­sen­an­sturm und las­sen den Weg mit einem fri­schen Karot­ten- oder Oran­gen­saft in der Hand deut­lich weni­ger schmerz­voll werden.

Jeweils am Frei­tag­nach­mit­tag orga­ni­sie­ren Fran­zis­ka­ner die Frei­tags­pro­zes­sion, bei wel­cher der Lei­dens­weg gemein­sam abge­schrit­ten wird und das Beste natür­lich zum Schluss kommt: Die Gra­bes­kir­che, die über Jesus‘ Grab errich­tet wor­den sein soll. Über jenem Grab, aus dem Jesus am drit­ten Tag von den Toten auf­er­stand. Das leere Grab ist noch heute in der Kir­che zu bewun­dern – jeden­falls für alle, die Zeit und Muße mit­brin­gen, bestimmt drei Stun­den Schlange zu ste­hen, um dann mit einem mehr-sekün­di­gen Blick auf das Hei­lig­tum belohnt zu werden.

Ich bin damit zufrie­den, mich ein­mal in die Kir­che rein- und wie­der raus-ell­bo­gen zu las­sen, wobei ich einen Blick auf ein paar Fres­ken zur Sterbe- und Auf­er­ste­hungs­szene sowie auf den pom­pö­sen Schrein überm lee­ren Grab erha­sche. Jesus steht dane­ben und sieht gelang­weilt zu.

Wo Paläs­tina wirk­lich beginnt

Wenn ich es nicht bes­ser wüsste, würde mir Jeru­sa­lem wie eine von vie­len israe­li­schen Städ­ten vor­kom­men. Die Autos haben ‚Israel‘ am Kenn­zei­chen, es wird über­wie­gend Hebrä­isch gespro­chen, fast alles ist auf Hebrä­isch beschrif­tet und man zahlt in She­kels, der israe­li­schen Wäh­rung. Das tut man tief im West­jor­dan­land auch, doch abge­se­hen davon ändert sich eini­ges. Der Weg nach Nor­den führt vor­bei an einem Stück der 759 Kilo­me­ter lan­gen Mauer, bekann­ter als israe­li­sche Sperr­an­lage, die 2010 fer­tig­ge­stellt wurde und die Grenz­li­nie zwi­schen Israel und dem West­jor­dan­land mar­kie­ren soll. Kurz vor Nab­lus, der soge­nann­ten poli­ti­schen Haupt­stadt der Paläs­ti­nen­ser, dann das erste Warn­schild: „Israe­li­sche Bür­ger ver­bo­ten.“ Jetzt haben die Autos blaue statt gel­ber Kenn­zei­chen, ein gro­ßes P mar­kiert wie ein Punkt ihr rech­tes Ende: Paläs­tina. Ich komme mir vor wie vor weni­gen Jah­ren, als ich von Ser­bien in den Kosovo fuhr. Als hätte ich mich an irgend­ei­nen gehei­men Ort geschum­melt, von dem ich eigent­lich nichts erzäh­len darf. Aber ich möchte davon erzäh­len. Nicht, um mit dem Fin­ger zu zei­gen und poli­ti­sche Par­tei zu ergrei­fen, nicht, um die einen Schwarz und die ande­ren Weiß zu malen. Ein­fach, um zu tei­len, was ich in die­sem Teil der Welt mit sei­nem trau­ri­gen Ruf erlebe.

An einem Frei­tag­nach­mit­tag ist nicht viel los in Nab­lus. Der Suq, wo es sonst von Händ­lern und Käu­fern und Waren wim­melt, liegt fast ver­waist unter einer hel­len, gewölb­ten Decke, die bunte Fähn­chen zie­ren. Die meis­ten Geschäfte haben schon geschlos­sen, wer fün­dig oder nicht fün­dig gewor­den ist, geht nach Hause. Über dem Salat­buf­fet in einem Restau­rant hängt ein gerahm­tes Foto von Ara­fat, die Schrift­zei­chen an Geschäf­ten sind auf Ara­bisch, und statt Brot gibt es Kuna­fah, eine Spe­zia­li­tät, die ursprüng­lich aus Nab­lus kom­men soll und aus Quark-arti­gem Käse und Kadayif – fei­nen Teig­fä­den mit Man­del- oder Wall­nuss­fül­lung und Zucker­si­rup – zube­rei­tet wird. Mitt­ler­weile ist sie in der gan­zen ara­bi­schen Welt und auch in der Tür­kei bekannt. Erwach­sene und Kin­der war­ten mit gie­ri­gen Augen, bis auch für sie eine Por­tion auf dem Tel­ler landet.

Mehr­stö­ckige Gebäude, wie helle Bau­klötze, zie­hen sich die Hügel rund um Nab­lus‘ altes Zen­trum hoch, und am Al-Nasr Platz thront das Wahr­zei­chen der Stadt, die An-Nasr Moschee mit ihrer tür­kis­far­be­nen Kuppel.

Ich laufe durch Stra­ßen mit Geschäf­ten, an denen die Jalou­sien run­ter­ge­las­sen sind, nur ein Vater und sein Sohn ste­hen noch mit ihrem Saft­stand am Geh­weg und schi­cken mir ein „Will­kom­men in Paläs­tina!“ mit auf den Weg.  In der Alt­stadt leben die Men­schen in klei­nen Stein­häu­sern, Kin­der spie­len im Freien oder fah­ren Fahr­rad, aus einem Fens­ter winkt mir ein Mann zu.

Bald stehe ich vor der Braik Mill, bezie­hungs­weise Al-Kham­mash Sei­fen­fa­brik, wo neben jeder Menge Gewür­zen auch Nabulsi-Seife ver­kauft wird: Seife, die nur in Nab­lus ent­steht, und zwar aus jung­fräu­li­chem Oli­venöl, Was­ser und einer alka­li­schen Natri­um­mi­schung. Sie hat die Farbe von Elfen­bein und riecht nach nichts. Dafür duf­tet der Kaf­fee, den jeder Besu­cher ange­bo­ten bekommt, umso inten­si­ver. Dass ich bald an einer Kaf­fee-Über­do­sis lei­den soll, schwant mir in die­sem Moment noch nicht, und ich greife dank­bar zu.

Pick­nick mit Palästinensern 

Wenige Kilo­me­ter von Nab­lus ent­fernt liegt Sebas­tia, ein Dorf mit gerade mal 4.000 Ein­woh­nern, doch bekannt für den Kopf von Johan­nes dem Täu­fer, der dort nach des­sen Ent­haup­tung begra­ben wurde. Des­halb errich­tete man an besag­ter Stelle eine Kathe­drale und spä­ter eine Moschee, in deren Kel­ler noch das düs­tere, feuchte Gefäng­nis des Johan­nes zu besich­ti­gen ist.

Sebas­tia steht aber auch für die Rui­nen der anti­ken Königs­stadt Sama­ria – Haupt­stadt des König­reichs Israel seit unge­fähr 876 vor Chris­tus und ab byzan­ti­ni­scher Zeit sich selbst überlassen.

Alte Steine haben mich noch nie wirk­lich begeis­tert, doch es ist etwas ande­res rund um die ver­streu­ten Rui­nen, das mir den Ort sofort sym­pa­thisch macht: Viele ein­hei­mi­sche Fami­lien strö­men zu den Wie­sen ober­halb der Rui­nen, um mit Weit­blick über Oran­gen­bäume und grüne Hügel zu pick­ni­cken – und erst ein­mal mit den sel­te­nen Tou­ris­ten Sel­fies zu schie­ßen. „Darf ich?“ Eine junge Frau in lan­gem Kleid und mit Kopf­tuch kommt mit ihrem Smart­phone auf mich zu, drückt sich an mich und klickt. Schon sind die blonde Deut­sche und die Paläs­ti­nen­se­rin wie dicke Freun­din­nen auf einem Bild ver­ewigt. Ihre Fami­lie fin­det Gefal­len an dem Spiel, auch die Kin­der wol­len mal mit aufs Foto. „Wie gefällt dir Paläs­tina?“ wol­len die Frauen wis­sen – ihr Eng­lisch ist fast akzent­frei. Paläs­tina? Ich bin gerade erst ein paar Stun­den da, aber es fängt an, mir rich­tig gut zu gefallen.

Der Guide zieht wei­ter, erzählt etwas über die Über­reste eines römi­schen Thea­ters, was ich Sekun­den spä­ter wie­der ver­ges­sen habe. Ich sehe den Fami­lien nach, die mit ihren Taschen und Kör­ben und Decken auf die Wie­sen zuhal­ten, wünschte, ich könnte mehr Zeit mit ihnen ver­brin­gen. Und dann ist es, als würde Gott oder Allah oder wer jetzt an die­ser Stelle gerade zustän­dig ist, mein Sin­nen erhö­ren: Eine Groß­fa­mi­lie winkt mir von ihrem gemüt­li­chen Schat­ten­platz unter Bäu­men zu, winkt mich heran. Der Guide und die Tour sind sofort ver­ges­sen. Fast jeder in der Fami­lie spricht zumin­dest etwas Eng­lisch, doch im Gegen­satz zu Rui­nen braucht Gast­freund­schaft ohne­hin keine Worte: Kaum nähere ich mich der über­di­men­sio­na­len Decke, habe ich schon eine Hand vol­ler Nüsse, in der ande­ren einen Papp­be­cher mit Kaf­fee. „Nun setz dich doch!“, drän­gen mich die Frauen, und ich bin mit­ten­drin. Bekomme erklärt, wer mit wem wie ver­wandt ist, wer Schwes­tern oder Cou­sins sind, und Ghes­san, den ich auf Ende 40 schätze und der wohl das Fami­li­en­ober­haupt ist, reißt nun auch die Packung mit dem Süß­kram für mich auf.

„Wir woh­nen in Nab­lus, meine Cou­si­nen hier in Hebron“, erklärt Ghes­san, und bald gesellt sich auch sein sech­zehn­jäh­ri­ger Sohn zu uns. „Ich möchte unbe­dingt in Deutsch­land Medi­zin stu­die­ren, meinst du, das geht?“, will er von mir wis­sen. Elek­tri­ker wie sein Vater will er auf kei­nen Fall wer­den. Minu­ten spä­ter habe ich Ein­la­dun­gen nach Nab­lus und Hebron, die Fami­lie will mehr über mich wis­sen, über Deutsch­land. Doch die wich­tigste Frage lau­tet „Wie gefällt dir Paläs­tina?“ Die jün­ge­ren Frauen kichern, die älte­ren rei­chen mir Tüten vol­ler Lecke­reien. Ich bin der Ehren­gast ohne Ein­la­dung. Die Fremde, die plötz­lich nicht mehr fremd ist, auch wenn sie äußer­lich wie ein Yoga­an­fän­ger in einer Gruppe Kopf­stand-Erfah­re­ner auf der Matte sitzt. Kurz über­lege ich, was wohl pas­sie­ren würde, wenn ich in Deutsch­land mal völ­lig Fremde spon­tan zu einem Pick­nick ein­lüde. Wahr­schein­lich würde man mir mit Miss­trauen begeg­nen, weil es an einem Ort, wo es von allem zu viel und zu viele gibt, nicht nor­mal ist, sich noch offen und herz­lich zu zei­gen. Die Paläs­ti­nen­ser kön­nen sich diese Frei­heit noch erlau­ben. Hier sind Fremde noch eine Kurio­si­tät, sind gewünscht, man freut sich über sie wie Schnee­kö­nige. Das ist mir schon ein­mal pas­siert: im Kosovo. Ob ich am bes­ten in die Län­der mit dem schlech­tes­ten Ruf fahre, um noch echte Herz­lich­keit zu erle­ben und mich nicht wie ein Stö­ren­fried oder wie ein wei­te­res Glied der end­lo­sen Tou­ris­ten-Pro­fit-Maschine zu fühlen?

Und wenn der Guide nicht gedrängt hätte, wei­ter­zu­fah­ren, würde ich wahr­schein­lich noch heute bei Ghes­san und sei­ner Fami­lie sit­zen. Statt­des­sen finde ich mich wenige Stun­den spä­ter im Dorf Duma wie­der, wo Ibte­halt und ihr Mann Abe­dal­ra­hem vor fünf Jah­ren einen Homestay eröff­net haben. Die acht­jäh­rige Toch­ter Fati­mah, eins von fünf Kin­dern, hilft dabei, den Tisch zu decken. Ibte­halt sitzt neben mir, wäh­rend ich mir ihr köst­li­ches Huhn­ge­richt mit Reis, Salat und selbst­ge­ba­cke­nem Brot ein­ver­leibe. „Ich habe bis zur Geburt mei­ner Kin­der als Eng­lisch­leh­re­rin gear­bei­tet“, berich­tet sie, was erklärt, warum sie im Gegen­satz zu ihrem Mann flie­ßend Eng­lisch spricht. „Mein Mann arbei­tet auf dem Bau auf der israe­li­schen Seite und muss jeden Mor­gen um drei Uhr auf­ste­hen, weil er andert­halb Stun­den braucht, den Check­point zu pas­sie­ren. Dafür bezahlt er jeden Tag 100 She­kels.“ Etwa 25 Euro. Gegen sechs sei er dann wie­der zu Hause.

Es ist das erste Mal, dass ich etwas über das All­tags­le­ben von Paläs­ti­nen­sern erfahre. Ihr Land ist in A,- B- und C‑Zonen auf­ge­teilt, wobei die etwa 18% A‑Zonen große paläs­ti­nen­si­sche Städte umfas­sen, die theo­re­tisch auto­nom ver­wal­tet wer­den, wo die israe­li­sche Mili­tär­ver­wal­tung aber bei Bedarf ein­grei­fen kann. Zur den 20% B‑Zone zäh­len Klein­städte, die in zivi­len Berei­chen über Auto­no­mie ver­fü­gen, in Sicher­heits­fra­gen aber mit Israel koope­rie­ren. Und dann gibt es die große C‑Zone unter israe­li­scher Kon­trolle. Um sich zwi­schen den Zonen zu bewe­gen, müs­sen immer wie­der Check­points und Stra­ßen­sper­ren pas­siert wer­den, die halt oft auch auf dem täg­li­chen Weg zur Arbeit lie­gen, wie bei Abe­dal­ra­hem. Ibte­halt spricht dar­über, wie die Men­schen im Kosovo über die Ser­ben gespro­chen haben: in einer ent­spann­ten Ist-halt-so und Shit-hap­pens-Manier, der es wohl zu ver­dan­ken ist, dass die Fami­lie sich ganz gut im All­tag schlägt. Fati­mah ist dage­gen ent­täuscht, dass die­ses Mal kein Schwei­zer Besu­cher dabei ist: „Die brin­gen immer die beste Scho­ko­lade mit!“

Paläs­ti­nen­si­sches Bier

Bier und Wein aus Paläs­tina? Gibt es! Im klei­nen Ort Tay­beh, süd­lich von Nab­lus. Dort eröff­nete 1994 die erste paläs­ti­nen­si­sche Mikro­braue­rei von David und Nadim Khoury, die 20 Jahre in den USA ver­bracht hat­ten und sich schließ­lich von ihrem Vater inspi­rie­ren lie­ßen, die erste Mikro­braue­rei im Mitt­le­ren Osten zu eröff­nen – die Erlaub­nis dazu beka­men sie in den 90ern von Israel, das damals die Kon­trolle über das Gebiet hatte, spä­ter von Ara­fat, als Tay­beh wie­der unter paläs­ti­nen­si­sche Ver­wal­tung fiel. Mit der Braue­rei woll­ten sie die hei­mi­sche Wirt­schaft und gleich­zei­tig das Natio­nal­ge­fühl stär­ken. Obwohl Mus­lims tra­di­tio­nell kei­nen Alko­hol trin­ken, ver­bleibt etwa die Hälfte des gebrau­ten Biers im West­jor­dan­land, der andere Teil wird nach Israel gebracht und nur ein klei­ner Rest exportiert.

2013 eröff­nete die Fami­lie zusätz­lich eine Wein­kel­le­rei in Tay­beh, und 2015 direkt nebenan das Gol­den Hotel, das auch Werke paläs­ti­nen­si­scher Künst­ler aus­stellt. Maria Khoury, Davids Ehe­frau mit grie­chisch-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln, führt Hotel­gäste auf Wunsch durch die Wein­kel­le­rei und zeigt stolz die hoch­glanz­po­lierte, aus Ita­lien impor­tierte Ausrüstung.

In Holz­fäs­sern lagert sowohl Rot- als auch Weiß­wein, doch die Wein­pro­duk­tion ist nicht ganz ein­fach für die Fami­lie: „Wir müs­sen viel Was­ser in Tanks sam­meln, weil wir manch­mal fünf Tage lang kein flie­ßen­des Was­ser bekom­men.“ Und doch hat sie bis­her allen Schwie­rig­kei­ten erfolg­reich gestrotzt und erfreut sich in der Gemeinde gro­ßer Beliebt­heit: „Im Herbst orga­ni­sie­ren wir immer ein Okto­ber­fest, das ist eine große Party für alle – auch für die, die kei­nen Alko­hol trin­ken. Dann gibt es eben alko­hol­freies Bier.“ Die Weine tra­gen alle­samt den Namen Nadim, nach Marias Schwa­ger – Nadim Mer­lot, Nadim Sau­vi­gnon Blanc und so wei­ter. Ich pro­biere einen der Rot­weine. Ein Wein­ken­ner bin ich nicht, aber auch die, die was vom Wein ver­ste­hen, sind einer Mei­nung: paläs­ti­nen­si­schen Wein aus Tay­beh? Kann man trinken.

Wan­dern mit Abraham 

Alle bezie­hen sich auf Abra­ham als ihren Stamm­va­ter – Juden, Chris­ten und Mos­lems. Ihm wer­den Groß­her­zig­keit und Offen­heit nach­ge­sagt. Umso tref­fen­der erscheint es, dass Paläs­ti­nas längs­ter, 2017 eröff­ne­ter Wan­der­weg, den Namen Masar Ibra­him trägt und auf gemein­schafts­ba­sier­ten Tou­ris­mus setzt – mit Ver­pfle­gung und Unter­kunft bei Ein­hei­mi­schen. Der Weg reicht auf 330 Kilo­me­tern vom Dorf Rum­mana nord­west­lich von Jenin bis nach Beit Mir­sim in Hebron, über Nab­lus, Jeri­cho und Beth­le­hem. Die paläs­ti­nen­si­sche Tou­ris­mus­be­hörde bewirbt ihn als „Weg durch die Geschichte“, ich sehe ihn als Mög­lich­keit, das West­jor­dan­land voll­kom­men uner­war­tet auch als Wan­der­ziel für mich zu entdecken.

Meine Etappe beginnt unweit von Tay­beh in Ain Samia, wo der Weg durch Fel­der vol­ler Zatar führt – einem Gewürz, das gern mit Oli­venöl gemischt und vorm Backen auf Fla­den­brot gestri­chen wird, das aber auch auf Fleisch gege­ben oder als Dip genutzt wird. Als Wan­der­füh­rer ist der Ein­hei­mi­sche Anour dabei, der eigent­lich fürs Bil­dungs­mi­nis­te­rium arbei­tet, aber in sei­ner Frei­zeit gern Besu­cher durch die Land­schaf­ten sei­ner Hei­mat führt. Immer wie­der bleibt er ste­hen, zeigt auf Details am Weges­rand: „Schaut mal, diese Pflanze heißt Aron­stab, sie ist gut gegen Krebs.“ Über­haupt sei das Land in die­ser Region sehr frucht­bar, man ernte viele Rüben, Toma­ten und ande­res Gemüse und ver­kaufe sie auf dem Markt in Ramal­lah. „Es gibt hier viel Was­ser, und weil sich Was­ser immer im Tal sam­melt, befin­den sich auch paläs­ti­nen­si­sche Sied­lun­gen grund­sätz­lich im Tal.“

Graue Steine ent­lang des Weges ent­pup­pen sich als Über­reste einer alten byzan­ti­ni­schen Kir­che, dann begeg­nen wir Noma­den mit ihren Scha­fen und Zie­gen, die vor uns einen klei­nen Fluss durchqueren.

Über einen Berg­rü­cken geht es hinab ins Wadi al-’Auja, ein stei­les, holp­ri­ges Wadi, das bis nach Ein al-’Auja führt, der Al-’Auja Quelle am Jor­dan­gra­ben, etwa 50 Meter unter dem Mee­res­spie­gel. Wie die Wie­sen rund um Sebas­tia, sind auch die Quel­len ein Pick­nick-Hot­spot für lokale Fami­lien, die voll­kom­men beklei­det im küh­len Nass plant­schen – und sich so über die Ankunft der Exo­ten in ihrer Wan­der­funk­ti­ons­klei­dung freuen, dass wie­der etli­che Sel­fies geschos­sen wer­den. Nach den Quel­len geht es vor­bei an einem alten römi­schen Aquä­dukt, das genutzt wurde, um Was­ser von Ein Al-’Auja nach Jeri­cho zu leiten.

Mit­tag­essen gibt es in einem Bedui­nen­zelt in der Al-’Auja Gemeinde bei der Fami­lie von Abu Habish, wo eine Schar Kin­der die aus­län­di­schen Gäste erst ein­mal inspi­ziert. Schon wird das Fest­mahl auf­ge­tischt, aus Hüh­ner­keu­len, Reis, Salat und Jogurt-Dip, das die aus­ge­hun­ger­ten Wan­de­rer auf Matrat­zen am Boden sit­zend zu sich neh­men. Nur zögernd kommt die schüch­terne Haus­frau in vio­let­tem Kleid und gleich­far­bi­gem Kopf­tuch aus der Küche, um unser Lob zu empfangen.

Und wer danach noch Ener­gie hat, kann bis nach Jeri­cho wei­ter­lau­fen. In die tiefst­ge­le­gene Stadt der Welt, 250 Meter unterm Mee­res­spie­gel. Ob Jeri­cho auch die älteste Stadt der Welt ist, ist aller­dings nicht belegt. Vom Namen her ist sie mir nur aus der Bibel geläu­fig, da die Herr­scher Jeru­sa­lems im Win­ter das wär­mere Klima Jeri­chos genos­sen. Im Wes­ten der Stadt erhebt sich der Berg der Ver­su­chung, an des­sen Fel­sen sich das grie­chisch-ortho­doxe Klos­ter Qaran­tal klammert.

Viel hat Jeri­cho dar­über hin­aus nicht zu bie­ten – nur wei­tere lächelnde Men­schen, die sich über jeden Besu­cher freuen. An einem Dat­tel- und Saft­stand schenkt mir ein Ver­käu­fer eine Orange, wäh­rend er begeis­tert erzählt, dass er mal in Deutsch­land gear­bei­tet habe und das Land liebe. „Jetzt bin ich 70 Jahre alt, aber ich fühle mich wie 50!“ Es sind diese klei­nen Begeg­nun­gen, die ich ein­wickle und mit nach Hause nehme. Genau wie den Pick­nick-Moment. Wie das Win­ken der beklei­det im Quell­was­ser baden­den Locals. Wie die Freude in Maria Khou­rys Augen, als ich ihr eine Fla­sche Wein abkaufe. Der Rest ist Kulisse.

Wer im West­jor­dan­land wan­dert, muss auch ein­mal bei Bedui­nen über­nach­ten – bei­spiels­weise bei Bedui­nen­füh­rer Jameel und sei­ner Fami­lie in der soge­nann­ten ‚Sea Level Com­mu­nity‘ am Wadi Qateef nahe der Straße von Jeru­sa­lem nach Jeri­cho. Dort gibt der Boden wäh­rend der Win­ter- und Früh­jahrs­mo­nate am meis­ten Fut­ter für die Schafe und Zie­gen der Bedui­nen ab. Wir kom­men bei Dun­keln an, nur die mit­ge­brach­ten Taschen­lam­pen leuch­ten uns den Weg zu den Hüt­ten. Fast stol­pern wir über einige auf dem Weg ste­hende Zie­gen, die sich in letz­ter Sekunde laut­hals beschwe­ren. Die Über­nach­tung erfolgt nach denk­bar ein­fa­chem Prin­zip, wie es die Bedui­nen selbst auch gewohnt sind: Man schnappt sich eine Matratze und legt sie da aus, wo Platz ist. Viel­leicht in einem der über­dach­ten Räume des impro­vi­sier­ten Hau­ses, viel­leicht unter dem vorne offe­nen Gemein­schafts­zelt, wo das Essen – Zarb, Huhn­fleisch, das in einem Ofen unter der Erde gart – für die Nacht weg­ge­räumt und die Matrat­zen im Anschluss aus­ge­rollt wer­den. Sess­haft sind Jameel und seine Fami­lie noch immer nicht. „Frü­her leb­ten wir in der Negev-Wüste in Israel, wur­den dort aber ab 1948 nach und nach ver­trie­ben, also sie­del­ten wir uns in der Wild­nis rund um Jeru­sa­lem an“, erzählt Jameel. „Flücht­lings­la­ger kamen für uns nie in Frage, wir wol­len unse­ren tra­di­tio­nel­len Lebens­stil bewahren!“

Erst am nächs­ten Mor­gen sehe ich, wo wir genau sind: irgendwo in der Wüste. Die Hüt­ten von Jameel lie­gen umge­ben von durs­ti­gen Hügeln, bei den Nach­barn hängt schon Wäsche auf der Leine, ein wei­ßer Esel sucht dane­ben ver­ge­bens nach Futter.

Tie­fer hin­ein in die Wüste geht es auf der nächs­ten Wan­de­rung – dort­hin, wo außer dür­rer Erde nur noch Kamele hei­misch sind. Doch je näher wir dem grie­chisch-ortho­do­xen Klos­ter Saint Sabas kom­men, nach dem Hei­li­gen Sabas benannt und 483 gegrün­det, desto grü­ner wird es. Schon von Wei­tem hebt sich das ins Gestein gehauene Klos­ter fes­tungs­ar­tig vom Hin­ter­grund ab. Heute wird es angeb­lich nur noch von zwei Hand­voll Mön­chen bewohnt – die es sich aber gut­ge­hen las­sen und selbst Wein pro­du­zie­ren. Frauen ist der Zutritt nicht gestat­tet, man sagt, der Hei­lige Saba habe keine Frauen gemocht und selbst seine Mut­ter nicht rein­ge­las­sen. Und so blei­ben wir nach dem stei­len, rut­schi­gen Abstieg zum Klos­ter dumm vor der Tür sit­zen, wäh­rend Män­ner und Kat­zen fröh­lich hineinspazieren.

Beth­le­hem: Jesus und Mauer

Beth­le­hem ist eine son­der­bare Stadt – und gerade des­we­gen wird sie zu dem Ort in Paläs­tina, der mich am meis­ten berührt. Die kleine Alt­stadt domi­nie­ren Sou­ve­nir­lä­den, die Jesus-Figu­ren und Hei­li­gen­bil­der ver­hö­kern, die Tou­ris­ten, die zu Hun­der­ten aus den Bus­sen raus und in die Geburts­kir­che von Jesus hin­ein­schwem­men, lie­bend gern aufkaufen.

Die Geburts­kir­che ist der Gegen­part zur Gra­bes­kir­che in Jeru­sa­lem: end­lose Schlan­gen durch die halbe Kir­che, um einen Blick auf die tra­di­tio­nelle, mit einem Stern mar­kierte Stelle zu wer­fen, wo das Chris­tus­kind gele­gen haben soll und über der ein Altar thront. Trotz tur­bu­len­ter Geschichte ist die Geburts­kir­che die älteste erhal­tene und nach wie vor genutzte Kir­che des Hei­li­gen Lan­des. Dabei ist längst nicht bewie­sen, dass Jesus wirk­lich dort gebo­ren wurde – Wis­sen­schaft­ler bezwei­feln dies. Wie dem auch sei, Gläu­bi­gen aus aller Welt schenkt die über der Geburts­stelle errich­tete Kir­che einen Ort zum Anfas­sen, einen Ort, wo sie sich einem Jesus aus Fleisch und Blut ganz nahe füh­len und die Glas­scheibe über der Stelle küs­sen dür­fen, wo das Baby gele­gen haben soll. Ob dies im Nach­hin­ein zu stei­gen­dem Lebens­glück oder bes­se­rer Gesund­heit führt oder ledig­lich zu Her­pes, steht in den Sternen.

Auch ich haue mir fast eine Beule in den Kopf, als mir wenige Sekun­den ver­gönnt sind, unter den Altar zu krie­chen und den Spot der Spots zu bewun­dern, aber was mich in Beth­le­hem wirk­lich beein­druckt, ist etwas ganz ande­res. Es ist die israe­li­sche Sperr­an­lage, die für mich hier, in Beth­le­hem, ein paar Kilo­me­ter von der Alt­stadt ent­fernt, eine Form bekommt: die Form einer acht Meter hohen Mauer, die Beth­le­hem von Jeru­sa­lem und paläs­ti­nen­si­schen Dör­fern trennt.

Wäh­rend ich das graue Unge­tüm hin­ab­spa­ziere, das unzäh­lige Künst­ler mit Graf­fiti und Bild-Bot­schaf­ten ver­ziert haben, begreife ich erst­mals, was die Ber­li­ner Mauer bedeu­tet haben muss. Fühle mich an die Grenze zwi­schen Nord- und Süd­ko­rea erin­nert. Ein stän­di­ger Kno­ten im Hals beglei­tet mich, als ich immer wie­der ste­hen­bleibe und lese, was dort geschrie­ben steht. Inter­pre­tiere, was die Bil­der aus­sa­gen sol­len. Eine Frau mit Kopf­tuch, die fröh­lich lachend eine paläs­ti­nen­si­sche Fahne schwingt. Ein Mäd­chen, das mit Sta­chel­draht Seil hüpft. Trump, der den Wach­turm umarmt, als wollte er ihn küs­sen. Einige Bil­der stam­men vom gro­ßen Stra­ßen­künst­ler Banksy, der 2017 ein Hotel mit dem wohl häss­lichs­ten Aus­blick der Stadt eröff­nete: das Wal­led off Hotel mit direk­tem Mau­er­blick, wo jedes Zim­mer Kunst des Meis­ters aus­stellt und auch paläs­ti­nen­si­sche Künst­ler die Chance haben, ihre Kunst einem Publi­kum zugäng­lich zu machen.

Aber es gibt nicht nur ein Banksy-Hotel, son­dern auch einen Banksy-Laden, den ‚Shop behind the wall‘, betrie­ben von dem 28-jäh­ri­gen Paläs­ti­nen­ser Hamm­oud Abdalla, kurz Moody, der in sei­nem Laden Mau­er­kunst auf T‑Shirts, Post­kar­ten und Pos­tern ver­kauft. Ein Kunst­werk hat er selbst auf die Mauer gemalt: den Spruch ‚Make Hum­mus, not walls‘.

Was es mit dem gro­ßen Por­trät eines jun­gen Mäd­chens direkt dane­ben auf sich hat, erklärt er mir am Abend in einer Shi­sha-Bar: „Das Mäd­chen ist die 16-jäh­rige Ahed Tamimi, die 2017 fest­ge­nom­men wurde, weil sie einem israe­li­schen Sol­da­ten ins Gesicht geschla­gen und andere Delikte began­gen hatte.“ Aus Zei­chen für Soli­da­ri­tät und Respekt kam ein Kum­pel Moo­dys, der bekannte ita­lie­ni­sche Stra­ßen­künst­ler Jorit, nach Beth­le­hem, um den Tag vor Aheds Frei­las­sung das Por­trät auf die Wand zu malen – ein Akt, für den er bei­nahe ver­haf­tet wor­den sei.

Am nächs­ten Mor­gen stehe ich extra früh auf, um mir die Mauer noch ein­mal bei Tages­licht anzu­se­hen und bis zum Aida Flücht­lings­la­ger zu lau­fen, das 1950 ent­stand und wo über 1.100 Geflüch­tete aus der Region um Jeru­sa­lem und Hebron in Zel­ten leb­ten. Ich gehe alleine los, frage einen Taxi­fah­rer nach dem Weg, der mir in gutem Eng­lisch ant­wor­tet. Der Weg führt an der Mauer ent­lang, vor­bei an wei­te­ren Bil­dern, die ein Zei­chen set­zen sol­len, teils vol­ler Ver­zweif­lung, teils vol­ler Hoff­nung. Der Gestank von Müll­ber­gen steigt mir in die Nase, vor dem Bild von schie­ßen­den Sol­da­ten spa­ziert eine schwarze Katze über einen Mau­er­vor­sprung, wei­ter oben lässt ein ein­sa­mes Pferd den Kopf hängen.

Im Aida-Vier­tel ste­hen heute ein­fa­che Häu­ser, die in der ers­ten Reihe genie­ßen den­sel­ben Blick wie die Gäste des Wal­led off Hotels. Ich begebe mich tie­fer hin­ein in die Gas­sen, wo Müll her­um­liegt und Kin­der zur Schule gehen und Jugend­li­che vor einem Laden abhän­gen. Ein klei­ner Junge beglei­tet mich einen Teil mei­nes Weges, will wis­sen, wie ich heiße. Er sei Ahmad.

Angst habe ich keine, wie ich sie auch an den Tagen zuvor nie ver­spürt habe. Mich tref­fen viele neu­gie­rige, aber wohl­wol­lende Bli­cke, alle erwi­dern mei­nen Gruß. „Salam“. Hallo. Paläs­tina ist einer der Orte, für des­sen Besuch mir daheim Eigen­schaf­ten wie ‚Ver­rückt­heit‘, aber auch ‚Mut‘ zuge­schrie­ben wer­den. Wie schon vor fast 15 Jah­ren in Kolum­bien. Wie vor vier Jah­ren im Kosovo. Und wie­der ein­mal stelle ich fest, dass ich auch in Paläs­tina, wie schon in den bei­den Län­dern davor, keins von bei­den brau­che. Weil Ver­rückt­heit und Mut unnö­tig sind, wo Offen­heit, Gast­freund­schaft und Herz­lich­keit so nor­mal sind wie ein muf­fi­ges „Moin“ in Ham­burg. Aber das kann nur ver­ste­hen, wer den Fern­se­her mal abstellt und sich auf die Reise macht.

 

Diese Reise wurde orga­ni­siert von ATTA Adven­ture Trade Tra­vel Asso­cia­tion, eine der füh­ren­den Stim­men welt­weit und Part­ner für das Aben­teu­er­reise-Gewerbe. Die Tour durch das West­jor­dan­land fand mit dem loka­len Anbie­ter Siraj Cen­ter statt, der auch Wan­der­tou­ren im West­jor­dan­land organisiert.

Emp­feh­lens­werte Unterkünfte:

Jeru­sa­lem: Gol­den Walls Hotel 

Tybeh: Tay­beh Gol­den Hotel 

Beth­le­hem: Jacir Palace Hotel 

 

Cate­go­riesPaläs­tina
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

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