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Lima,
viele nennen dich »die Chaotische«, und ja, du bist voll, laut und chaotisch. Allein dein Stadtbild ist ungeplant, Chaos pur. Immer weiter wächst du an der Pazifikküste entlang und hast mittlerweile eine Nord-Süd-Ausdehnung von über 120 Kilometern erreicht. Das ist doppelt so weit wie von Jena nach Erfurt, und da liegt sogar noch Weimar dazwischen. Nach und nach wird jeder deiner staubigen Hügelhänge besiedelt, heimlich, über Nacht, mit ein paar Brettern und Wellblechplatten, später folgen Steine, Glas und Beton, und erst dann befestigte Straßen oder fließendes Wasser. Man hat dir auch den Spitznamen »Krake« gegeben, weil du deine Arme einfach immer weiter ausbreitest und die Küste fest umklammerst. Hier in Deutschland sehe ich eine Ampel auf einem leeren Feld stehen, wo später mal eine Straße hinkommen soll, und muss an dich denken, an deine Kopflosigkeit und deine Spontaneität.
Chaos pur, das sind deine Straßen, dein Bus»system«, deine Märkte. Dein größter Markt hat sich inzwischen über mehrere Blocks ausgedehnt, und dort finden sich fiepende Hundewelpen neben Fernsehzubehör aus dem letzten Jahrhundert und illegal gebrannten DVDs. Ein Mann neben mir leert eine Kiste Festplatten auf eine Decke am Boden aus, ein anderer führt an einer Ecke Zaubertricks vor und um mich herum laufen in ohrenbetäubender Lautstärke mindestens vier verschiedene Musikstile. Lima, du bist konstante Reizüberflutung. Zu viele Bilder, Gerüche, Geräusche auf einmal, um alles aufzunehmen, und das beinahe 24 Stunden am Tag.
Manchmal bist du außerdem ziemlich dreckig und du stinkst. Ich erinnere mich an den Dreckfilm, der ein Jahr lang quasi konstant auf meiner Haut lag, und daran, wie schwarz meine Füße jedes Mal waren, wenn ich in Sandalen durch deine staubigen Straßen gestapft bin. Und an die Überlegung jeden Morgen vor dem Kleiderschrank, welche Stadtteile ich heute betrete – um meine guten Sachen nicht an Orten ohne Bürgersteige dreckig zu machen.
Lima, eine Fahrt durch dich ist eine halbe Weltreise. Nicht nur, weil sie ewig dauert, sondern auch, weil jeder einzelne deiner Teile wie ein anderes Land, nein, eine andere Welt, ist. Da wären Miraflores und Barranco mit ihrer hübschen grünen Küste, San Isidro mit seinen hohen, modernen Bankgebäuden, Pueblo Libre mit seinen netten Parks und Familienhäusern, das Centro mit seinen mächtigen, aber verfallenen Kolonialbauten, Villa Maria mit seinen endlos in Richtung Süden reichenden Hügeln, La Molina mit seinen menschenleeren Straßen und Villen hinter hohen Mauern. Und noch viele viele mehr. Wenn man in Lima jemanden kennen lernt, ist die erste Frage, aus welchem Teil von Lima er denn stammt. Denn so kann man jeden einschätzen – beziehungsweise seine ökonomische Situation.
Du bist allerdings nicht nur die Chaotische, für mich bist du auch die Verrückte. Du machst, was du willst, und kümmerst dich kein bisschen darum, was andere denken könnten. Das färbt auch auf deine Einwohner ab. Ich denke an den älteren Mann, der laut Micheal Jacksons »Billie Jean« aufgedreht hat und mitten zur Rush Hour auf dem Bürgersteig dazu tanzt, an die vielen Male, die ich Verkäufer in Läden erst einmal wecken musste, und an die unzählbaren verrückten Lebensgeschichten, die ich von dir gehört habe. Ich denke daran, wie ich meine Seele in einem deiner Schamanenmärkte von einem Gürteltier habe reinigen lassen. Dank dir glaube ich inzwischen an Geister, und meinetwegen auch an Aliens, bei dir würde mich ja eigentlich gar nichts mehr wundern. Ziehst du all die sympathischen Verrückten an oder wird man selbst einfach ein bisschen verschroben, wenn man zu lange bei dir bleibt?
Du bist bestimmt nicht überall schön, aber welche 10-Millionen-Stadt kann das von sich behaupten? Über viele solche Städte wird gesagt, man kann sie entweder lieben oder hassen. Bei dir geht das mit dem Lieben nicht so gut. Für die meisten deiner Bewohner ist es eher eine gewisse Hassliebe. Wenn sie mal wieder stundenlang in unbequemer Position im vollgestopften Bus ausharren, durch regelrechte Müllberge stapfen und den schwarzen Rauch wegfahrender Autos aushusten. »Warum ziehst du denn nicht woanders hin?«, ist allerdings eine Frage, die nur ein Außenstehender stellen kann. Denn Wegziehen, das wäre für die Limeños unvorstellbar. Außerhalb von Lima existieren schließlich eh nur Lamas und Berge!
Vielleicht bin ich ja selbst zu einer Art Limeña geworden. Denn mir geht es ganz genauso, ich hab dich manchmal geliebt, manchmal gehasst, und nun habe ich wirklich Sehnsucht nach dir. Wie gern würde ich mal wieder einen deiner Sonnenuntergänge über Barranco und Chorrillos beobachten, auf dem Mercado Central tausende seltsame Dinge entdecken und in einem deiner scheinbar nur noch von Klebeband zusammengehaltenem Minibusse durch die Straßen brausen. Andere träumen vom Cocktail am Palmenstrand, ich vom Maracujasaft in dem winzigen Restaurant an der Plaza Bolivar. So ganz kann ich mir das nicht erklären, denn du hast wirklich viele Schwächen – aber du lässt mich einfach nicht los. Zwar glaube ich nicht, dass wir für immer zusammengehören, aber ich will dich mal wieder erleben, gern für ein paar Monate, vielleicht länger. Wir sehen uns, hoffentlich bald.
Antworten
Klasse geschriebener Artikel. Ich wohne schon seit über 8 Jahren in Lima, und kann Vieles bestätigen. Allerdings ist das Gefühl reine Liebe bei mir, uneingeschränkt, sogar im Stau. Um ehrlich zu sein, ich liebe Lima! Und jedes mal wenn ich auf Reisen »muss« vermisse ich das chaotische, riesige und doch irgendwie wunderschöne und vielseitige Lima. Vieles von dem was Du schreibst ist absolut zutreffend. Jeder Stadtteil ist im Grunde genommen oftmals eine eigene Welt, ein eigener Kosmos, mit einem ganz eigenen Charakter.… und ja, es stimmt: man wird oft gefragt wo man denn wohnt in Lima (in Barranco, Surco, San Juan de Lurigancho oder vielleicht Villa el Salvador vielleicht?) und je nach Antwort auch ökonomisch einsortiert.
Lima ist in vielerlei Hinsicht ein Konzentrat was Peru ausmacht. Alle Kulturen, gastronomischen Einflüsse, Gewohnheiten, Produkte und Stile versammeln sich in Lima. Hier kann man Menschen aus ganz Peru und aus der ganzen Welt treffen. Jede kulinarische Region ist in Lima vertreten, jede Musikrichtung, Literatur oder Tanz – egal woher; aus den Anden, von der Küste oder aus der Selva.
Te amo Lima
LG Marco
Super geschrieben! Ich komme gerade aus Peru zurück. Dort war ich nach 7 Jahren endlich mal wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde. Die Sehnsucht hielt immer an. Wahnsinn wie sich das Zentrum von Lima geändert an – zum Positiven wie ich finde. Und dennoch hat es nichts von all den Charakteren eingebußt, die du so wunderbar trefflich beschreibst!
Ich weiß, ich komme wieder. Hoffentlich wird deine Sehnsucht bald gestillt und du berichtest mehr über das Kuriose Leben einer Limeña 🙂http://www.delightfulspots.de/2015/03/12/meine-sehnsucht-nach-peru-und-was-die-itb-damit-zu-tun-hat/
Genau so ist sie!
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