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Meerweh! Warum wir uns nach der Küste sehnen

Meerweh: Wellen rauschen heran

Strand und Wel­len, Salz­ge­ruch und fri­sche Brise – all das fehlt mir gerade sehr. Mit mei­nem Meer­weh bin ich nicht allein. Zwei von drei Deut­schen zieht es im Urlaub an die Küste. Und wenn er auch nicht gegen das große Ver­mis­sen hilft: Hier kommt ein Erklä­rungs­ver­such, warum die See uns so glück­lich macht. 

Hätte kein Virus namens SARS-CoV‑2 die Welt lahm­ge­legt, hätte ich vor einer Woche im Flug­zeug nach Deutsch­land geses­sen. Mehr als ein Jahr ist ver­gan­gen, seit ich die Zelte in Ham­burg abge­bro­chen habe und nach Kath­mandu gezo­gen bin. Es wäre mein ers­ter Hei­mat­be­such gewe­sen. Ich hatte mich irr­sin­nig dar­auf gefreut. Nach Greifs­wald wollte ich, meine Geburts­stadt in Meck­len­burg-Vor­pom­mern, in der meine Fami­lie lebt. Mit einer Freun­din wäre ich für ein paar Tage nach Ros­tock gefah­ren, die Stadt, in der wir zusam­men stu­diert haben. Danach hätte ich Freunde in Flens­burg, in Olden­burg und in Ham­burg besucht.

Und ich wäre am Meer gewe­sen. So oft, wie es in drei Wochen Urlaub mög­lich ist, wäre ich ans Meer gefah­ren. Hätte aufs Was­ser geschaut. Das Gesicht in den Wind gehal­ten. Die Zehen im Sand ver­gra­ben. Schon vor Wochen hatte ich mir das in den Kopf gesetzt, bewuss­ter als je zuvor. Denn der Strand, die fri­sche Brise, der Blick auf das ewige Blau – all das fehlt mir wie noch nie.

„Meerweh“ heißt die Sehnsucht nach der See

Mein Meer­weh ist zum Glück noch erträg­lich und ich werde zur­zeit mit ande­ren spek­ta­ku­lä­ren Anbli­cken ent­schä­digt: Wäh­rend des Lock­downs kön­nen wir von der Ter­rasse unse­rer Woh­nung süd­lich von Kath­mandu öfter den Hima­laya sehen. Weiße Gip­fel, die sich sonst höchst sel­ten zei­gen, thro­nen hin­ter den grü­nen Hügeln, die das Kath­man­du­tal umran­den. Mitte Mai war erst­mals seit Jahr­zehn­ten sogar der 200 Kilo­me­ter ent­fernte Mount Ever­est von der Haupt­stadt zu erkennen.

Die Sogwirkung des Meeres

 

Doch so schön ich das Berg­pan­orama auch finde: Es macht mit mir nicht annä­hernd das, was der Blick auf die offene See mit mir macht. Das wurde mir kürz­lich aus­ge­rech­net zu Hause auf dem Sofa klar – dank Net­flix. „Doc Mar­tin“ heißt die Serie, die mein Freund und ich im nepa­le­si­schen Ange­bot des Strea­ming-Diens­tes fan­den und wegen ihrer anfäng­li­chen Rosa­mun­de­pilche­rig­keit fast nach zwei Fol­gen abge­bro­chen hät­ten. Sie spielt in dem fik­ti­ven Dorf Port­wenn an Eng­lands Süd­küste, in Corn­wall, um genau zu sein. Das Meer, an des­sen Ufer Port­wenn liegt, ist ebenso Star der Serie wie ihre Hauptcharaktere.

Wir lern­ten „Doc Mar­tin“ lie­ben. Und fortan löste jeder Kame­ra­schwenk über die Klip­pen auf den Ozean, jeder von Gischt umspülte Fel­sen und jede sachte in die Bucht hin­ein­rol­lende Welle bei mir ein leich­tes Zie­hen in der Herz­ge­gend aus. Oder anders: den sehn­li­chen Wunsch, genau jetzt an Corn­walls Küste zu stehen.

Am Meer im südenglischen Brighton
Nicht Corn­wall, aber auch Süd­eng­land: Die Autorin am Strand von Brighton
Sogar Fotos schaf­fen das. Neh­men wir das fol­gende: ein Strand­auf­gang auf der Insel Use­dom. Keine her­aus­ra­gende Auf­nahme, ich meine, sie ist sogar ein klein wenig unscharf. Und trotz­dem: Genau wie das Was­ser Steine vom Ufer ins Meer hin­ein­zieht, wäh­rend sich wei­ter drau­ßen eine neue Woge auf­türmt, zieht die­ses Foto mich mit­ten hin­ein in die­sen Ort.
Ab ans Meer: Strandaufgang auf Usedom

Ich kann das Rau­schen der Wel­len hören. Mein Herz klopft schnel­ler, wenn ich mir vor­stelle, bar­fuß auf den Holz­plan­ken in Rich­tung Strand zu lau­fen. Ich halte den Atem an, wenn die Sträu­cher links und rechts den Blick auf die Ost­see ganz frei­ge­ben, lasse den Blick schwei­fen, setze die Füße in den war­men Sand und … Ich könnte noch eine Weile wei­ter­ma­chen. Keine andere Land­schaft übt einen sol­chen Sog auf mich aus.

Meerweh: Studien rund um den Kraftort Küste

 

Mit mei­nem Meer­weh, so viel ist klar, bin ich nicht allein. Zwei von drei Deut­schen fah­ren einer Umfrage zufolge im Urlaub an die See. Sie ist der immer­wäh­rende Sehn­suchts­ort der Mas­sen, nicht nur für Men­schen, die, wie ich, den Groß­teil ihres Lebens in Städ­ten am Was­ser gelebt haben.

Blick aufs Meer in Vancouver
Blick aufs Meer im Stadt­teil West End in Vancouver

Das „Reizklima“ tut uns gut

Warum das so ist? Dazu gibt es aller­hand Erklä­rungs­an­ge­bote und fast nie fehlt der Hin­weis auf die gesund­heits­för­dernde Wir­kung des Mee­res. Allen voran soll die Luft Wun­der wir­ken: Am Meer atmen wir mari­ti­mes Aero­sol ein, ein Gemisch, das Salz­was­ser­tröpf­chen ent­hält, die in den Rachen­raum und bis in die Lun­gen­bläs­chen vor­drin­gen. Das mil­dert Atem­wegs­be­schwer­den und hilft Men­schen mit All­er­gien und Asthma. Zusam­men mit der Tem­pe­ra­tur, der UV-Strah­lung, der Luft­feuch­tig­keit und dem Wind macht das Aero­sol das „Reiz­klima“ an der See aus – so nen­nen Medi­zi­ner das beson­dere Zusam­men­spiel von Wit­te­rungs­fak­to­ren, das unse­ren Kör­per zugleich for­dert und schont. Es stärkt die Abwehr, lin­dert Haut­krank­hei­ten und ent­las­tet unse­ren Kreislauf.

Die See spricht alle Sinne an

Fast immer wird auch ein Lob­lied auf die ent­span­nende Wir­kung des Mee­res gesun­gen. Einer Stu­die aus Eng­land zufolge sind Men­schen nach einem Aus­flug an die Küste ruhi­ger und erfrisch­ter als nach einem Spa­zier­gang durch einen Park oder einem Besuch auf dem Land. Das Meer spricht alle Sinne an. Weit und wei­ter erstreckt es sich, ohne Begren­zung, bis zum Hori­zont – ein Anblick, der uns das Gefühl von Frei­heit schenkt. Auch die Far­ben des Was­sers spie­len eine Rolle: Laut Psy­cho­lo­gen wir­ken die blauen, grü­nen und tür­kis­far­be­nen Licht­wel­len beruhigend.

Meerweh: Die Farben des Meeres beruhigen
Tür­ki­ser geht nicht: Anda­ma­nen­see in Thailand

Dann wären da noch all die ande­ren Sin­nes­ein­drü­cke: der Wind auf der Haut, der Salz­ge­ruch in der Nase, der Fri­sche­kick, wenn die letz­ten Aus­läu­fer einer Welle am Ufer erst­mals über unsere Füße rol­len. Über­haupt, unsere Füße: Meist ste­cken sie drau­ßen in Socken und Schu­hen. Nicht so am Strand: Da kön­nen wir dem Gefühl nach­spü­ren, die das Ein­sin­ken der nack­ten Fer­sen in den Sand und das Abrol­len auf win­zi­gen Stein­chen bei jedem Schritt hin­ter­las­sen. Sel­ten füh­len wir uns so mit der Natur verbunden.

Vor allem aber sind es die Geräu­sche des Mee­res, die uns selig machen. Und das obwohl es so laut tösen kann wie ein vor­bei­fah­ren­der LKW. Warum es uns trotz­dem ent­spannt? Weil die Fre­quenz, mit der die Wel­len bre­chen und an die Küste rol­len, dem Atem­rhyth­mus eines ruhen­den Men­schen ent­spricht. Das wirkt sogar schmerz­stil­lend. Viele Zahn­ärzte und ‑ärz­tin­nen zei­gen des­halb wäh­rend der Behand­lung mit dem Boh­rer gern Videos vom Meer.

Sorgt für Meerweh: Foto vom Strand in Mexiko
Die­ses Foto vom Strand in Sayu­lita, Mexiko, sorgt eben­falls für Meerweh

Warum mehr Men­schen sich an die Küste als ins Gebirge seh­nen, auch dazu ist schon aller­hand geforscht wor­den. Am bes­ten gefällt mir die Erklä­rung der Jour­na­lis­tin Eva Ten­zer, die ein Buch dar­über geschrie­ben hat, warum der Ozean uns glück­lich macht. Die See, meint sie, will nichts von uns. Berge müsse man bezwin­gen. Das Meer hin­ge­gen könne man auch ganz pas­siv genießen.

Was tun gegen Meerweh?

Wenn man „Meer­weh“ und „Sehn­sucht nach Meer“ goo­glet, stößt man auf unzäh­lige Sprü­che, die das kol­lek­tive Ver­mis­sen der See in Worte fas­sen. Man fin­det aller­hand Tisch­ka­len­der für Meer­weh-Geplagte, die mit eben­die­sen Sprü­chen ver­se­hen sind. Man stößt auch auf eine Doku-Serie namens „Ver­rückt nach Meer“, von der ich noch nie gehört habe, obwohl sie offen­bar schon seit zehn Jah­ren in der ARD läuft. Lei­der ist sie nicht das Rich­tige für mich, denn darin geht es haupt­säch­lich um das Leben an Bord eines Kreuzfahrtschiffes.

Das ein­zige Such­ergeb­nis, das ein biss­chen Abhilfe schafft, ist ein Pod­cast zum Thema vom NDR. Er rich­tet sich an alle, die wegen der Corona-Krise in den ver­gan­gen Wochen nicht an den Strand fah­ren konn­ten. „Die Sehn­sucht ist groß nach Strand und Meer, nach Wind, Weite und Wel­len. Des­halb brin­gen wir das Meer heute zu Ihnen“, sagt die Spre­che­rin und beginnt dann mit einer klei­nen Medi­ta­tion. Ich lasse mich ein auf den kur­zen ima­gi­nä­ren Strand­spa­zier­gang. Im Anschluss ver­weist sie auf die ARD-Media­thek: Dort gebe es mehr als 700 Bei­träge, die sich im wei­tes­ten Sinne mit dem Meer befassen.

Strand in Thailand
Am Strand in Thailand
Ich folge ihrem Tipp, öffne an mei­nem Lap­top die Web­seite der Media­thek und gebe „Meer“ in die Such­zeile ein. An eini­gen Bei­trä­gen bleibe ich hän­gen, zum Bei­spiel an einer Doku über die Nord­see­insel Föhr. Darin fah­ren Men­schen zwi­schen grü­nen Fel­den und tief­blauem Meer auf schnur­ge­ra­den, schein­bar unend­li­chen Wegen Fahr­rad. Kaum fünf­zehn Minu­ten habe ich gese­hen, schon öffne ich einen wei­te­ren Tab und recher­chiere: Wie  schnell kommt man eigent­lich von Ham­burg nach Föhr?  (Ant­wort: In vier Stun­den und zehn Minu­ten). Danach sehe ich einen Film über Däne­mark mit Küs­ten­bil­dern von Ska­gen bis Flens­burg. Halb sind sie schon beschlos­sene Sache, die Urlaubs­ziele nach mei­ner Rück­kehr aus Kathmandu.
Die Ostsee in Heringsdorf im Winter
Auch im Win­ter wun­der­schön: der Ost­see­strand in Herings­dorf auf Usedom

Und dann ent­de­cke ich einen Bei­trag über den Greifs­wal­der Bod­den, die Ost­see­bucht, an der ich groß gewor­den bin.  Und nicht erst jetzt, beim Anblick von Boo­ten in hei­mi­schen Häfen und Küs­ten, an denen Dünen­gras im Wind weht, ist es wie­der da: das leichte Zie­hen in der Herz­ge­gend, das Meerweh.

Lesetipps für Meerweh-Geplagte

Die See ist tra­di­tio­nell Thema in unzäh­li­gen Büchern und Fil­men. Wer sich  fragt, was die Fas­zi­na­tion des Mee­res aus­macht, fin­det Ant­wor­ten in den fol­gen­den zwei Büchern: „Ein­fach schwe­ben: Wie das Meer den Men­schen glück­lich macht“ von Eva Ten­zer und „Mee­res­rau­schen: Vom Glück am Was­ser zu sein“, das  meh­rere Autoren und Autorin­nen ver­fasst haben. Eva Ten­zers Buch stammt schon aus dem Jahr 2007 und ist womög­lich nur noch gebraucht ver­füg­bar. Hier kann man ein Inter­view mit der Wis­sen­schafts­jour­na­lis­ten zum Thema Mee­res­glück hören. An dem zweite Buch hat unter ande­rem Elke Wei­ler mit­ge­wirkt. Sie schreibt seit fast zehn Jah­ren auf meerblog.de über das Leben an der Küste und ihre Wahl­hei­mat Nordfriesland.

Apro­pos Blogs: Das Deut­sche His­to­ri­sche Museum hat 2018 eine Blog­pa­rade mit dem Titel „Europa und das Meer – Was bedeu­tet mir das Meer?“ ins Leben geru­fen. Wer auf die­ser Seite wei­ter her­un­ter­scrollt, fin­det alle zum Thema ent­stan­de­nen Beiträge.

Und wer sich jetzt zurück­leh­nen und sich ans Was­ser träu­men möchte, dem hilft viel­leicht die­ses You­tube-Video mit Mee­res­rau­schen am Pal­men­strand.

Cate­go­riesWelt
Susanne Helmer

Journalistin aus Hamburg, die es immer wieder in die Welt hinauszieht. Gern auch für etwas länger. Am Ende jeder Reise stand bislang immer dasselbe Fazit: Kaum etwas im Leben euphorisiert und bereichert sie so sehr wie das Anderswosein. Und: Reisen verändert.

  1. Marco says:

    Inter­es­san­ter und sehr schö­ner Text! Wir kom­men auch aus Ros­tock und kön­nen die Gefühle am Meer nur bestä­ti­gen! Gerade zur Corona-Zeit erkun­den wir ver­schie­dene Strände vor unse­rer Haus­türe und sind immer total fas­zi­niert, was das Meer uns gibt. Ein­fach dort sit­zen, aufs Meer schauen und den Gedan­ken freien Lauf las­sen… Danach schei­nen die Sor­gen klei­ner als vor­her.. Ver­rückt! Sicher­lich die ein­fachste Art von Meditation :)

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