Urlaub in Palästina

Paläs­ti­na, oder bes­ser gesagt das West­jor­dan­land, ist für die meis­ten kein Ort, wo man den Urlaub ver­bringt. Kein Ort, wo man frei her­um­fährt, und erst längst kein Ort, wo man wan­dern geht. Die Gebie­te im Nahen Osten las­sen in vie­len Köp­fen Alarm­glo­cken schril­len, beschwö­ren Bil­der von Kämp­fen und Rake­ten her­auf und sind syn­onym mit nicht enden wol­len­den Kon­flik­ten. Und ja, all das ist Paläs­ti­na auch. Aber wer die Fern­seh­bil­der und Radio­nach­rich­ten im Kopf aus­knipst und ein­fach mal hin­fährt, lernt eine lie­bens­wer­te Regi­on mit herz­li­chen, gast­freund­li­chen Men­schen ken­nen, wird zum Star von Sel­fies mit paläs­ti­nen­si­schen Groß­fa­mi­li­en und kann auf Hun­der­ten von Kilo­me­tern durchs Land wan­dern.

Jeru­sa­lem für die Sin­ne

Nachts ist Ost-Jeru­sa­lem, das aus paläs­ti­nen­si­scher Sicht die Haupt­stadt eines künf­ti­gen Paläs­ti­nen­ser­staa­tes sein wird, die Stadt der Kat­zen. Dann fär­ben die Stra­ßen­la­ter­nen die Gas­sen der Alt­stadt Gelb und sie wer­den gleich, das christ­li­che, das jüdi­sche, das mus­li­mi­sche und das arme­ni­sche Vier­tel, durch eine Mau­er zusam­men­ge­hal­ten. Ich tre­te ein durch das Damas­kus­tor, das größ­te Tor zur Alt­stadt, von wo die Wege ins mus­li­mi­sche und ins christ­li­che Vier­tel füh­ren.

Hier kracht ein Roll­la­den auf den Boden, dort fällt ein Tor äch­zend ins Schloss, wei­ter hin­ten schiebt ein Jun­ge einen lee­ren Kar­ren in einen Gebäu­de­ein­gang. Dann ist Platz für Stil­le. Ohne Män­ner mit Kip­pa auf dem Kopf und ohne Frau­en mit Kopf­tuch oder Bur­ka legt die Stadt ihre reli­giö­sen Sie­gel ab, wird zu einem Ort, wo der Duft nach ver­schie­de­nen Gewür­zen noch in der Luft hängt, wo die Schat­ten kür­zer sind als die­ses fast jeden Win­kel durch­flu­ten­de gel­be Licht. Kat­zen schlei­chen über hoch­glanz­po­lier­te Stei­ne, krie­chen aus ver­git­ter­ten Fens­tern, aus Müll­ber­gen, aus Haus­rit­zen. Wer­den nur dann hör­bar, wenn ein Riva­le ihren Weg kreuzt.

Nachts ist Alt-Jeru­sa­lem ein Ort, wo der Weg das Ziel ist. Mei­ne Füße ent­schei­den, in wel­che Gas­se sie als Nächs­tes ein­bie­gen. Ich trei­be vor­bei an Syn­ago­gen, Kir­chen und Moscheen, an Stra­ßen­schil­dern, die vom Arme­ni­schen Vier­tel spre­chen, an unzäh­li­gen geschlos­se­nen Läden und manch offe­nem Kiosk. Außer mir sind da kaum Men­schen – oder doch, da lau­fen ein paar Sol­da­ten, Knar­ren über der Schul­ter. Sie plau­dern und lachen.

Und dann ste­he ich vor Metall­de­tek­to­ren, muss hin­durch­ge­hen, mei­ne Tasche wird geson­dert durch­leuch­tet. Bevor man in Jeru­sa­lem kla­gen und beten darf, wird man durch­ge­checkt wie am Flug­ha­fen. Zig Male habe ich sie im Fern­se­hen gese­hen, immer wie­der davon gehört, und nun ste­he ich selbst davor: vor der Kla­ge­mau­er. Gut 48 Meter lang, 19 hoch. Auf den ers­ten Blick nicht viel mehr als auf­ge­bock­te Stei­ne, aus denen stel­len­wei­se Grün­zeug wächst. Die Juden nen­nen sie die ‚west­li­che Mau­er‘ oder kurz ‚Kotel‘, doch anfangs war sie viel mehr als eine Mau­er: Sie stell­te den west­li­chen Teil des Hero­dia­ni­schen Tem­pels von Jeru­sa­lem dar, stammt angeb­lich aus dem Jah­re 19 vor Chris­tus. Bereits in der früh­is­la­mi­schen Zeit wuchs rund um die West­mau­er ein jüdi­sches Vier­tel, doch erst unter den Osma­nen bekam die­se Gemein­de an der Kla­ge­mau­er offi­zi­el­les Gebets­recht. Heu­te steht sie für vie­le Juden für den ewi­gen Bund Got­tes mit sei­nem Volk.

Rechts beten die Frau­en, links die Män­ner. Es ist, als wären die gel­ben Gas­sen so leer, weil ganz Jeru­sa­lem vor der Mau­er steht. Unzäh­li­ge Män­ner mit schwar­zen Anzü­gen oder lan­gen Män­teln und Kip­pa oder Hut auf dem Kopf, etwas weni­ger Frau­en mit lan­gen oder kür­ze­ren Röcken und dicken Jacken. Die meis­ten hal­ten Gebets­bü­cher in der Hand, und wie in Trance schau­keln sie vor und zurück, wäh­rend sie vor sich hin­mur­meln oder aus dem Buch lesen. Unter den Mur­mel-Kanon mischt sich das Schrei­en von Hun­der­ten von Vögeln, die über dem Schau­spiel vor der Mau­er krei­sen, als woll­ten sie den Stim­men der Kla­gen­den mehr Inbrunst ver­lei­hen. Auch als Aus­län­de­rin darf ich mich zu den Frau­en gesel­len und schaue zu, wie sie beten, wie man­che sogar Zet­tel in die Rit­zen der Mau­er schie­ben, auf die sie Gebe­te, Wün­sche oder Dank­sa­gun­gen geschrie­ben haben. Dann ent­fer­nen sie sich lang­sam rück­wärts.

Am frü­hen Mor­gen ist das gel­be Licht aus den Gas­sen gewi­chen, nur die Kup­pel des Fel­sen­doms auf dem Tem­pel­berg – nach Mek­ka und Medi­na die dritt­hei­ligs­te isla­mi­sche Stät­te der Welt – glänzt Gol­den in der Son­ne. Der Dom thront als Schrein über dem Fel­sen, von wo aus Muham­mad sei­ne Rei­se gen Him­mel ange­tre­ten haben soll. Es ist Frei­tag und Nicht­mus­li­men der Zugang an die­sem Tag streng ver­bo­ten.

Also zie­he ich wie am Vor­abend durch die Gas­sen, und auf ein­mal ist alles anders. Kein Duft nach Gewür­zen, son­dern nach fri­schem Brot hängt über der Stadt, denn an fast jeder Ecke steht ein über­di­men­sio­na­ler Schub­kar­ren, auf dem Brot mit Sesam­kör­nern in Form von Stan­gen oder Krin­geln ver­kauft wird.

Die Kat­zen sind ver­schwun­den, die Men­schen wie­der da. Vie­le Män­ner mit Kip­pa auf dem Kopf, mit lan­gen Bär­ten und in schwar­zer Klei­dung eilen durch die Stra­ßen, Frau­en mir lan­gen Gewän­dern und Kopf­tü­chern schlep­pen Ein­kaufs­tü­ten zu den Gemü­se- und Süßig­keits­ge­schäf­ten. Von den Mina­ret­ten rufen die Muez­zins zum Gebet, irgend­wo läu­ten Glo­cken, und ein älte­rer Mann läuft laut sin­gend vor mir her: „Hal­le­lu­ja, Hal­le­lu­ja­aaaaa!“ Dann kom­me ich an Grup­pen Beten­der vor­bei. Es ist ein biss­chen wie beim Gas­sigang vom Kreuz­fahrt­schiff aus: Der Gui­de schwingt die Fah­ne und über­singt alle, ihm fol­gen im Gän­se­marsch Gläu­bi­ge asia­ti­schen Aus­se­hens, die brav aus einem Buch nach­sin­gen und vor einer Kir­che zum Ste­hen kom­men.

Erst jetzt wird mir rich­tig bewusst, dass ich in Jeru­sa­lem ja auf Jesus‘ Spu­ren wan­de­le. Die Via Dolo­ro­sa, die am ver­gan­ge­nen Abend Gelb im Lam­pen­schein und von Kat­zen bemannt dalag, ist nun Anzie­hungs­ort Hun­der­ter Gläu­bi­ger, die auf 14 Sta­tio­nen in die angeb­li­chen Fuß­stap­fen von Jesus auf sei­nem Lei­dens­weg von der Ver­ur­tei­lung bis zum Tod am Kreuz wan­deln – ‚angeb­lich‘, weil die genau­en geo­gra­fi­schen Bege­ben­hei­ten, wo der Arme nun sein Kreuz schlepp­te, gar nicht his­to­risch bewie­sen sind. Aber Sou­ve­nir- und Safthänd­ler in der Via Dolo­ro­sa schla­gen ordent­lich Pro­fit aus dem Mas­sen­an­sturm und las­sen den Weg mit einem fri­schen Karot­ten- oder Oran­gen­saft in der Hand deut­lich weni­ger schmerz­voll wer­den.

Jeweils am Frei­tag­nach­mit­tag orga­ni­sie­ren Fran­zis­ka­ner die Frei­tags­pro­zes­si­on, bei wel­cher der Lei­dens­weg gemein­sam abge­schrit­ten wird und das Bes­te natür­lich zum Schluss kommt: Die Gra­bes­kir­che, die über Jesus‘ Grab errich­tet wor­den sein soll. Über jenem Grab, aus dem Jesus am drit­ten Tag von den Toten auf­er­stand. Das lee­re Grab ist noch heu­te in der Kir­che zu bewun­dern – jeden­falls für alle, die Zeit und Muße mit­brin­gen, bestimmt drei Stun­den Schlan­ge zu ste­hen, um dann mit einem mehr-sekün­di­gen Blick auf das Hei­lig­tum belohnt zu wer­den.

Ich bin damit zufrie­den, mich ein­mal in die Kir­che rein- und wie­der raus-ell­bo­gen zu las­sen, wobei ich einen Blick auf ein paar Fres­ken zur Ster­be- und Auf­er­ste­hungs­sze­ne sowie auf den pom­pö­sen Schrein überm lee­ren Grab erha­sche. Jesus steht dane­ben und sieht gelang­weilt zu.

Wo Paläs­ti­na wirk­lich beginnt

Wenn ich es nicht bes­ser wüss­te, wür­de mir Jeru­sa­lem wie eine von vie­len israe­li­schen Städ­ten vor­kom­men. Die Autos haben ‚Isra­el‘ am Kenn­zei­chen, es wird über­wie­gend Hebrä­isch gespro­chen, fast alles ist auf Hebrä­isch beschrif­tet und man zahlt in She­kels, der israe­li­schen Wäh­rung. Das tut man tief im West­jor­dan­land auch, doch abge­se­hen davon ändert sich eini­ges. Der Weg nach Nor­den führt vor­bei an einem Stück der 759 Kilo­me­ter lan­gen Mau­er, bekann­ter als israe­li­sche Sperr­an­la­ge, die 2010 fer­tig­ge­stellt wur­de und die Grenz­li­nie zwi­schen Isra­el und dem West­jor­dan­land mar­kie­ren soll. Kurz vor Nab­lus, der soge­nann­ten poli­ti­schen Haupt­stadt der Paläs­ti­nen­ser, dann das ers­te Warn­schild: „Israe­li­sche Bür­ger ver­bo­ten.“ Jetzt haben die Autos blaue statt gel­ber Kenn­zei­chen, ein gro­ßes P mar­kiert wie ein Punkt ihr rech­tes Ende: Paläs­ti­na. Ich kom­me mir vor wie vor weni­gen Jah­ren, als ich von Ser­bi­en in den Koso­vo fuhr. Als hät­te ich mich an irgend­ei­nen gehei­men Ort geschum­melt, von dem ich eigent­lich nichts erzäh­len darf. Aber ich möch­te davon erzäh­len. Nicht, um mit dem Fin­ger zu zei­gen und poli­ti­sche Par­tei zu ergrei­fen, nicht, um die einen Schwarz und die ande­ren Weiß zu malen. Ein­fach, um zu tei­len, was ich in die­sem Teil der Welt mit sei­nem trau­ri­gen Ruf erle­be.

An einem Frei­tag­nach­mit­tag ist nicht viel los in Nab­lus. Der Suq, wo es sonst von Händ­lern und Käu­fern und Waren wim­melt, liegt fast ver­waist unter einer hel­len, gewölb­ten Decke, die bun­te Fähn­chen zie­ren. Die meis­ten Geschäf­te haben schon geschlos­sen, wer fün­dig oder nicht fün­dig gewor­den ist, geht nach Hau­se. Über dem Salat­buf­fet in einem Restau­rant hängt ein gerahm­tes Foto von Ara­fat, die Schrift­zei­chen an Geschäf­ten sind auf Ara­bisch, und statt Brot gibt es Kuna­fah, eine Spe­zia­li­tät, die ursprüng­lich aus Nab­lus kom­men soll und aus Quark-arti­gem Käse und Kadayif – fei­nen Teig­fä­den mit Man­del- oder Wall­nuss­fül­lung und Zucker­si­rup – zube­rei­tet wird. Mitt­ler­wei­le ist sie in der gan­zen ara­bi­schen Welt und auch in der Tür­kei bekannt. Erwach­se­ne und Kin­der war­ten mit gie­ri­gen Augen, bis auch für sie eine Por­ti­on auf dem Tel­ler lan­det.

Mehr­stö­cki­ge Gebäu­de, wie hel­le Bau­klöt­ze, zie­hen sich die Hügel rund um Nab­lus‘ altes Zen­trum hoch, und am Al-Nasr Platz thront das Wahr­zei­chen der Stadt, die An-Nasr Moschee mit ihrer tür­kis­far­be­nen Kup­pel.

Ich lau­fe durch Stra­ßen mit Geschäf­ten, an denen die Jalou­sien run­ter­ge­las­sen sind, nur ein Vater und sein Sohn ste­hen noch mit ihrem Saft­stand am Geh­weg und schi­cken mir ein „Will­kom­men in Paläs­ti­na!“ mit auf den Weg.  In der Alt­stadt leben die Men­schen in klei­nen Stein­häu­sern, Kin­der spie­len im Frei­en oder fah­ren Fahr­rad, aus einem Fens­ter winkt mir ein Mann zu.

Bald ste­he ich vor der Bra­ik Mill, bezie­hungs­wei­se Al-Kham­mash Sei­fen­fa­brik, wo neben jeder Men­ge Gewür­zen auch Nabul­si-Sei­fe ver­kauft wird: Sei­fe, die nur in Nab­lus ent­steht, und zwar aus jung­fräu­li­chem Oli­ven­öl, Was­ser und einer alka­li­schen Natri­um­mi­schung. Sie hat die Far­be von Elfen­bein und riecht nach nichts. Dafür duf­tet der Kaf­fee, den jeder Besu­cher ange­bo­ten bekommt, umso inten­si­ver. Dass ich bald an einer Kaf­fee-Über­do­sis lei­den soll, schwant mir in die­sem Moment noch nicht, und ich grei­fe dank­bar zu.

Pick­nick mit Paläs­ti­nen­sern  

Weni­ge Kilo­me­ter von Nab­lus ent­fernt liegt Sebas­tia, ein Dorf mit gera­de mal 4.000 Ein­woh­nern, doch bekannt für den Kopf von Johan­nes dem Täu­fer, der dort nach des­sen Ent­haup­tung begra­ben wur­de. Des­halb errich­te­te man an besag­ter Stel­le eine Kathe­dra­le und spä­ter eine Moschee, in deren Kel­ler noch das düs­te­re, feuch­te Gefäng­nis des Johan­nes zu besich­ti­gen ist.

Sebas­tia steht aber auch für die Rui­nen der anti­ken Königs­stadt Sama­ria – Haupt­stadt des König­reichs Isra­el seit unge­fähr 876 vor Chris­tus und ab byzan­ti­ni­scher Zeit sich selbst über­las­sen.

Alte Stei­ne haben mich noch nie wirk­lich begeis­tert, doch es ist etwas ande­res rund um die ver­streu­ten Rui­nen, das mir den Ort sofort sym­pa­thisch macht: Vie­le ein­hei­mi­sche Fami­li­en strö­men zu den Wie­sen ober­halb der Rui­nen, um mit Weit­blick über Oran­gen­bäu­me und grü­ne Hügel zu pick­ni­cken – und erst ein­mal mit den sel­te­nen Tou­ris­ten Sel­fies zu schie­ßen. „Darf ich?“ Eine jun­ge Frau in lan­gem Kleid und mit Kopf­tuch kommt mit ihrem Smart­phone auf mich zu, drückt sich an mich und klickt. Schon sind die blon­de Deut­sche und die Paläs­ti­nen­se­rin wie dicke Freun­din­nen auf einem Bild ver­ewigt. Ihre Fami­lie fin­det Gefal­len an dem Spiel, auch die Kin­der wol­len mal mit aufs Foto. „Wie gefällt dir Paläs­ti­na?“ wol­len die Frau­en wis­sen – ihr Eng­lisch ist fast akzent­frei. Paläs­ti­na? Ich bin gera­de erst ein paar Stun­den da, aber es fängt an, mir rich­tig gut zu gefal­len.

Der Gui­de zieht wei­ter, erzählt etwas über die Über­res­te eines römi­schen Thea­ters, was ich Sekun­den spä­ter wie­der ver­ges­sen habe. Ich sehe den Fami­li­en nach, die mit ihren Taschen und Kör­ben und Decken auf die Wie­sen zuhal­ten, wünsch­te, ich könn­te mehr Zeit mit ihnen ver­brin­gen. Und dann ist es, als wür­de Gott oder Allah oder wer jetzt an die­ser Stel­le gera­de zustän­dig ist, mein Sin­nen erhö­ren: Eine Groß­fa­mi­lie winkt mir von ihrem gemüt­li­chen Schat­ten­platz unter Bäu­men zu, winkt mich her­an. Der Gui­de und die Tour sind sofort ver­ges­sen. Fast jeder in der Fami­lie spricht zumin­dest etwas Eng­lisch, doch im Gegen­satz zu Rui­nen braucht Gast­freund­schaft ohne­hin kei­ne Wor­te: Kaum nähe­re ich mich der über­di­men­sio­na­len Decke, habe ich schon eine Hand vol­ler Nüs­se, in der ande­ren einen Papp­be­cher mit Kaf­fee. „Nun setz dich doch!“, drän­gen mich die Frau­en, und ich bin mit­ten­drin. Bekom­me erklärt, wer mit wem wie ver­wandt ist, wer Schwes­tern oder Cou­sins sind, und Ghes­san, den ich auf Ende 40 schät­ze und der wohl das Fami­li­en­ober­haupt ist, reißt nun auch die Packung mit dem Süß­kram für mich auf.

„Wir woh­nen in Nab­lus, mei­ne Cou­si­nen hier in Hebron“, erklärt Ghes­san, und bald gesellt sich auch sein sech­zehn­jäh­ri­ger Sohn zu uns. „Ich möch­te unbe­dingt in Deutsch­land Medi­zin stu­die­ren, meinst du, das geht?“, will er von mir wis­sen. Elek­tri­ker wie sein Vater will er auf kei­nen Fall wer­den. Minu­ten spä­ter habe ich Ein­la­dun­gen nach Nab­lus und Hebron, die Fami­lie will mehr über mich wis­sen, über Deutsch­land. Doch die wich­tigs­te Fra­ge lau­tet „Wie gefällt dir Paläs­ti­na?“ Die jün­ge­ren Frau­en kichern, die älte­ren rei­chen mir Tüten vol­ler Lecke­rei­en. Ich bin der Ehren­gast ohne Ein­la­dung. Die Frem­de, die plötz­lich nicht mehr fremd ist, auch wenn sie äußer­lich wie ein Yoga­an­fän­ger in einer Grup­pe Kopf­stand-Erfah­re­ner auf der Mat­te sitzt. Kurz über­le­ge ich, was wohl pas­sie­ren wür­de, wenn ich in Deutsch­land mal völ­lig Frem­de spon­tan zu einem Pick­nick ein­lü­de. Wahr­schein­lich wür­de man mir mit Miss­trau­en begeg­nen, weil es an einem Ort, wo es von allem zu viel und zu vie­le gibt, nicht nor­mal ist, sich noch offen und herz­lich zu zei­gen. Die Paläs­ti­nen­ser kön­nen sich die­se Frei­heit noch erlau­ben. Hier sind Frem­de noch eine Kurio­si­tät, sind gewünscht, man freut sich über sie wie Schnee­kö­ni­ge. Das ist mir schon ein­mal pas­siert: im Koso­vo. Ob ich am bes­ten in die Län­der mit dem schlech­tes­ten Ruf fah­re, um noch ech­te Herz­lich­keit zu erle­ben und mich nicht wie ein Stö­ren­fried oder wie ein wei­te­res Glied der end­lo­sen Tou­ris­ten-Pro­fit-Maschi­ne zu füh­len?

Und wenn der Gui­de nicht gedrängt hät­te, wei­ter­zu­fah­ren, wür­de ich wahr­schein­lich noch heu­te bei Ghes­san und sei­ner Fami­lie sit­zen. Statt­des­sen fin­de ich mich weni­ge Stun­den spä­ter im Dorf Duma wie­der, wo Ibte­halt und ihr Mann Abe­dal­ra­hem vor fünf Jah­ren einen Homestay eröff­net haben. Die acht­jäh­ri­ge Toch­ter Fati­mah, eins von fünf Kin­dern, hilft dabei, den Tisch zu decken. Ibte­halt sitzt neben mir, wäh­rend ich mir ihr köst­li­ches Huhn­ge­richt mit Reis, Salat und selbst­ge­ba­cke­nem Brot ein­ver­lei­be. „Ich habe bis zur Geburt mei­ner Kin­der als Eng­lisch­leh­re­rin gear­bei­tet“, berich­tet sie, was erklärt, war­um sie im Gegen­satz zu ihrem Mann flie­ßend Eng­lisch spricht. „Mein Mann arbei­tet auf dem Bau auf der israe­li­schen Sei­te und muss jeden Mor­gen um drei Uhr auf­ste­hen, weil er andert­halb Stun­den braucht, den Check­point zu pas­sie­ren. Dafür bezahlt er jeden Tag 100 She­kels.“ Etwa 25 Euro. Gegen sechs sei er dann wie­der zu Hau­se.

Es ist das ers­te Mal, dass ich etwas über das All­tags­le­ben von Paläs­ti­nen­sern erfah­re. Ihr Land ist in A,- B- und C‑Zonen auf­ge­teilt, wobei die etwa 18% A‑Zonen gro­ße paläs­ti­nen­si­sche Städ­te umfas­sen, die theo­re­tisch auto­nom ver­wal­tet wer­den, wo die israe­li­sche Mili­tär­ver­wal­tung aber bei Bedarf ein­grei­fen kann. Zur den 20% B‑Zone zäh­len Klein­städ­te, die in zivi­len Berei­chen über Auto­no­mie ver­fü­gen, in Sicher­heits­fra­gen aber mit Isra­el koope­rie­ren. Und dann gibt es die gro­ße C‑Zone unter israe­li­scher Kon­trol­le. Um sich zwi­schen den Zonen zu bewe­gen, müs­sen immer wie­der Check­points und Stra­ßen­sper­ren pas­siert wer­den, die halt oft auch auf dem täg­li­chen Weg zur Arbeit lie­gen, wie bei Abe­dal­ra­hem. Ibte­halt spricht dar­über, wie die Men­schen im Koso­vo über die Ser­ben gespro­chen haben: in einer ent­spann­ten Ist-halt-so und Shit-hap­pens-Manier, der es wohl zu ver­dan­ken ist, dass die Fami­lie sich ganz gut im All­tag schlägt. Fati­mah ist dage­gen ent­täuscht, dass die­ses Mal kein Schwei­zer Besu­cher dabei ist: „Die brin­gen immer die bes­te Scho­ko­la­de mit!“

Paläs­ti­nen­si­sches Bier

Bier und Wein aus Paläs­ti­na? Gibt es! Im klei­nen Ort Tay­beh, süd­lich von Nab­lus. Dort eröff­ne­te 1994 die ers­te paläs­ti­nen­si­sche Mikro­braue­rei von David und Nadim Khou­ry, die 20 Jah­re in den USA ver­bracht hat­ten und sich schließ­lich von ihrem Vater inspi­rie­ren lie­ßen, die ers­te Mikro­braue­rei im Mitt­le­ren Osten zu eröff­nen – die Erlaub­nis dazu beka­men sie in den 90ern von Isra­el, das damals die Kon­trol­le über das Gebiet hat­te, spä­ter von Ara­fat, als Tay­beh wie­der unter paläs­ti­nen­si­sche Ver­wal­tung fiel. Mit der Braue­rei woll­ten sie die hei­mi­sche Wirt­schaft und gleich­zei­tig das Natio­nal­ge­fühl stär­ken. Obwohl Mus­lims tra­di­tio­nell kei­nen Alko­hol trin­ken, ver­bleibt etwa die Hälf­te des gebrau­ten Biers im West­jor­dan­land, der ande­re Teil wird nach Isra­el gebracht und nur ein klei­ner Rest expor­tiert.

2013 eröff­ne­te die Fami­lie zusätz­lich eine Wein­kel­le­rei in Tay­beh, und 2015 direkt neben­an das Gol­den Hotel, das auch Wer­ke paläs­ti­nen­si­scher Künst­ler aus­stellt. Maria Khou­ry, Davids Ehe­frau mit grie­chisch-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln, führt Hotel­gäs­te auf Wunsch durch die Wein­kel­le­rei und zeigt stolz die hoch­glanz­po­lier­te, aus Ita­li­en impor­tier­te Aus­rüs­tung.

In Holz­fäs­sern lagert sowohl Rot- als auch Weiß­wein, doch die Wein­pro­duk­ti­on ist nicht ganz ein­fach für die Fami­lie: „Wir müs­sen viel Was­ser in Tanks sam­meln, weil wir manch­mal fünf Tage lang kein flie­ßen­des Was­ser bekom­men.“ Und doch hat sie bis­her allen Schwie­rig­kei­ten erfolg­reich gestrotzt und erfreut sich in der Gemein­de gro­ßer Beliebt­heit: „Im Herbst orga­ni­sie­ren wir immer ein Okto­ber­fest, das ist eine gro­ße Par­ty für alle – auch für die, die kei­nen Alko­hol trin­ken. Dann gibt es eben alko­hol­frei­es Bier.“ Die Wei­ne tra­gen alle­samt den Namen Nadim, nach Mari­as Schwa­ger – Nadim Mer­lot, Nadim Sau­vi­gnon Blanc und so wei­ter. Ich pro­bie­re einen der Rot­wei­ne. Ein Wein­ken­ner bin ich nicht, aber auch die, die was vom Wein ver­ste­hen, sind einer Mei­nung: paläs­ti­nen­si­schen Wein aus Tay­beh? Kann man trin­ken.

Wan­dern mit Abra­ham

Alle bezie­hen sich auf Abra­ham als ihren Stamm­va­ter – Juden, Chris­ten und Mos­lems. Ihm wer­den Groß­her­zig­keit und Offen­heit nach­ge­sagt. Umso tref­fen­der erscheint es, dass Paläs­ti­nas längs­ter, 2017 eröff­ne­ter Wan­der­weg, den Namen Masar Ibra­him trägt und auf gemein­schafts­ba­sier­ten Tou­ris­mus setzt – mit Ver­pfle­gung und Unter­kunft bei Ein­hei­mi­schen. Der Weg reicht auf 330 Kilo­me­tern vom Dorf Rum­ma­na nord­west­lich von Jenin bis nach Beit Mir­sim in Hebron, über Nab­lus, Jeri­cho und Beth­le­hem. Die paläs­ti­nen­si­sche Tou­ris­mus­be­hör­de bewirbt ihn als „Weg durch die Geschich­te“, ich sehe ihn als Mög­lich­keit, das West­jor­dan­land voll­kom­men uner­war­tet auch als Wan­der­ziel für mich zu ent­de­cken.

Mei­ne Etap­pe beginnt unweit von Tay­beh in Ain Samia, wo der Weg durch Fel­der vol­ler Zatar führt – einem Gewürz, das gern mit Oli­ven­öl gemischt und vorm Backen auf Fla­den­brot gestri­chen wird, das aber auch auf Fleisch gege­ben oder als Dip genutzt wird. Als Wan­der­füh­rer ist der Ein­hei­mi­sche Anour dabei, der eigent­lich fürs Bil­dungs­mi­nis­te­ri­um arbei­tet, aber in sei­ner Frei­zeit gern Besu­cher durch die Land­schaf­ten sei­ner Hei­mat führt. Immer wie­der bleibt er ste­hen, zeigt auf Details am Weges­rand: „Schaut mal, die­se Pflan­ze heißt Aron­stab, sie ist gut gegen Krebs.“ Über­haupt sei das Land in die­ser Regi­on sehr frucht­bar, man ern­te vie­le Rüben, Toma­ten und ande­res Gemü­se und ver­kau­fe sie auf dem Markt in Ramal­lah. „Es gibt hier viel Was­ser, und weil sich Was­ser immer im Tal sam­melt, befin­den sich auch paläs­ti­nen­si­sche Sied­lun­gen grund­sätz­lich im Tal.“

Graue Stei­ne ent­lang des Weges ent­pup­pen sich als Über­res­te einer alten byzan­ti­ni­schen Kir­che, dann begeg­nen wir Noma­den mit ihren Scha­fen und Zie­gen, die vor uns einen klei­nen Fluss durch­que­ren.

Über einen Berg­rü­cken geht es hin­ab ins Wadi al-’Auja, ein stei­les, holp­ri­ges Wadi, das bis nach Ein al-’Auja führt, der Al-’Auja Quel­le am Jor­dan­gra­ben, etwa 50 Meter unter dem Mee­res­spie­gel. Wie die Wie­sen rund um Sebas­tia, sind auch die Quel­len ein Pick­nick-Hot­spot für loka­le Fami­li­en, die voll­kom­men beklei­det im küh­len Nass plant­schen – und sich so über die Ankunft der Exo­ten in ihrer Wan­der­funk­ti­ons­klei­dung freu­en, dass wie­der etli­che Sel­fies geschos­sen wer­den. Nach den Quel­len geht es vor­bei an einem alten römi­schen Aquä­dukt, das genutzt wur­de, um Was­ser von Ein Al-’Auja nach Jeri­cho zu lei­ten.

Mit­tag­essen gibt es in einem Bedui­nen­zelt in der Al-’Auja Gemein­de bei der Fami­lie von Abu Habish, wo eine Schar Kin­der die aus­län­di­schen Gäs­te erst ein­mal inspi­ziert. Schon wird das Fest­mahl auf­ge­tischt, aus Hüh­ner­keu­len, Reis, Salat und Jogurt-Dip, das die aus­ge­hun­ger­ten Wan­de­rer auf Matrat­zen am Boden sit­zend zu sich neh­men. Nur zögernd kommt die schüch­ter­ne Haus­frau in vio­let­tem Kleid und gleich­far­bi­gem Kopf­tuch aus der Küche, um unser Lob zu emp­fan­gen.

Und wer danach noch Ener­gie hat, kann bis nach Jeri­cho wei­ter­lau­fen. In die tiefst­ge­le­ge­ne Stadt der Welt, 250 Meter unterm Mee­res­spie­gel. Ob Jeri­cho auch die ältes­te Stadt der Welt ist, ist aller­dings nicht belegt. Vom Namen her ist sie mir nur aus der Bibel geläu­fig, da die Herr­scher Jeru­sa­lems im Win­ter das wär­me­re Kli­ma Jeri­chos genos­sen. Im Wes­ten der Stadt erhebt sich der Berg der Ver­su­chung, an des­sen Fel­sen sich das grie­chisch-ortho­do­xe Klos­ter Qaran­tal klam­mert.

Viel hat Jeri­cho dar­über hin­aus nicht zu bie­ten – nur wei­te­re lächeln­de Men­schen, die sich über jeden Besu­cher freu­en. An einem Dat­tel- und Saft­stand schenkt mir ein Ver­käu­fer eine Oran­ge, wäh­rend er begeis­tert erzählt, dass er mal in Deutsch­land gear­bei­tet habe und das Land lie­be. „Jetzt bin ich 70 Jah­re alt, aber ich füh­le mich wie 50!“ Es sind die­se klei­nen Begeg­nun­gen, die ich ein­wick­le und mit nach Hau­se neh­me. Genau wie den Pick­nick-Moment. Wie das Win­ken der beklei­det im Quell­was­ser baden­den Locals. Wie die Freu­de in Maria Khou­rys Augen, als ich ihr eine Fla­sche Wein abkau­fe. Der Rest ist Kulis­se.

Wer im West­jor­dan­land wan­dert, muss auch ein­mal bei Bedui­nen über­nach­ten – bei­spiels­wei­se bei Bedui­nen­füh­rer Jameel und sei­ner Fami­lie in der soge­nann­ten ‚Sea Level Com­mu­ni­ty‘ am Wadi Qateef nahe der Stra­ße von Jeru­sa­lem nach Jeri­cho. Dort gibt der Boden wäh­rend der Win­ter- und Früh­jahrs­mo­na­te am meis­ten Fut­ter für die Scha­fe und Zie­gen der Bedui­nen ab. Wir kom­men bei Dun­keln an, nur die mit­ge­brach­ten Taschen­lam­pen leuch­ten uns den Weg zu den Hüt­ten. Fast stol­pern wir über eini­ge auf dem Weg ste­hen­de Zie­gen, die sich in letz­ter Sekun­de laut­hals beschwe­ren. Die Über­nach­tung erfolgt nach denk­bar ein­fa­chem Prin­zip, wie es die Bedui­nen selbst auch gewohnt sind: Man schnappt sich eine Matrat­ze und legt sie da aus, wo Platz ist. Viel­leicht in einem der über­dach­ten Räu­me des impro­vi­sier­ten Hau­ses, viel­leicht unter dem vor­ne offe­nen Gemein­schafts­zelt, wo das Essen – Zarb, Huhn­fleisch, das in einem Ofen unter der Erde gart – für die Nacht weg­ge­räumt und die Matrat­zen im Anschluss aus­ge­rollt wer­den. Sess­haft sind Jameel und sei­ne Fami­lie noch immer nicht. „Frü­her leb­ten wir in der Negev-Wüs­te in Isra­el, wur­den dort aber ab 1948 nach und nach ver­trie­ben, also sie­del­ten wir uns in der Wild­nis rund um Jeru­sa­lem an“, erzählt Jameel. „Flücht­lings­la­ger kamen für uns nie in Fra­ge, wir wol­len unse­ren tra­di­tio­nel­len Lebens­stil bewah­ren!“

Erst am nächs­ten Mor­gen sehe ich, wo wir genau sind: irgend­wo in der Wüs­te. Die Hüt­ten von Jameel lie­gen umge­ben von durs­ti­gen Hügeln, bei den Nach­barn hängt schon Wäsche auf der Lei­ne, ein wei­ßer Esel sucht dane­ben ver­ge­bens nach Fut­ter.

Tie­fer hin­ein in die Wüs­te geht es auf der nächs­ten Wan­de­rung – dort­hin, wo außer dür­rer Erde nur noch Kame­le hei­misch sind. Doch je näher wir dem grie­chisch-ortho­do­xen Klos­ter Saint Sabas kom­men, nach dem Hei­li­gen Sabas benannt und 483 gegrün­det, des­to grü­ner wird es. Schon von Wei­tem hebt sich das ins Gestein gehaue­ne Klos­ter fes­tungs­ar­tig vom Hin­ter­grund ab. Heu­te wird es angeb­lich nur noch von zwei Hand­voll Mön­chen bewohnt – die es sich aber gut­ge­hen las­sen und selbst Wein pro­du­zie­ren. Frau­en ist der Zutritt nicht gestat­tet, man sagt, der Hei­li­ge Saba habe kei­ne Frau­en gemocht und selbst sei­ne Mut­ter nicht rein­ge­las­sen. Und so blei­ben wir nach dem stei­len, rut­schi­gen Abstieg zum Klos­ter dumm vor der Tür sit­zen, wäh­rend Män­ner und Kat­zen fröh­lich hin­ein­spa­zie­ren.

Beth­le­hem: Jesus und Mau­er

Beth­le­hem ist eine son­der­ba­re Stadt – und gera­de des­we­gen wird sie zu dem Ort in Paläs­ti­na, der mich am meis­ten berührt. Die klei­ne Alt­stadt domi­nie­ren Sou­ve­nir­lä­den, die Jesus-Figu­ren und Hei­li­gen­bil­der ver­hö­kern, die Tou­ris­ten, die zu Hun­der­ten aus den Bus­sen raus und in die Geburts­kir­che von Jesus hin­ein­schwem­men, lie­bend gern auf­kau­fen.

Die Geburts­kir­che ist der Gegen­part zur Gra­bes­kir­che in Jeru­sa­lem: end­lo­se Schlan­gen durch die hal­be Kir­che, um einen Blick auf die tra­di­tio­nel­le, mit einem Stern mar­kier­te Stel­le zu wer­fen, wo das Chris­tus­kind gele­gen haben soll und über der ein Altar thront. Trotz tur­bu­len­ter Geschich­te ist die Geburts­kir­che die ältes­te erhal­te­ne und nach wie vor genutz­te Kir­che des Hei­li­gen Lan­des. Dabei ist längst nicht bewie­sen, dass Jesus wirk­lich dort gebo­ren wur­de – Wis­sen­schaft­ler bezwei­feln dies. Wie dem auch sei, Gläu­bi­gen aus aller Welt schenkt die über der Geburts­stel­le errich­te­te Kir­che einen Ort zum Anfas­sen, einen Ort, wo sie sich einem Jesus aus Fleisch und Blut ganz nahe füh­len und die Glas­schei­be über der Stel­le küs­sen dür­fen, wo das Baby gele­gen haben soll. Ob dies im Nach­hin­ein zu stei­gen­dem Lebens­glück oder bes­se­rer Gesund­heit führt oder ledig­lich zu Her­pes, steht in den Ster­nen.

Auch ich haue mir fast eine Beu­le in den Kopf, als mir weni­ge Sekun­den ver­gönnt sind, unter den Altar zu krie­chen und den Spot der Spots zu bewun­dern, aber was mich in Beth­le­hem wirk­lich beein­druckt, ist etwas ganz ande­res. Es ist die israe­li­sche Sperr­an­la­ge, die für mich hier, in Beth­le­hem, ein paar Kilo­me­ter von der Alt­stadt ent­fernt, eine Form bekommt: die Form einer acht Meter hohen Mau­er, die Beth­le­hem von Jeru­sa­lem und paläs­ti­nen­si­schen Dör­fern trennt.

Wäh­rend ich das graue Unge­tüm hin­ab­spa­zie­re, das unzäh­li­ge Künst­ler mit Graf­fi­ti und Bild-Bot­schaf­ten ver­ziert haben, begrei­fe ich erst­mals, was die Ber­li­ner Mau­er bedeu­tet haben muss. Füh­le mich an die Gren­ze zwi­schen Nord- und Süd­ko­rea erin­nert. Ein stän­di­ger Kno­ten im Hals beglei­tet mich, als ich immer wie­der ste­hen­blei­be und lese, was dort geschrie­ben steht. Inter­pre­tie­re, was die Bil­der aus­sa­gen sol­len. Eine Frau mit Kopf­tuch, die fröh­lich lachend eine paläs­ti­nen­si­sche Fah­ne schwingt. Ein Mäd­chen, das mit Sta­chel­draht Seil hüpft. Trump, der den Wach­turm umarmt, als woll­te er ihn küs­sen. Eini­ge Bil­der stam­men vom gro­ßen Stra­ßen­künst­ler Bank­sy, der 2017 ein Hotel mit dem wohl häss­lichs­ten Aus­blick der Stadt eröff­ne­te: das Wal­led off Hotel mit direk­tem Mau­er­blick, wo jedes Zim­mer Kunst des Meis­ters aus­stellt und auch paläs­ti­nen­si­sche Künst­ler die Chan­ce haben, ihre Kunst einem Publi­kum zugäng­lich zu machen.

Aber es gibt nicht nur ein Bank­sy-Hotel, son­dern auch einen Bank­sy-Laden, den ‚Shop behind the wall‘, betrie­ben von dem 28-jäh­ri­gen Paläs­ti­nen­ser Hamm­oud Abdal­la, kurz Moo­dy, der in sei­nem Laden Mau­er­kunst auf T‑Shirts, Post­kar­ten und Pos­tern ver­kauft. Ein Kunst­werk hat er selbst auf die Mau­er gemalt: den Spruch ‚Make Hum­mus, not walls‘.

Was es mit dem gro­ßen Por­trät eines jun­gen Mäd­chens direkt dane­ben auf sich hat, erklärt er mir am Abend in einer Shi­sha-Bar: „Das Mäd­chen ist die 16-jäh­ri­ge Ahed Tami­mi, die 2017 fest­ge­nom­men wur­de, weil sie einem israe­li­schen Sol­da­ten ins Gesicht geschla­gen und ande­re Delik­te began­gen hat­te.“ Aus Zei­chen für Soli­da­ri­tät und Respekt kam ein Kum­pel Moo­dys, der bekann­te ita­lie­ni­sche Stra­ßen­künst­ler Jor­it, nach Beth­le­hem, um den Tag vor Aheds Frei­las­sung das Por­trät auf die Wand zu malen – ein Akt, für den er bei­na­he ver­haf­tet wor­den sei.

Am nächs­ten Mor­gen ste­he ich extra früh auf, um mir die Mau­er noch ein­mal bei Tages­licht anzu­se­hen und bis zum Aida Flücht­lings­la­ger zu lau­fen, das 1950 ent­stand und wo über 1.100 Geflüch­te­te aus der Regi­on um Jeru­sa­lem und Hebron in Zel­ten leb­ten. Ich gehe allei­ne los, fra­ge einen Taxi­fah­rer nach dem Weg, der mir in gutem Eng­lisch ant­wor­tet. Der Weg führt an der Mau­er ent­lang, vor­bei an wei­te­ren Bil­dern, die ein Zei­chen set­zen sol­len, teils vol­ler Ver­zweif­lung, teils vol­ler Hoff­nung. Der Gestank von Müll­ber­gen steigt mir in die Nase, vor dem Bild von schie­ßen­den Sol­da­ten spa­ziert eine schwar­ze Kat­ze über einen Mau­er­vor­sprung, wei­ter oben lässt ein ein­sa­mes Pferd den Kopf hän­gen.

Im Aida-Vier­tel ste­hen heu­te ein­fa­che Häu­ser, die in der ers­ten Rei­he genie­ßen den­sel­ben Blick wie die Gäs­te des Wal­led off Hotels. Ich bege­be mich tie­fer hin­ein in die Gas­sen, wo Müll her­um­liegt und Kin­der zur Schu­le gehen und Jugend­li­che vor einem Laden abhän­gen. Ein klei­ner Jun­ge beglei­tet mich einen Teil mei­nes Weges, will wis­sen, wie ich hei­ße. Er sei Ahmad.

Angst habe ich kei­ne, wie ich sie auch an den Tagen zuvor nie ver­spürt habe. Mich tref­fen vie­le neu­gie­ri­ge, aber wohl­wol­len­de Bli­cke, alle erwi­dern mei­nen Gruß. „Salam“. Hal­lo. Paläs­ti­na ist einer der Orte, für des­sen Besuch mir daheim Eigen­schaf­ten wie ‚Ver­rückt­heit‘, aber auch ‚Mut‘ zuge­schrie­ben wer­den. Wie schon vor fast 15 Jah­ren in Kolum­bi­en. Wie vor vier Jah­ren im Koso­vo. Und wie­der ein­mal stel­le ich fest, dass ich auch in Paläs­ti­na, wie schon in den bei­den Län­dern davor, keins von bei­den brau­che. Weil Ver­rückt­heit und Mut unnö­tig sind, wo Offen­heit, Gast­freund­schaft und Herz­lich­keit so nor­mal sind wie ein muf­fi­ges „Moin“ in Ham­burg. Aber das kann nur ver­ste­hen, wer den Fern­se­her mal abstellt und sich auf die Rei­se macht.

 

Die­se Rei­se wur­de orga­ni­siert von ATTA Adven­ture Trade Tra­vel Asso­cia­ti­on, eine der füh­ren­den Stim­men welt­weit und Part­ner für das Aben­teu­er­rei­se-Gewer­be. Die Tour durch das West­jor­dan­land fand mit dem loka­len Anbie­ter Siraj Cen­ter statt, der auch Wan­der­tou­ren im West­jor­dan­land orga­ni­siert.

Emp­feh­lens­wer­te Unter­künf­te:

Jeru­sa­lem: Gol­den Walls Hotel

Tybeh: Tay­beh Gol­den Hotel

Beth­le­hem: Jacir Palace Hotel

 


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