Allein auf der Chalkidiki-Halbinsel

Wenn ich bei strö­men­dem Regen die schlam­mi­ge Ein­fahrt zu einem Apart­ment hoch­fah­re und von der Ver­mie­te­rin mit gro­ßen Augen gefragt wer­de „Was tust du hier bloß?“, weiß ich, dass ich zur rech­ten Zeit am rech­ten Ort bin. Ende Sep­tem­ber auf Grie­chen­lands Chal­ki­di­ki-Halb­in­sel, eine dicke Faust mit drei sich ins Meer aus­stre­cken­den Fin­gern. Mich hat es auf den Mit­tel­fin­ger Sitho­nia ver­schla­gen, der im Gegen­satz zum west­li­chen Nach­barn Kas­san­dra gebir­gi­ger ist und mit einer Steil­küs­te, an der die Suche nach einer geeig­ne­ten Bade­bucht ans Schlüs­sel­su­chen daheim erin­nern kann. Und auf die man im Gegen­satz zum von Mön­chen bewohn­ten öst­li­chen Fin­ger Athos mit gleich­na­mi­gem Berg auch als Frau einen Fuß set­zen darf.

Grie­chi­scher Regen

Der Regen pras­selt so hef­tig auf die Wind­schutz­schei­be ein, dass es die Schei­ben­wi­scher nicht mehr so rich­tig damit auf­neh­men kön­nen. Ich den­ke an die gegoo­gel­ten Fotos von kari­bik­wei­ßen Strän­den und Was­ser, durch das die Stei­ne am Boden schim­mern. Noch ist der Wie­der­erken­nungs­wert gleich Null, dafür habe ich die Stra­ßen für mich allein. Seit ich auf dem Mit­tel­fin­ger Sitho­nia bin, etwa 90 Fahrt­mi­nu­ten von Thes­sa­lo­ni­ki ent­fernt, sind gera­de mal drei ande­re Wagen an mir vor­bei­ge­fah­ren. Aber bin ich nicht hier, weil ich mir Ruhe und Allein­sein wün­sche? Und das geht nir­gends bes­ser als an einem von allen guten Tou­ris­ten ver­las­se­nen Ort bei Wet­ter, wo sich nur Hun­de­be­sit­zer mit Sau­er­topf­ge­sicht drei Mal täg­lich auf der Stra­ße bli­cken las­sen. Ein Schild kün­digt den Ort Vour­vou­rou an der Ost­küs­te an, wo ich ein Apart­ment für eine Nacht gebucht habe. Fast ver­sperrt der Regen die Sicht auf den Hin­weis in klei­nen Let­tern, der zur Ein­fahrt deu­tet. Und bald auch zur Fra­ge „Bist du allein? Was tust du bloß hier?“

Statt Kalt­luft wün­sche ich mir Wär­me aus der Kli­ma­an­la­ge, doch sie ist kaputt. Feuch­te Küh­le zieht an den Bei­nen hoch, mit der Kaf­fee­ma­schi­ne koche ich Olymp-Tee aus den von Grie­chen­lands höchs­ten Ber­gen mit­ge­brach­ten Kräu­tern. In dicken Decken sit­ze ich auf dem Bett, weiß, dass ich daheim bei sol­chem Wet­ter nie­mals raus­ge­hen wür­de. Dass dies so gar nichts mit den übli­chen Asso­zia­tio­nen von Aus­zeit in Grie­chen­land zu tun hat. Aber auch, dass ich vor Jah­ren in Finn­land gelernt habe, dass es kein schlech­tes Wet­ter, son­dern nur schlech­te Aus­rüs­tung gibt. Und dass dies ein guter Tag ist, mei­nen Vor­satz, das Aller­meis­te aus jedem Tag her­aus­zu­ho­len, in die Tat umzu­set­zen.

Ich packe mei­ne Regen­ja­cke und fah­re weni­ge Kilo­me­ter run­ter zum Kary­di Strand, angeb­lich einem der schöns­ten an der Ost­küs­te. Ein Strand, an dem hel­les Gestein und hel­ler Sand har­mo­nie­ren, mit Was­ser, wel­ches die Schwär­ze der tief­hän­gen­den Wol­ken spie­gelt. Nadel- und Laub­bäu­me rah­men die Bucht ein, ein Hot Dog- und Eis­wa­gen steht ver­waist im Dickicht. Ich lau­fe hin­aus auf die fel­si­ge Land­spit­ze, schaue dem Meer dabei zu, wie es auf die Stei­ne klatscht, nach mir leckt, mich aber doch nicht erreicht. Auf mei­nem Gesicht bil­det die Gischt eine Mas­ke, wäh­rend die Wel­len kra­chen und schäu­men, als woll­ten sie mich da weg­ha­ben. Dabei gönnt mir der Regen eine kur­ze Pau­se. Immer sel­te­ner gibt es Momen­te, in denen ich nicht nur ein- und aus‑, son­dern durch­at­me. Hier tue ich es. Das Meer und ich, Rau­schen und Atmen, ein Kanon, der noch ein biss­chen Übung braucht, aber in sei­ner Imper­fek­ti­on schon rich­tig gut ist.

Road­trip durch Oli­ven­hai­ne und Geschich­te

Chil­len in der Son­ne über einem guten Buch ist nicht. Auch am nächs­ten Mor­gen noch nicht. Das Feh­len fes­ter Plä­ne auf die­ser Rei­se hat den Vor­teil, dass ich spon­tan dem Rat des Auto­ver­mie­ters in Thes­sa­lo­ni­ki fol­gen kann, der etwas von einem Dorf im Lan­des­in­ne­ren erzählt hat. Arnea, gut 50 Kilo­me­ter nörd­lich von Vour­vou­rou. Ich las­se den Regen vor den Fens­tern und neh­me die Frei­heit mit. Die Frei­heit, die mir nur das Allein­rei­sen schenkt – über­all dort anzu­hal­ten, wo mich Neu­gier und Herz hin­tra­gen, solan­ge zu ver­wei­len, bis mei­ne Füße jucken. Kei­ne Kom­pro­mis­se, kei­ne Strei­te­rei­en. Der Regen macht mir mehr Freu­de als ein lau­ni­scher Beglei­ter. Ich hal­te am Strand von Tra­ni Amm­ou­da, der längs­te der Gegend, den die Lie­gen und Son­nen­schir­me ver­las­sen und die Baum­stäm­me und Äste zurück­er­obert haben. Und ein streu­nen­der Hund, der gar nicht mit mei­nem Spa­zier­gang ein­ver­stan­den ist und mich aus dem Weg bellt. Wür­de mir hier ein Mensch begeg­nen, wür­de ich gern das­sel­be mit ihm machen. Aber mir begeg­net nie­mand.

Bald las­se ich die Küs­te hin­ter mir und fah­re hin­ein ins Lan­des­in­ne­re, das den Oli­ven­hai­nen gehört. Tau­sen­de, viel­leicht Mil­lio­nen von Oli­ven­bäu­men, über­schau­en Täler, zie­hen sich Anhö­hen hin­auf und las­sen den Blick nie­mals den Hori­zont errei­chen. Als der Regen Brunch­pau­se macht, hal­te ich an, lau­fe einen Weg hin­ab, hin­ein in die Oli­ven­baum­pracht. Ohne Grund und Ziel. Unter einem Baum steht ein wei­ßer Plas­tik­stuhl, ver­spricht sei­nem Besit­zer, wann immer er zurück­kehrt, Stil­le fern­ab der Stra­ße. Und Wei­te.

Dann bekom­men die schild­lo­sen Stra­ßen wie­der eine Rich­tung in schwar­zen Buch­sta­ben: Arnea, am nörd­li­chen Rand des Ber­ges Cho­lo­mondas. Reich­tum erlang­te der Ort, als dort unter osma­ni­scher Herr­schaft Sil­ber­erz abge­baut wur­de, erin­nern tut er mich an Plov­div in Bul­ga­ri­en: mit sei­nen bunt bemal­ten Häu­sern mit höl­zer­nen Bal­ko­nen, Fens­ter­lä­den und fla­chen roten Dächern. Obwohl die klei­ne Gemein­de noch nicht zu den Haupt­tou­ris­ten­at­trak­tio­nen zählt, hat ihre Ver­wal­tung das Poten­zi­al bereits erkannt – vie­le Häu­ser tra­gen Info­ta­feln mit Anga­ben zu Bau­jahr und Geschich­te, so der tra­di­tio­nel­le Gast­hof aus dem Jah­re 1812, gegen­über der Kir­che. Die Hoff­nung, mich im Inne­ren vorm Pras­sel­re­gen zu ver­krie­chen, wird ent­täuscht: Die Tür ist fest geschlos­sen. Ein wei­te­res Gebäu­de fei­ert die Unab­hän­gig­keit von den Tür­ken im Jah­re 1912. „Hier fand der letz­te Kampf zwi­schen Grie­chen und Tür­ken am 15.0.1912 statt.“

Vie­le Häu­ser tra­gen die Namen ihrer ursprüng­li­chen Besit­zer – Sara­fis Achi­leas, Kathe­ri­ne Zogra­fou und vie­le wei­te­re teil­ten das Glück, Mit­te bis Ende des 19. Jahr­hun­derts in dem Traum­dorf zu leben, in des­sen ver­las­se­nen Gas­sen sich an die­sem Tag bun­te Häu­ser­fas­sa­den in den Pfüt­zen spie­geln. Je wei­ter ich lau­fe, des­to mehr Häus­chen sehe ich, die noch kei­nen fri­schen Putz abbe­kom­men haben, der vie­len Häu­sern im Zen­trum zu Beginn des neu­en Jahr­tau­sends zuteil­wur­de. Genau die­se Häu­ser sind es, vor denen ich am längs­ten ver­wei­le, als hät­ten sie die span­nends­te Geschich­te zu erzäh­len, wie die Fal­ten im Gesicht eines sehr alten Men­schen, der auf Botox und Co. ver­zich­tet hat.

Vom Regen in die Won­ne

Im Leben wie auch auf der Chal­ki­di­ki-Halb­in­sel gibt es sie, die­se Momen­te, wenn wider Erwar­ten die Wol­ken­de­cke auf­bricht und sich die ers­ten Son­nen­strah­len her­vor­tas­ten. Schon aus der Fer­ne kün­digt sich der Wan­del an: Hin­ten überm Meer, auf der West­sei­te, wird das Him­mels­di­ckicht lich­ter, bis der Him­mel Minu­ten spä­ter weit und blau überm Mit­tel­meer steht.

Wer weder Plan A noch B hat, son­dern sich ein­fach trei­ben lässt, kann sich in die­sen Momen­ten den Luxus des spon­ta­nen Halts gön­nen. Am Strand von Kalogria, dem ich zufäl­lig bei blau­es­tem Him­mel am nächs­ten bin. Und ja, die gegoo­gel­ten Bil­der waren nicht mal bear­bei­tet – der Strand ist weiß, das Meer klar und blau und hat genau die rich­ti­ge Tem­pe­ra­tur, um jeman­dem, der aus dem Regen kommt, nicht die Trau­fe, son­dern reins­tes Ver­gnü­gen zu besche­ren. Außer mir ist kaum jemand vor­be­rei­tet auf einen Strand­nach­mit­tag, und so gehört mir der Strand auch bei strah­len­dem Son­nen­schein fast allein.

Ende Sep­tem­ber sind auf der Chal­ki­di­ki-Halb­in­sel bereits vie­le Unter­künf­te geschlos­sen, die bes­ten Chan­cen, etwas zu fin­den, blei­ben in den grö­ße­ren Ort­schaf­ten wie Neos Mar­ma­ras, des­sen ‚neos‘ ‚neu‘ bedeu­tet. Ich bit­te um das bil­ligs­te Zim­mer im noch geöff­ne­ten Haus Mis­tral und bekom­me, da außer mir kaum jemand da ist, gleich ein Upgrade für ein Zim­mer mit Bal­kon und Mee­res­blick – und eine Ein­la­dung zum Abend­essen von Hotel­be­sit­zer Ili­as, den ich auf Anfang 50 schät­ze.

Nach dem Son­nen­un­ter­gang am Strand geht es zur Taver­na Dimi­t­ri ohne Mee­res- und mit Stra­ßen­blick, wo laut Ili­as die Ein­hei­mi­schen ger­ne essen. Schon vor Lan­gem habe ich gelernt: Der bes­te Blick und das bes­te Essen wer­den meist nicht zusam­men ser­viert. Ich habe noch nicht ein­mal die Kar­te auf­ge­schla­gen, da hat Ili­as schon bestellt. Nach zehn Minu­ten lan­den Tel­ler vor uns, vie­le Tel­ler. Mit Makre­len, Sala­ten, frit­tier­ten Zuc­chi­ni und jeder Men­ge Brot. Und Masticha, ein dem Ouzo ver­wand­ter Likör. Bereits nach der Hälf­te bin ich pap­pen­satt. Dann kommt der Haupt­gang auf den Tisch: ein gro­ßer, fri­scher Fisch für jeden, danach der Nach­tisch aus ver­schie­de­nen Süß­spei­sen und Obst.

Restau­rant­be­sit­zer Dimi­t­ri spricht gebro­chen Deutsch, ver­sucht mir die Spei­sen zu erklä­ren, Ili­as plau­dert aus sei­nem Leben. „Die meis­ten Leu­te in Neos Mar­ma­ras kom­men aus dem Dorf Par­the­no­n­as oben in den Hügeln, ich auch.“ Ich habe dem Dorf bereits eine Stipp­vi­si­te abge­stat­tet – einer die­ser Orte, wo der Blick so weit über Land und Meer geht, dass die See­le nicht nur bau­melt, son­dern Freu­den­sprün­ge macht und nie wie­der weg­will.

„Von Novem­ber bis März schlie­ßen wir und arbei­ten dann in unse­ren Oli­ven­hai­nen, wie fast alle Fami­li­en hier.“ Ich erfah­re, dass er das Hotel gemein­sam mit sei­ner Schwes­ter betreibt, geschie­den ist und einen sieb­zehn­jäh­ri­gen Sohn hat. Wir spre­chen über Bezie­hun­gen, über unse­re Kon­zep­te von Frei­heit, über Glück.

Abends sit­ze ich noch lan­ge auf mei­nem Bal­kon, schaue über den erleuch­te­ten Ort und das dunk­le Meer, wo ein paar Lich­ter­punk­te Fischer­boo­te ankün­di­gen. In mei­nem Kopf läuft noch ein­mal das Gespräch mit Ili­as ab, wie ein Film, den ich gera­de geschaut habe. Egal, wie viel ich rei­se, egal, mit wie vie­len Men­schen ich über­all auf der Welt spre­che, jede Kon­ver­sa­ti­on, die über Wet­ter & Co. hin­aus­geht, hin­ter­lässt tie­fe Dank­bar­keit in mir. Dank­bar­keit dafür, dass ein Wild­frem­der ein oder zwei Stun­den sei­nes Lebens mit mir geteilt hat. Gedan­ken und Gefüh­le, die oft­mals mei­nen eige­nen nicht unähn­lich sind, obwohl die Geschich­ten unse­res Lebens in völ­lig ande­rer Schrift geschrie­ben wer­den. Ich bin sicher, dass ich Ili­as wie die meis­ten Men­schen auf Rei­sen nie wie­der­se­hen wer­de, doch es spielt kei­ne Rol­le. Was zählt ist der Moment, der uns gege­ben war und die Erin­ne­rung dar­an, die oft Pan­ora­ma­bil­der und Strand­mo­men­te über­dau­ert.

Schnit­zel­jagd zum Strand

Am nächs­ten Mor­gen geht es ein­mal rum um die Süd­küs­te von Sitho­nia, vor­bei am Natur­ha­fen Por­to Kou­fo, was ‚tau­ber Hafen‘ bedeu­tet.

Obwohl die Son­ne noch immer bei Lau­ne ist, begeg­ne ich auch hier nur einer Jog­ge­rin und die lan­gen, kur­ven­rei­chen Stra­ßen sind von der Sor­te, wo es Sün­de wäre, das Gas­pe­dal nicht durch­zu­tre­ten und das Radio nicht auf maxi­ma­les Volu­men zu schal­ten. „Der Strand Tiga­lia an der Ost­küs­te ist ein ech­ter Geheim­tipp, da musst du unbe­dingt hin“, habe ich noch die Wor­te des Auto­ver­mie­ters im Ohr. Aller­dings sol­le ich Acht geben, da es kei­ne Schil­der zum Strand gäbe, nur auf den Boden gemal­te Pfei­le. Aber wie schwer kann das schon sein? Ich bin zufrie­den, als auf einen Stein gepin­selt die roten Buch­sta­ben ‚Tiga­lia‘ auf­tau­chen, bie­ge scharf ein – und lan­de sofort auf einem Schlamm­hü­gel vor einem Zie­gen­stall. Also doch nach links. Die Schlamm­we­ge wer­den bald zu asphal­tier­ten Stra­ßen mit den ange­kün­dig­ten Pfei­len, in ein paar Minu­ten müss­te ich in der Bucht ankom­men. Und lan­de in einer Bucht – aller­dings einer vier­ecki­gen Park­bucht, der ein Haus dane­ben fehlt. In bin in einem end­lo­sen Stra­ßen­la­by­rinth, das wirkt, als hät­te man einen neu­en Vor­ort mit per­fek­ter Infra­struk­tur geplant, aber ver­säumt, auch die Häus­chen dazu auf­zu­stel­len. Wahn­sinn! Ich ver­su­che es mit dem GPS, und die Frau­en­stim­me schickt mich von rechts nach links, bis ich in immer ande­ren oder den­sel­ben Park­buch­ten lan­de, ohne jemals zu einem der ver­füh­re­risch in der Fer­ne auf­tau­chen­den Strän­de zu gelan­gen.

Dann end­lich – ein Mann! Ich fra­ge ihn auf Eng­lisch, ob er eine Ahnung hät­te, wie ich zum Strand kom­me, er ant­wor­tet auf Baye­risch. Hat zufäl­lig sein Auto unten abge­stellt. Für die Weg­be­schrei­bung neh­me ich ihn mit – fai­rer Deal. Nach Tiga­lia kom­me ich zwar nicht, dafür aber in die drei Buch­ten von Kria­rit­si, in die ich mich sofort ver­lie­be. Über Stei­ne und Fel­sen klet­te­re ich in die letz­te Bucht mit Sand aus wei­ßem Staub, einem nack­ten Pär­chen und Ers­ter-Rei­he-Blick auf den hei­li­gen Berg Athos von 2.022 Metern auf dem letz­ten Fin­ger der Chal­ki­di­ki-Halb­in­sel. Und wenn es nicht irgend­wann kühl gewor­den wäre, läge ich noch immer dort. Als ich vor Jah­ren in Ita­li­en leb­te, in Genua am Meer, sag­te mir ein­mal eine öster­rei­chi­sche Kol­le­gin, sie kön­ne nicht allein von Son­ne und Meer leben. An Tagen wie die­sen, an Orten wie die­sem, muss ich oft dar­an den­ken und kom­me immer wie­der zu einem Schluss: Ich könn­te das. Zumin­dest für eine ganz schön lan­ge Zeit.

Haus ‚Gelas­sen­heit‘

Was Neos Mar­ma­ras für die West­küs­te von Sitho­nia ist, stellt Sar­ti für die Ost­küs­te dar – die größ­te Ort­schaft, wo man im Som­mer vor lau­ter Tou­ris­ten kaum Ein­hei­mi­sche sieht. Das Pro­blem gibt es Ende Sep­tem­ber nicht mehr. „Ich habe extra mit dem Kaf­fee­trin­ken auf dich gewar­tet“, begrüßt mich Chris­tos, Besit­zer von Haus Gali­ni, wo ich weni­ge Stun­den zuvor ein Apart­ment für eine Nacht gebucht habe. Der gro­ße Mann mit wei­ßen Haa­ren in den Sech­zi­gern trägt ein herz­li­ches Lächeln wie ande­re Make-up und macht sich in einer Mischung aus Deutsch und Eng­lisch ver­ständ­lich. Eigent­lich bin ich ver­schwitzt und hung­rig, woll­te nur schnell duschen und dann zu Abend essen, doch ich möch­te den Kaf­fee nicht abschla­gen. Möch­te die Chan­ce nicht ver­pas­sen, mit einem wei­te­ren Frem­den zu spre­chen, des­sen Leben und meins sich für einen Augen­blick kreu­zen. „Was machst du hier ganz allein?“ Chris­tos ist neu­gie­rig, möch­te etwas über mich und mein Leben wis­sen, dann über mei­ne Rei­sen und ande­re Län­der. Längst ist der Kaf­fee­be­cher leer, längst sind mei­ne Bei­ne von den Mücken zer­sto­chen, doch wir plau­dern noch immer.

Chris­tos lacht, als ich ihm von mei­ne Odys­sey zum Strand erzäh­le. „Rund um den Tiga­lia Strand soll­te ein ganz neu­es Vier­tel ent­ste­hen, sogar Aus­län­der woll­ten dort Grund­stü­cke kau­fen, aber dann gab es Pro­ble­me mit der Bau­fi­nan­zie­rung und nun liegt das Gebiet seit 15 Jah­ren brach. Nur die Stra­ßen, die sind per­fekt!“ In der nächs­ten Stun­de erfah­re ich, dass laut Chris­tos außer dem Tou­ris­mus in Grie­chen­land eigent­lich nichts funk­tio­niert. „Mei­ne Kin­der möch­te ich ins Aus­land schi­cken, sie haben hier kei­ne Per­spek­ti­ve. Ich habe auch manch­mal kei­ne Geduld mehr mit den Gäs­ten, aber wenn es so net­te sind wie du, dann habe ich Freu­de an mei­ner Arbeit.“ Ob ich wüss­te, was ‚Gali­ni‘ bedeu­te. Weiß ich nicht. „Es bedeu­tet ‚Gelas­sen­heit‘. Ich möch­te, dass die Men­schen, die hier­her kom­men, einen kur­zen Moment lang die Gelas­sen­heit emp­fin­den, die sie zu Hau­se ver­lo­ren haben.“

Die Ant­wort

Früh ste­he ich am nächs­ten Mor­gen auf, um der Son­ne beim Auf­ge­hen zuzu­se­hen. Direkt neben dem Berg Athos gegen­über, wo die Mön­che kei­ne Frau­en wol­len, kei­ne Ver­su­chung, und auch nur Män­ner nach vor­he­ri­ger Ankün­di­gung erlaubt sind. Ich ste­he allein am Strand, hin­ter einem die Son­ne eben­falls her­bei­seh­nen­den Fischer­boot, war­te. Dar­auf, dass sich der Feu­er­ball aus dem Wol­ken­schlei­er am Hori­zont schält, dar­auf, dass ein neu­er Tag beginnt. Wie halt jeden Tag. Nur, dass es mir auf Rei­sen immer bewuss­ter ist. Ich nicht aus dem Bett fal­le, um Rou­ti­nen nach­zu­ge­hen, son­dern mir Zeit neh­me für das simp­le Wun­der einer hin­ter dem Rest der Welt her­vor­lu­gen­den Son­ne. Das Meer ist still, möch­te die Stil­le nicht stö­ren, plät­schert so lei­se es geht. Ich inha­lie­re den Augen­blick, dann ist er auch schon vor­bei. Ver­pufft wie aus­ge­bla­se­ner Ziga­ret­ten­rauch. Das Früh­stück war­tet.

Beim Abschied drückt mich Chris­tos zwei letz­te Male, in sei­nem Blick Schmerz und Freu­de zugleich. Ich möch­te blei­ben, aber ich muss gehen. Bin nost­al­gisch, weil ich mir mit die­sem Men­schen noch so vie­le Gesprä­che vor­stel­len könn­te. Aber auch glück­lich, weil ich einen letz­ten Nach­mit­tag am Meer ver­brin­gen wer­de. Mit den Wel­len und mir. Am Oran­ge Strand, oft über­lau­fen, doch mit genug Fel­sen, um dem Lärm der Beach Bar-Gene­ra­to­ren und den ande­ren Baden­den zu ent­kom­men. Und wäh­rend ich zum x‑ten Mal in das so kla­re Was­ser sprin­ge, dass ich selbst weit drau­ßen mei­ne Füße unter mir sehen kann, erin­ne­re ich mich an die Apart­ment-Besit­ze­rin in Vour­vou­rou. An ihre Fra­ge: „Was tust du hier bloß?“ Ich wünsch­te, ich könn­te sie noch ein­mal besu­chen und ihr die Ant­wort geben: Ich bin hier glück­lich.

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Antworten

  1. Avatar von Susanne Ritschel
    Susanne Ritschel

    Hal­lo lie­be Ber­na­dette, vie­len, vie­len Dank für dei­ne wun­der­vol­len Wor­te und Tipps! Ich flie­ge im Okto­ber mit mei­ner klei­nen Fami­lie auf die Halb­in­sel, ich habe mich in dei­nen Wor­ten wie­der­erkannt und kann kaum abwar­ten, die traum­haf­te Natur (wenn auch nicht allei­ne) mit mei­nen 2 liebs­ten Men­schen zu ent­de­cken. Du hast mich zu Trä­nen gerührt, dan­ke dafür!! ❤️❤️

    1. Avatar von Bernadette

      Vie­len Dank, lie­be Susan­ne. Ich habe mich sehr über dein Lob gefreut und wün­sche dir und dei­ner Fami­lie ganz viel Spaß auf der Halb­in­sel! Lie­be Grü­ße aus Ham­burg

  2. Avatar von Bernadette

    Vie­len Dank für den Hin­weis 🙂

  3. Avatar von Sabine Kersten-Mutter
    Sabine Kersten-Mutter

    Vie­len Dank für die sehr schön geschrie­be­nen Berich­te zu Grie­chen­land!
    Im Chal­ki­di­ki Bericht ist aller­dings ein Feh­ler unter­lau­fen: Neos Mar­ma­ras wur­de nach 1922 von ver­trie­be­nen Grie­chen aus dem klein­asia­ti­schen Raum gegrün­det, nach der grie­chi­schen Nie­der­la­ge im Grie­chisch-Tür­ki­schen Krieg !

    Bes­te Grüs­se
    Sabi­ne Kers­ten-Mut­ter

  4. Avatar von Best image editing service

    schö­ne Rei­se ! Sie haben vie­le erstaun­li­che Orte besucht. Vie­len Dank, dass Sie uns den Geschmack Ihrer Rei­se geschenkt haben

    1. Avatar von Bernadette

      Das freut mich, Ihnen auch eine schö­ne Rei­se

  5. Avatar von Bernadette

    Vie­len Dank, lie­be Miche­la. Ich freue mich, dass du bei Allein­rei­sen Ähn­li­ches erlebt hast.
    LG
    Ber­na­dette

  6. Avatar von Michela

    Ein­fach groß­ar­tig. Ich fin­de mich in der Geschich­te so wie­der. Allein­rei­send auf der Suche nach ech­ten Begeg­nun­gen. Das kurz ver­lo­ren sein, sich trei­ben las­sen und mit Ein­hei­mi­schen in ech­ten Kon­takt kom­men, das macht wah­res Rei­sen aus.

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