Dein Warenkorb ist gerade leer!
Zwischen Polen und Litauen habe ich in einem der vielen Nachtbusse meinen Geldbeutel verloren. Der kurzzeitige Verlust all meiner Papiere und Bankkarten bedeutet für mich die erste große Zerreißprobe auf meinem Weg um die Welt. Ich stehe es durch, komme glimpflich davon und halte schließlich alles unversehrt in den Händen. Der Stress steckt mir jedoch noch eine Weile in den Knochen, also beschließe ich mich mit einer Fährfahrt zur Kurischen Nehrung zu belohnen.
Der Cent-Betrag für die Fähre ist schnell bezahlt. Der Wind weht kräftig und die fallenden Blätter beginnen gerade, den Boden zu besprenkeln. Erst rückblickend vom Boot aus offenbart sich mir die Größe des Hafens von Klaipéda. Auf der Halbinsel dagegen ist nichts los. Zwar ist Platz für eine unglaubliche Masse an Touristen, ein Parkplatz, größer als ein Fußballfeld und eine Bushaltestelle, aber niemand ist da. Die Anlagen versprechen so wenig Charme von Menschenhand, dass mir die vereinzelten hölzernen Villen auch keine Hoffnung machen. Die Saison ist hier ganz deutlich schon vorbei.
Im Wald
Ich laufe mutterseelenallein los und da ich auf einer Insel bin, laufe ich einfach vom Weg ab mitten in den Wald hinein. Das Meer hörte man hier bereits toben. Dem Geräusch nach zu schließen, ist die Seite zum Meer hin um einiges stärkeren Kräften ausgesetzt als die zum Festland. Obwohl es auch dort windig ist knallen keine Wellen gegen die Brandung. Man hört das Meer deutlich, sieht es jedoch nicht. Die Geräusche sind gedämpft, die Luft weich und feucht. Die Atmosphäre ist sanft.
Ich mache mich auf den Weg und schaue dabei aufmerksam um mich. An einigen Stellen ist die Erde aufgewühlt und es sieht mir ganz nach dem Revier einer Horde Wildschweine aus. Ich habe sowas noch nie gesehen und auch sonst keinerlei Anzeichen, die diese Theorie bestätigen, denke mir jedoch: better save than sorry und bewege mich umsichtig weiter.
Indizien und Lebensräume
Mit spielerischer Spannung im Nacken ist jedes Knacken im Wald ein Indiz, jedes Spinnennetz und jeder Pilz ein Zeichen für die Unberührtheit des Bodens. Er ist überwachsen mit niedrigen Gräsern und Moosen. An einigen Stellen strecken sich 20 Zentimeter hohe Gräser in die Luft und bilden einen goldenen Schleier über dem tief grünen Waldboden. Die Bäume, meist Nadelgewächse und vereinzelt Birken, biegen sich dramatisch im Wind. Gelegentlich finde ich abgebrochene Äste und Baumspitzen, aber bei Weitem nicht so viele, wie in einem wirklich unberührten Wald. (Wie ich einige Wochen später erkennen werde.)
Die aus der Angst entspringende Anspannung führt dazu, dass ich die kleinsten Geräusche zu verorten suche. Dieser Grad der Aufmerksamkeit wäre mit Begleitung nie möglich gewesen. Die gesamte Situation erinnert mich an die Spiele meiner Jugend und die Abenteuergeschichten in Wäldern. Abenteuerinnen wie Ronja Räubertochter oder Lysandra haben mich als junges Mädchen immer besonders gefesselt und bekommen hier eine für mich ganz neue Dimension. Ganz alleine im Wald zu sein, ist nicht zu vergleichen mit zusammen in den Wald gehen. Man hört, riecht und denkt so viel mehr. Unvergleichlich und einfach großartig.
Im Wald kann ich mein Glück nicht fassen. Ab und zu schafft es die Sonne durch die Walddecke hindurch und wirft charmante Lichtakzente auf Spinnennetze, Moose oder Tannenzapfen. Das Geräusch des Meeres wird lauter und bevor ich mich versehe, stehe ich auf einem geteerten Weg. Vor mir steht eine ganze Reihe von Schildern, Warnungen und Ankündigungen. Ich stehe vor dem Eingang des Frauenstrandes. Nicht vor dem Familienstrand (den gibt es auch), genauso wenig wie vor dem Hundestrand oder dem Surfstrand. Wir haben unseren eigenen. Ich verstehe nicht ganz warum, aber ich bin amüsiert. Auf geht es, ein paar Holztreppen die Düne hinauf und dann…
Das Meer
So wild habe ich die Ostsee noch nie gesehen, so hungrig und dominant. Das Tosen ist atemberaubend und wischt alle Eindrücke des Waldes mit einem Mal weg. Jede Weichheit, jegliches Gefühl von Geborgenheit ist schlagartig dahin. Der Wind peitscht mir hart ins Gesicht, das Meer brüllte laut und arbeitete sich Zentimeter für Zentimeter weiter in den Sand. Der ist trocken und fliegt über die Düne ins Landesinnere. Es ist als würde die Emotion und die Erschöpfung der letzten Tage aus mir heraus gepustet werden. Nur meine hervorragende Jacke schützt mich vor einem ätzenden Nachmittag. Wohlig eingemummelt kann ich die Sonne genießen und den Wind aushalten.
Ich habe an diesem Nachmittag ein absolutes Natur-High. Besser als jede Droge. Es ist ein Gemisch von Euphorie, Selbstbestimmtheit, Mut, Größe, Empfindlichkeit und dem Gefühl, alles bewältigen zu können. Einfach fantastisch.
(edit: 05.09.2018 Der Beitrag bezeichnete die Kurische Nehrung als Insel, es handelt sich jedoch um eine Halbinsel.)
Antworten
So kann man die Kurische Nehrung in der Tat erleben und empfinden. Und es gibt tatsächlich eine Menge Wildschweine, nicht ungefährlich, wenn sie Frischlinge führen.
Und die Nehrung ist eine HALBinsel
Uh! Vielen Dank für den Hinweis. Das wird direkt abgeändert! Tatsächlich ist die Halbinsel an mir vorbei gegangen, da ich von Klaipeda aus gestartet bin. 😉
Schreibe einen Kommentar