I

In den Fuß­stap­fen der Schneeleoparden

Viele Leute ver­brin­gen ihren Som­mer­ur­laub am Meer, andere in den Ber­gen oder auf Bal­ko­nien. Es gibt aber auch Men­schen, die gehen im Her­zen Asi­ens auf Expe­di­tion, um mit Wis­sen­schaft­lern den wei­test­ge­hend uner­forsch­ten Lebens­raum vom „Geist der Berge“, dem Schnee­leo­par­den, im Tien Shan Gebirge Kir­gi­stans zu durch­fors­ten. Mit Bio­sphere Expe­di­ti­ons, das seit 1999 mit­hilfe von Men­schen wie du und ich welt­weit Arten­schutz und wis­sen­schaft­li­che Recher­che betreibt, teils unter­stützt vom deut­schen NABU. Was dabei für jeden Ein­zel­nen her­aus­kommt, ist mehr als ein klei­ner Bei­trag zum Natur­schutz. Es ist auch eine große Lek­tion fürs Leben.

Titel­bild © Andy Fabian

Zuhause ist dort, wo die Zelte stehen

Es ist früh­mor­gens in Bish­kek, der Haupt­stadt Kir­gi­stans, als die vier sil­ber­nen Gelän­de­wa­gen voll­be­packt bis unters Dach auf­bre­chen. An Bord Pro­vi­ant für knapp zwei Wochen für 13 Expe­di­ti­ons­teil­neh­mer, den 35-jäh­ri­gen Expe­di­ti­ons­lei­ter Ama­deus DeKastle, den 67-jäh­ri­gen ukrai­ni­schen Bio­lo­gen und Wis­sen­schaft­ler Dr. Volo­dya Tytar, die zwei jun­gen kir­gi­si­schen Gehil­fen Bek und Beka sowie Köchin Gulya. Ein letz­ter Stopp am Super­markt folgt, um noch etwas in der Zivi­li­sa­tion zu erwer­ben – vor allem zum Über­le­ben in der Wild­nis wich­ti­gen Wein. Hin­ter der Klein­stadt Koch­kor begin­nen Staub­pis­ten durch sanft­grüne Hügel, hin­ter denen schnee­be­deckte Berg­spit­zen her­vor­lu­gen. Lange Zeit rauscht ein Fluss neben uns her, als wollte er ein Wett­ren­nen gewin­nen. Hier ist es egal, ob die Fahrt die ange­kün­dig­ten fünf oder sechs Stun­den dau­ert oder doch sie­ben, der Weg ist von sol­cher Schön­heit, dass er zum Ziel wird. Helle Jur­ten punk­ten die häu­ser- und men­schen­leere Land­schaft, manch­mal gra­sen Pferde auf Wei­den, ein­mal rei­tet ein Hirte vor­bei, lächelnd. Dort, wo Men­schen zur Sel­ten­heit wer­den, macht es wie­der Freude, sie zu sehen.

„Erst diese Woche ist der Schnee oben auf dem Berg­pass geschmol­zen“, erklärt Ama­deus, was den Weg zum West Kara­kol River Val­ley, auch Suusa­myr genannt, erheb­lich ver­kürzt – unser wil­des Zuhause für die nächs­ten zwei Wochen. Es ist der vor­letzte Juli­tag, und noch immer klam­mern sich erd­be­su­delte Schnee­reste an man­chen Weges­rand. Wenn daheim die Bade­sai­son in vol­lem Gange ist und die Tem­pe­ra­tu­ren 35 Grad errei­chen. Warum ich hier bin, weiß ich, aber wieso tun sich die ande­ren 12 Teil­neh­mer das an, die meist stolze Sum­men hin­ge­legt haben, um sich zwei Wochen die Füße im Tien Shan Gebirge wund­zu­lau­fen, auf der Suche nach einem Tier, das zu 99% nie­mand sehen wird? Ein paar Geschich­ten habe ich schon auf­ge­schnappt: von der Deut­schen mitt­le­ren Alters, deren Ehe­mann bis zu sei­nem Tod in Schnee­leo­par­den­pro­jekte inves­tiert hat und mit des­sen Spen­den Foto­fal­len gekauft wur­den, die wir nun auf­stel­len sol­len. Von der Schwei­zer Berg­lieb­ha­be­rin Mitte 40, die sich als wahre Berg­ziege her­aus­stel­len soll. Von dem Ame­ri­ka­ner, der sich als Wild­nis­fa­na­ti­ker beweist und gerne von sei­nen Kuschel­erfah­run­gen mit Wöl­fen berich­tet. Von dem US-Bio­lo­gen, der nach einer Unter­was­ser­ex­pe­di­tion auf den Male­di­ven nun bereit ist für Arten­schutz auf bis zu 4.000 Metern Höhe. Von der fast 80-jäh­ri­gen Aus­tra­lie­rin Jan, die ihr Leben lang durch die Welt geti­gert ist und mit ihrem Stock und der künst­li­chen Hüfte nun eine neue Her­aus­for­de­rung sucht.

Bei schöns­tem Son­nen­schein errei­chen wir unser Basis­la­ger auf knapp 3.000 Metern Höhe, an einem fröh­lich plät­schern­den Gebirgs­fluss, auf des­sen ande­rer Seite eine Jurte von einem Hir­ten bewohnt wird. Auch wir haben drei Jur­ten, eine zum Kochen, eine zum Zusam­men­sit­zen und eine mit klei­nem Ofen, um nasse Kla­mot­ten und Wan­der­schuhe zu trock­nen. Jeder hat sein eige­nes Zelt, genug Platz für eine Per­son und ihr Gepäck. Daheim ist nun dort, wo mich eine dünne Plas­tik­wand von den Augen und Stra­pa­zen der Außen­welt abschirmt. Als ich den Reiß­ver­schluss des Zel­tes nach einer Ver­schnauf­pause wie­der auf­ziehe, ste­hen teer­schwarze Wol­ken über uns. Will­kom­men in Kir­gi­stan. Will­kom­men in den Ber­gen, wo es nicht immer anders kommt, als man denkt. Aber oft.

Zuerst die Arbeit, dann … 

Der Wodka. Ein treuer Gefährte in Kir­gi­stans Wei­ten. Auch unser ers­ter Abend beginnt mit dem einen oder ande­ren Gläs­chen, wozu uns Bek und Beka ein­la­den, dazu haben die Noma­den­nach­barn, die zwi­schen Juni und Sep­tem­ber mit ihrem Vieh in die Berge zie­hen, eine bereits mund­ge­recht zer­stü­ckelte Ziege vorbeigebracht.

Wäh­rend der Wodka den Kör­per von innen wärmt, fal­len drau­ßen die Tem­pe­ra­tu­ren. Als ich im Zelt in mei­nen Schlaf­sack schlüpfe, angeb­lich opti­miert für bis zu minus sechs Grad, sehe ich mei­nen Atem im Schein der Taschen­lampe auf­stei­gen. Was für ein Glück, dass ich noch eine der letz­ten dicken Decken made in China aus dem Las­ter des NABU fischen konnte, mit dem die Jur­ten­ge­rüste und wei­te­res Mate­rial in die Wild­nis geschafft wur­den. Mit selbst­auf­blas­ba­rer Unter­ma­tratze, nagel­neuem Schlaf­sack und China­de­cke schlum­mere ich bald wie ein Baby, nur, dass mich anstelle eines Schlaf­lie­des das Plät­schern des Flus­ses in den Schlaf wiegt. Des­sen Tem­pe­ra­tur ich mal kurz getes­tet habe: Schon nach weni­gen Sekun­den spürte ich meine Fin­ger kaum noch. So viel zum Gra­tis­bad für die nächs­ten Wochen.

Früh­mor­gens weckt mich das Licht. Unter der Zelt­de­cke hän­gen Trop­fen, die China­de­cke ist klamm, mein Atem steigt noch immer auf. Ich packe mei­nen Mut und öffne lang­sam den Reiß­ver­schluss des Schlaf­sacks. Meine Hände zit­tern vor Kälte, als ich zuerst das Unter‑, dann das Ober­zelt auf­ziehe und sehe, dass es die Sonne noch nicht über die umge­ben­den Berg­spit­zen geschafft hat. Ich krie­che nach drau­ßen, in einen so knusp­ri­gen Mor­gen, dass ich mir daheim in Ham­burg den dicks­ten Win­ter­man­tel, Mütze, Hand­schuhe und knie­hohe Stie­fel ange­zo­gen hätte. Unter dem Hügel, auf dem wir die Zelte auf­ge­baut haben, ste­hen die drei tau­be­deck­ten Jur­ten, aus dem Schorn­stein der Küchen­jurte dampft es. Gulya ist schon am Werk, berei­tet unser Früh­stück vor – Pfannkuchen.

Ich spa­ziere zu den wenige Meter ent­fernt auf­ge­stell­ten Toi­let­ten­zel­ten, die aus der Erde geho­bene Löcher ver­ber­gen. Wie gut, dass ich auch sonst fast jeden Mor­gen Knie­beu­gen mache – nur, dass dabei nicht die pro­vi­so­risch zuge­bud­del­ten Aus­schei­dun­gen eines ande­ren damp­fen, der es noch vor mir zur Natur­toi­lette geschafft hat. Dage­gen ste­hen die zwei Dusch­zelte noch voll­kom­men ver­waist am Ufer. Komisch, dass kei­ner einen Eimer geschnappt hat, um ihn sich zum Auf­wa­chen mit eis­kal­tem Fluss­was­ser über den Kopf zu kip­pen. Auch ich ver­zichte dar­auf, freunde mich statt­des­sen mit mei­ner Kata­stro­phen­pa­ckung Baby­po­feucht­tü­cher an.

Nach dem Früh­stück strahlt uns die Sonne an, als hätte es die schwar­zen Wol­ken vom Vor­tag nie gege­ben, die Tem­pe­ra­tu­ren klet­tern in Minu­ten­schnelle in den zwei­stel­li­gen Bereich, T‑Shirts und Shorts erset­zen Fleece­pul­lis und lange Wan­d­er­ho­sen. Um uns herum tür­men sich ver­füh­re­risch die Berge auf, wo sie her­um­sprin­gen könn­ten, die scheuen Schnee­leo­par­den. Es juckt uns allen in den Füßen, doch am ers­ten Tag blei­ben die Wan­der­schuhe im Zelt: Trai­ning in der Gemein­schafts­jurte ist ange­sagt, Schnee­leo­par­den­for­schungs­stu­dium für Anfän­ger, damit wir nicht wie Dep­pen in die Berge auf­bre­chen. Denn das Motto von Bio­sphere Expe­di­ti­ons lau­tet: safety, sci­ence, satis­fac­tion. Sicher­heit, Wis­sen­schaft, Zufrie­den­heit. In genau die­ser Reihenfolge.

Schnee­leo­par­den­for­scher in einem Tag

Die meis­ten Dinge im Leben brau­chen Zeit, aber zum Lai­en­schnee­leo­par­den­for­scher kann man in einem Tag wer­den. „All die Daten, die ihr sam­melt, wer­den euer Ver­mächt­nis als Gruppe“, beginnt Ama­deus, die noch etwas über­näch­tigte Truppe an ihre Auf­ga­ben her­an­zu­füh­ren. Wenn auf etwa 105.000 Qua­drat­ki­lo­me­tern mög­li­chem Lebens­raum zwi­schen 4.000 bis 7.000 Schnee­leo­par­den leben und nur etwa 350 davon noch im kir­gi­si­schen Gebirge unter­wegs sind, ist das schon ein biss­chen die Suche nach der Steck­na­del im Heu­hau­fen. Oder eben nach einem geröll­far­be­nen Pelz im Geröll.

Wes­we­gen es auch im Gegen­satz zu einer Safari, bei der man die Big Five abha­ken will, auf der Expe­di­tion nicht das Ziel ist, dass jeder von uns mal einen Schnee­leo­par­den sich­tet. Das Ziel besteht viel­mehr darin, uns auf die Spu­ren­su­che nach Beu­te­tie­ren zu bege­ben – sprich Abdrü­cke und Kot von belieb­ten Schnee­leo­par­dens­nacks wie Stein­bö­cken, Rie­sen­wild­scha­fen, Schnee­hüh­nern und Mur­mel­tie­ren – um zu begrei­fen, ob eine bestimmte Zone über­haupt einen geeig­ne­ten Schnee­leo­par­den-Lebens­raum abgibt. Natür­lich sol­len wir auch Aus­schau hal­ten nach Tat­zen­ab­drü­cken, Kot von Schnee­leo­par­den selbst oder geris­se­nen Tie­ren, doch diese sind äußerst sel­ten zu fin­den. Dabei spie­len nicht nur wir Bür­ger­wis­sen­schaft­ler eine wich­tige Rolle, son­dern auch die Lokal­be­völ­ke­rung wie unsere Noma­den­nach­barn. „Die­sen Früh­ling will ein Hirte in einem Tal ein totes Schnee­leo­par­den­baby gesich­tet haben“, erzählt Volo­dya, der seit 2014 die Schnee­leo­par­den­for­schung im Tien Shan Gebirge leitet.

„Denkt daran, dass wir nicht hier sind, um die höchs­ten Gip­fel zu erklim­men“, ermahnt uns Ama­deus. End­lich Zeit für den Weg, für die Spu­ren auf dem Pfad, für die Details am Weges­rand, die meist mehr zu sagen haben als ein Gip­fel. Des­we­gen bin ich hier. Für die Geschich­ten des Weges. „60% der Schnee­leo­par­den­be­völ­ke­rung lebt in China und Tibet“, erzählt Volo­dya. „In Russ­land leben Schnee­leo­par­den schon auf etwa 540 Metern Höhe, doch nor­ma­ler­weise befin­det sich ihr Lebens­raum eher auf 3.000 bis 5.000 Metern.“ Dabei sei der Name Schnee­leo­pard eigent­lich irre­füh­rend, viel­mehr müsse er „Fels­leo­pard“ lau­ten. „Schnee behin­dert den Schnee­leo­par­den in sei­nen Jagd­ka­pa­zi­tä­ten, und auch die Tarn­farbe ist auf stei­ni­ges Ter­rain abge­stimmt.“ Unebe­nes, durch­bro­che­nes Ter­rain, Klip­pen und Berg­rü­cken sind die Hei­mat der Tiere. Und dem­entspre­chend die Art Orte, die wir in den nächs­ten paar Wochen erkunden.

„In China war Wil­de­rei ein gro­ßes Pro­blem“, berich­tet Volo­dya, „denn die Kno­chen wur­den für ein Heil­mit­tel genutzt, von dem die Men­schen irr­tüm­lich glaub­ten, dass es eine ähn­li­che Wir­kung wie Via­gra habe.“ Mitt­ler­weile werde jedoch streng kon­trol­liert, vor allem dank eines Anti-Wil­de­rei­pro­jekts des NABU. Pro­ble­ma­tisch sei außer­dem gewe­sen, dass die zu Sowjet­zei­ten sub­ven­tio­nier­ten Hir­ten mit ihren Pfer­den, Kühen und ande­rem Vieh immer höher ins Gebirge zogen, um Wei­de­flä­chen zu fin­den. „Das ver­trieb die Beu­te­tiere und auch Wölfe, Luchse und Braun­bä­ren.“ Die eben­falls Schutz ver­die­nen, aber in zwei­ter Reihe ste­hen. „Die Schnee­leo­par­den sind die cha­ris­ma­tischs­ten Tiere und inspi­rie­ren die Men­schen, sie zu schüt­zen“, so Ama­deus. Da die Hir­ten mitt­ler­weile selbst dafür zah­len müss­ten, im Som­mer ein Stück Land in den Ber­gen zu bewirt­schaf­ten, kämen auch weni­ger, und die For­scher mach­ten sich die alten Vieh­wege zu Nut­zen. Die Hoff­nung besteht nun darin, dass dank den Schnee­leo­par­den die gesamte Region zum Bio­sphä­re­re­ser­vat ernannt wird, wovon auch die ande­ren Arten pro­fi­tie­ren würden.

Die Gruppe lauscht auf­merk­sam, man sieht Leuch­ten in den Augen, als einer nach dem ande­ren begreift, dass er einen klei­nen Bei­trag zu die­sem Ziel leis­ten kann. Doch wieso wer­den wir über­haupt gebraucht? „Das, was ihr für die Expe­di­tion aus­gebt, fließt zu 70% in das Pro­jekt, in Per­so­nal, Aus­rüs­tung und Trans­port­mit­tel.“ Staat­li­che Unter­stüt­zung gäbe es näm­lich seit Ende der UdSSR nicht mehr, also sei man von Pri­vat­per­so­nen abhän­gig. „Die Lokal­be­völ­ke­rung ist lei­der oft gegen ein Reser­vat, aus Angst, sie wür­den dann ihre Land­nut­zungs­rechte ver­lie­ren.“ Dabei hät­ten die Kir­gi­sen an sich eine posi­tive Ein­stel­lung zu Schnee­leo­par­den, die sie im Gegen­satz zu Wöl­fen nicht als Gefahr für ihr Vieh sähen. „Der Schnee­leo­pard ist ein Sym­bol Kir­gi­stans und der Berge. Wir wol­len die Men­schen über­zeu­gen, dass es gut wäre, mehr Besu­cher in ein Natur­schutz­ge­biet in Kir­gi­stan zu brin­gen.“ Dann könnte man Hir­ten zum Bei­spiel als Ran­ger aus­bil­den, denn sie kenn­ten sich am bes­ten in der Gegend aus. Immer wie­der zie­hen Bio­sphere Expe­di­ti­ons-Grup­pen aus, um mit den Noma­den­nach­barn zu spre­chen, sie über das Pro­jekt auf­zu­klä­ren und Unter­stüt­zung bei der Spu­ren­su­che zu gene­rie­ren. Auch ich werde ein­mal mit von der Par­tie sein und mit­hilfe von Volo­dya oder Beka als Über­set­zer Inter­views füh­ren. Und dabei mit Kymyz, ver­go­re­ner Stu­ten­milch und Natio­nal­drink der Kir­gi­sen, sowie wei­ßen Bäll­chen, eben­falls aus Stu­ten­milch, ver­sorgt werden.

Doch auf unse­ren Wan­de­run­gen dreht sich nicht alles um die gro­ßen Tiere, son­dern auch um manch kleine Dinge: Mit dem soge­nann­ten Lapis Guide, einer App, wird fest­ge­hal­ten, wel­che Schmet­ter­linge uns begeg­nen – eine wich­tige Art, die auf Kli­ma­ver­än­de­run­gen hin­weist. Außer­dem gibt es die Rubrik „Petro­gly­phen“, Fels­zeich­nun­gen, die zwi­schen 600 und 1.000 Jah­ren alt sind und oft Beu­te­tiere wie Stein­bö­cke und Hir­sche dar­stel­len. Auch auf­grund die­ser his­to­ri­schen Funde könnte das Gebiet Schutz­sta­tus erhal­ten. „Damit wir best­mög­li­che Resul­tate bekom­men, teilt ihr euch jeden Tag in zwei oder drei Grup­pen auf und erkun­det unter­schied­li­che Täler, die wir in Zel­len ein­ge­glie­dert haben“, erklärt Ama­deus anhand einer Karte mit vie­len Qua­dra­ten. Ein paar Wochen vor uns war bereits die erste Bür­ger­wis­sen­schaft­ler­gruppe auf Expe­di­tion und hat den bun­ten Ecken nach aller­hand erreicht – Zeug­nisse von Beu­te­tie­ren gefun­den und Foto­fal­len auf­ge­stellt, die wir nun wie­der ein­sam­meln müs­sen. In der Hoff­nung, zumin­dest auf den Auf­nah­men einen Blick auf eine Wild­katze zu erha­schen – was in vier Jah­ren For­schung bis­her nicht ein­mal gelun­gen ist. Ob es die­ses Mal klappt?

Foto­fal­len und Wetterlaunen

Es ist der erste August und wir wol­len zum ers­ten Mal los­zie­hen, um Foto­fal­len auf­zu­stel­len. Der Arbeits­all­tag ist dabei gere­gelt wie bei einem 9–5 Job, nur, dass es schon um acht Uhr los­geht. Ab sie­ben gibt es Früh­stück, danach wird mit einer Mischung aus eis­kal­tem Fluss­was­ser und von Gulya heiß­ge­koch­tem abge­wa­schen – nach genauem Plan, immer zu zweit. Bevor die Wagen star­ten, brieft uns Volo­dya zum Fal­len­auf­stel­len, denn so ein­fach ist das gar nicht: „Die Foto­fal­len wer­den schon von Bewe­gun­gen wie Gras­hal­men oder Schnee­flo­cken aus­ge­löst, aber auch von Tem­pe­ra­tur­un­ter­schie­den.“ Dane­ben reagiere die Kamera auf direkte Son­nen­ein­strah­lung, zum Bei­spiel bei Son­nen­auf- und unter­gang, wes­halb sie nie direkt nach Osten oder Wes­ten deu­ten sollte. „Tiere nut­zen genauso gern Wege wie wir, also soll­ten die Foto­fal­len auf Wege zei­gen“. Obwohl die Bat­te­rien bis zu zwei Jahre hal­ten, blei­ben die meis­ten Fal­len nur einen Monat ste­hen, einige wenige das ganze Jahr über. Alles klar. Und wann geht es end­lich los?

An die­sem Mor­gen ist der Him­mel wol­ken­be­deckt und die Luft erin­nert an einen typi­schen Januar in Deutsch­land. Bek schaut besorgt gen Wes­ten, flüs­tert etwas von Schnee. Volo­dya scheint’s wurscht zu sein, er tritt in sei­nen übli­chen Shorts aus dem Zelt, dar­über eine Regen­ja­cke in Camou­fla­ge­far­ben, das Gesicht rund um den grauen Bart gerö­tet. Trüge er einen roten Man­tel, könnte er sofort als Weih­nachts­mann­dar­stel­ler los­le­gen. Als wir in den Gelän­de­wa­gen sit­zen und zum Start­punkt unse­rer Wan­de­rung fah­ren – fah­ren darf jeder, der einen inter­na­tio­na­len Füh­rer­schein mit­ge­bracht sowie eine kurze Aus­bil­dung durch­lau­fen hat – fal­len die ers­ten Schnee­flo­cken. Mit in mei­nem Wagen sitzt Jo aus Sin­ga­pur, die nie zuvor Schnee gese­hen hat und dem wei­ßen Trei­ben mit offe­nem Mund zuschaut. Für mich ist es der erste Schnee an einem ers­ten August. Irgend­wann hal­ten wir an, Ama­deus und Volo­dya sehen ent­täuscht aus. „So bringt das nichts, wir müs­sen die Tour auf mor­gen ver­schie­ben.“ Dafür gibt es eine Schnee­ball­schlacht, bevor wir zurück im Lager das zuvor in Tup­per­do­sen ver­packte Lunch auf­fut­tern – Cra­cker, ein paar Schei­ben Käse, ein gekoch­tes Ei, ein paar Apri­ko­sen und eine Menge Nüsse und Trockenfutter.

Am nächs­ten Mor­gen sieht die Welt schon anders aus, statt Schnee klam­mert sich nur Frost an den Zel­ten fest, und die Sonne quetscht sich durch dicke Wol­ken. Für mich geht es mit Volo­dya, Beka, Jan und ein paar ande­ren ins Issyk Ata Tal mit der Mis­sion, auf etwa 3.800 Metern zwei Foto­fal­len auf­zu­stel­len. End­lich kön­nen wir die Theo­rie in die Pra­xis umset­zen, uns nütz­lich machen. Die vor uns lie­gen­den Berge erschei­nen mir wie eine Wun­der­tüte vol­ler Poten­zial. Mit GPS-Gerä­ten, Daten­blät­tern, Fern­glä­sern und Funk­ge­rä­ten bewaff­net, stel­len wir die Gelän­de­wa­gen am Weges­rand auf etwa 3.100 Metern ab und stie­feln los. Durch ein lan­ges Tal, wo wir die ers­ten Mur­mel­tiere und Wie­sel durchs Fern­glas erspähen.

3. Mur­mel­tier­foto © Ralf Bürglin

Weiße und orange Schmet­ter­linge flat­tern um uns herum, auf man­chen der fast schwar­zen, blan­ken Fel­sen erken­nen wir ein­ge­ritzte Stein­bö­cke und andere Krea­tu­ren. Alles wird sorg­fäl­tig auf den Daten­blät­tern notiert. Auch alter Stein­bock­kot klebt uns bald unter den Wan­der­schu­hen, inter­es­siert Volo­dya aber nicht. „Nur fri­sche Aus­schei­dun­gen sind wich­tig.“ Am Anfang ver­mute ich hin­ter jeder Schafs­scheiße wert­volle Schnee­leo­par­den­ka­cke, schraube meine Erwar­tun­gen jedoch mit jedem Schritt wei­ter runter.

Über einen alten Vieh­pfad geht es immer stei­ler hoch in die Berge, wo wie­der schwarze Wol­ken lau­ern. Irgendwo dort, wo es so rich­tig geröl­lig aus­sieht, sol­len die Foto­fal­len ihr ein­wö­chi­ges Zuhause fin­den. Plötz­lich zeigt sich vor uns ein tief­blauer See inmit­ten der Moräne, umge­ben von schmel­zen­den Schnee­mas­sen. Volo­dya sieht ihn gelang­weilt an. „Da sind keine Fische drin, also hat er kei­nen Namen.“ Trotz­dem dür­fen wir mit Blick auf den See Pause machen und unsere Lunch­bo­xen aus­pa­cken. Ich habe gerade mein Ei gepellt, als es anfängt, in die Tup­per­dose zu hageln. Bald schla­gen uns faust­di­cke Kör­ner um die Ohren, als wollte uns die Natur wege­keln. Volo­dya mahnt zur Eile – wir sol­len wei­ter rauf, die Foto­fal­len end­lich los­wer­den. Ein Blitz durch­zuckt in der Ferne den Him­mel, doch wir haben Glück – bald lässt das Gewit­ter von uns ab, es bleibt nur die Stille in der kal­ten, frisch ent­la­den­den Luft. Wir posi­tio­nie­ren die Foto­fal­len zwi­schen Schnee und Fel­sen. Stolz ste­hen wir dane­ben. Geschafft! Glau­ben wir.

Nicht immer, wenn ein Unwet­ter abge­zo­gen ist, heißt es Auf­at­men. Kaum sind wir von der Gip­fel­nähe über Schnee, Fels­bro­cken und Steine wie­der run­ter­ge­kra­xelt, ver­schwört sich der Him­mel zum zwei­ten Mal gegen uns. Auf dem Tal­weg schla­gen Regen und erneu­ter Hagel fast hori­zon­tal auf uns ein. Meine angeb­lich was­ser­feste Jacke saugt die kalte Nässe auf, die Wan­d­er­hose klebt an den Bei­nen, die Schuhe fül­len sich gefühlt mit genauso viel Was­ser, wie ich in Fla­schen mit­ge­nom­men habe. Drei Liter. Beka läuft vor­aus, ich hetze ihm schwe­ren Schuhs hin­ter­her. Es gibt nur noch ein Ziel: die bei­den Autos am Start­punkt. Raus aus den nas­sen Kla­mot­ten, irgend­wie auf­wär­men. Bald hocken wir durch­nässt bis auf die Haut im Wagen, die Zähne schla­gen zusam­men, doch die nas­sen Sachen müs­sen run­ter. Als wir in Unter­wä­sche und bei hoch­ge­dreh­ter Auto­hei­zung dasit­zen, wer­den wir zur ech­ten Gruppe. Kön­nen bald schon wie­der lachen. Und auf­at­men, als ich es geschafft habe, lang­sam Beka, der vor­fährt, nach­zu­fah­ren, über so mat­schige Wege, dass selbst das Pro­fil des Gelän­de­wa­gens nicht immer greift. Aber wir kom­men an. Bei strah­len­dem Sonnenschein.

Ver­dammte Berge. Nächs­ten Som­mer mache ich Urlaub auf Malle. Oder doch nicht, denn als ich mit einer Mischung aus auf­ge­koch­tem Was­ser und Fluss­was­ser pro­vi­so­risch geduscht, Ther­moun­ter­wä­sche unter­ge­zo­gen und Gulyas heiße Suppe geges­sen habe, sieht die Welt schon viel rosi­ger aus. Wie der Abend­him­mel. Noch vor ein paar Stun­den fühlte ich mich so weit außer­halb mei­ner Kom­fort­zone, dass jeder wei­tere Schritt nach vorne dem Sprung von einer Klippe gleich­ge­kom­men wäre. Aber kann es sein, dass man so weit jen­seits der Kom­fort­zone mit ein wenig Übung doch Kom­fort fin­den kann?

Die Nacht der Nächte

Zu früh gefreut. Immer, wenn wir den­ken, das Wet­ter würde lang­sam wohl­wol­len­der, haben die Berge eine Über­ra­schung bereit. Zunächst wird die Stille der Nacht wie gewöhn­lich nur vom Rau­schen des Flus­ses durch­bro­chen und meine Nacht­ruhe wie fast immer vom Weck­ruf der Blase um 22 Uhr. Anstatt noch­mal zu den Toi­let­ten­zel­ten run­ter­zu­stol­pern, suche ich mir kur­zer­hand ein gemüt­li­ches Plätz­chen jen­seits der Zelte. Habe ich meine Blase in der ers­ten Nacht noch ver­flucht, macht mir das Ritual lang­sam Freude. Seit­dem ich zufäl­lig beim Pin­keln auf­ge­schaut und sie über mir gese­hen habe: die Milch­straße. Mil­li­ar­den von Ster­nen, die sich in einem rie­si­gen Schweif quer über den Him­mel zie­hen, direkt über mir. Beim ers­ten Mal ver­gaß ich vor lau­ter Stau­nen fast, die Schlaf­an­zug­hose wie­der hoch­zu­zie­hen. Zwar hatte ich schon wenige Monate zuvor im aus­tra­li­schen Out­back einen ers­ten Blick auf die­ses wahn­sin­nig schöne, mil­chige Ster­nen­band wer­fen dür­fen, das sich für unsere Augen nur mani­fes­tiert, wenn die Licht­ver­schmut­zung der Städte weit, weit zurück­liegt. Aber hier, im zen­tral­asia­ti­schen Nichts, ist es noch kla­rer. Ein per­fek­tes Gemälde.

Auch in die­ser Nacht hocke ich wie­der auf der Wiese, Hose run­ter, Blick rauf. Fühle mich win­zig klein unter der Gala­xis und so erfüllt, als wür­den Mil­li­ar­den von Ster­nen in mir leuch­ten. Was für ein Glück, so etwas Schö­nes in die­ser licht­über­flu­te­ten Welt sehen zu dür­fen. Allein die Kälte treibt mich zurück ins Zelt, wo ich nach weni­gen Sekun­den mit Mil­li­ar­den Ster­nen vor Augen wie­der ein­schlafe. Bis ich von Don­nern, schreck­li­chem Rau­schen und Rüt­teln hoch­schre­cke. Die Wände mei­nes Zel­tes beben, durch die Luft­schächte zu bei­den Sei­ten bläst ein eisi­ger Wind über mich hin­weg, drau­ßen zucken Blitze. Ob die Heringe alle fest im Boden ver­an­kert sind? Wie viel Sturm braucht es, um mich mit­samt mei­nem Zelt weg­zu­bla­sen? Stock­steif liege ich im Schlaf­sack, schalte die Taschen­lampe ein, als könnte das Licht die bösen, rum­peln­den Geis­ter drau­ßen ver­trei­ben. Irgend­wann hört alles auf. Ich bleibe allein in der Dun­kel­heit mit mei­nem pochen­den Her­zen und der Fluss rauscht, als wäre nichts gewe­sen. Doch am Mor­gen hängt das Zelt­dach auf mei­nem Kopf, als ich meine Kla­mot­ten über­streife. Bald wird klar, warum: Eine dicke Schnee­schicht bedeckt Zelte und Land­schaft. Lange habe ich nicht mehr so etwas Schö­nes gesehen.

Zie­gen­fuß­ball und was man sonst am freien Tag so tut 

Nach eini­gen wei­te­ren Erkun­dungs­tou­ren in den Ber­gen ist der Sonn­tag unser freier Tag. Zeit, um stin­kende Kla­mot­ten und Socken im Fluss zu waschen, das Zelt aus­zu­lüf­ten, die Wun­den zu lecken. Oder mit Pflas­tern zu über­kle­ben. Die Sonne strahlt, es ist mol­lig warm, Bein­mus­keln ent­span­nen sich. Schon die erste Woche in den Ber­gen war Leben im Zeit­raf­fer – Höhen und Tie­fen im stän­di­gen Wech­sel, gutes und schlech­tes Wet­ter, rich­tige Wege und Irr­wege, ein­fa­che und rich­tig schwie­rige Pfade sowie kleine Erfolge in gefun­de­nen Spu­ren hier und dort. Diese tei­len wir jeden Tag beim Debrief um 18 Uhr mit der jeweils ande­ren Gruppe – eine Bespre­chung, um alle Ergeb­nisse des Tages zusam­men­zu­tra­gen und auf Kar­ten zu mar­kie­ren. Aber noch immer gibt es keine Spur von einem Schnee­leo­par­den, nicht mal einen müden Tat­zen­ab­druck oder ein Stück Kot. Doch wie uns Volo­dya immer wie­der ein­impft: „Auch null Ergeb­nisse sind ein Ergebnis.“

An die­sem Sonn­tag über­las­sen wir es unse­ren Noma­den­nach­barn aus der Umge­bung, Ergeb­nisse zu erzie­len, denn sie fin­den sich vor unse­rem Camp ein und prä­sen­tie­ren eine Mini­ver­sion vom „Zie­gen­fuß­ball“, eigent­lich Ulak Tar­tysh genannt, wobei zwei Teams auf Pfer­den gegen­ein­an­der kämp­fen und sich gegen­sei­tig den Kör­per einer kopf­lo­sen Ziege abrin­gen. Nach­dem ich bereits einem Horse Games Fes­ti­val am Song Köl Lake in Kir­gi­stan bei­gewohnt habe, ist das Spiel für mich nichts Neues, doch einige mei­ner Mit­wis­sen­schaft­ler sehen ange­ekelt zu, wäh­rend andere selbst mal ver­su­chen, den etwa 25 Kilo schwe­ren Zie­gen­kör­per aufs Pferd zu hieven.

Damit das Tier nicht umsonst gestor­ben ist, dür­fen wir es am Ende auf­fut­tern – in der Hütte unse­rer Nach­barn in eini­gen Kilo­me­tern Ent­fer­nung. Im Inne­ren liegt eine große Plane auf dem Boden, dar­auf ver­teilt Borsook, etwas fet­ti­ges kir­gi­si­sches Brot, Salat aus roter Beete, Möh­ren, Kar­tof­feln und roten Boh­nen sowie geschnit­tene Melo­nen. Drau­ßen auf der Wiese wird das Zie­gen­fleisch in einer Pfanne überm Feuer gegart, dann bekom­men wir es ser­viert. „Das Gericht nennt sich Kurdak und besteht aus Fleisch, Kar­tof­feln und Zwie­beln“, erklärt Amdeus, danach gibt es einen zwei­ten Gang – Zie­gen­brühe, Shorpo genannt, mit Instant Noodles.

Die Über­ra­schung

Am Mon­tag blei­ben uns noch genau fünf Tage, um Ergeb­nisse zu sam­meln und die meis­ten auf­ge­stell­ten Foto­fal­len wie­der ein­zu­ho­len. Ich gehe mit ins Chon-Chi­kan Tal, vor uns ein lan­ger und stei­ler Weg. Lang­sam spüre ich, wie mein Kör­per müder wird, der stän­di­ges Berg­wan­dern und die Höhen­luft nicht gewöhnt ist. Kurz­zei­tig ver­liere ich gar das Ziel aus den Augen, nach Spu­ren zu suchen – ich möchte nur ankom­men, den schreck­lich stei­len Weg hin­ter mir haben, wie­der nor­mal atmen. Ralf, ein deut­scher Jour­na­list Mitte 50, beob­ach­tet mich. „Setz einen Fuß vor den ande­ren, kon­zen­trier dich auf jeden Schritt und ver­such nicht, es so schnell wie mög­lich hin­ter dich zu brin­gen“, errät er meine Gedan­ken. „Du kannst die Berge nur genie­ßen, wenn du dich nicht hetzt, nicht stän­dig ankom­men willst.“ Ich folge sei­nem Rat, mache lang­sa­mer, ver­su­che, den Gedan­ken ans Ziel abzu­schal­ten. Und siehe da, der Boden ist an man­chen Stel­len voll von Federn und läng­li­chen, hel­len Aus­schei­dun­gen, wie sie nur Schnee­hüh­ner hin­ter­las­sen, eins der Lieb­lings­es­sen der Schnee­leo­par­den. Irgend­wann kom­men wir dort an, wo laut GPS-Daten die Foto­falle steht. Die erste, die wir ein­sam­meln, wenige Wochen zuvor von der ers­ten Expe­di­ti­ons­gruppe aufgestellt.

Ob die Kamera wohl Auf­nah­men gemacht hat? Wir wol­len nicht bis zur abend­li­chen Bespre­chung war­ten, die nun jeden Tag zu einer Art Kino­schau wird. Wir neh­men die Karte aus der Foto­falle und set­zen sie in einen Foto­ap­pa­rat ein. Es gibt viel schwar­zes Nichts. Dann ein paar Hir­ten mit Pfer­den oder Hun­den. „Sie klet­tern auf den Gip­fel, weil sie dort Han­dy­emp­fang bekom­men“, erklärt Volo­dya. Ich über­lege kurz, es den Män­nern gleich­zu­tun, ver­werfe die Idee jedoch. Die Zivi­li­sa­tion kann noch ein wenig auf mich warten.

Auf ein­mal schreit Jo auf – auf einem der Bil­der erkennt man ein paar Schnee­hüh­ner, auf dem nächs­ten einen Stein­bock. Unsere Begeis­te­rung wächst. Fehlt nur noch … Ralf spult wei­ter, einige Nacht­auf­nah­men fol­gen, vom 24.7. um 21.10 Uhr. Ein glü­hen­des Paar Augen starrt uns vom Bild­schirm an, aus einem kat­zen­ar­ti­gen Kopf. „Ein Schnee­leo­pard!“ Soll es wirk­lich wahr sein? Volo­dya stu­diert das Bild, lächelt. „Könnte sein, aber ich muss mir die Auf­nahme ver­grö­ßert am Lap­top anschauen.“

Foto­fal­len-Auf­nah­men © Bio­sphere Expeditions

Doch für uns gibt es kein Hal­ten mehr – das ist ein Schnee­leo­pard, ganz bestimmt! Dass seit Beginn des Pro­jekts 2014 nicht ein ein­zi­ges Mal, nicht ein­mal auf einer Foto­falle, ein „Geist der Berge“ gesich­tet wurde, ent­mu­tigt uns nicht. Sollte ich tat­säch­lich Zeu­gin bei der ers­ten Schnee­leo­par­den­sich­tung in die­sem Pro­jekt sein? Plötz­lich sind meine schmer­zen­den Beine und die Atem­not ver­ges­sen. Noch mehr als sonst genie­ßen wir an die­sem schö­nen Tag den Moment, wenn wir nach stun­den­lan­ger Berg­auf­wan­de­rung die Tup­per­do­sen mit der Über­do­sis Nüsse aus den Ruck­sä­cken zie­hen und lang­sam essen. Wahr­schein­lich werde ich nie wie­der ein hart­ge­koch­tes Ei pel­len, ohne dabei die wei­ten Täler und rauen Berge Kir­gi­stans vor mir zu sehen.

Wenige Stun­den spä­ter, bei unse­rer Abend­be­spre­chung vor dem Essen, bekom­men wir Volo­dyas Okay: Es ist ein Schnee­leo­pard, den die Foto­falle da geblitzt hat. Eine Rie­sen­freude für uns, ein Rie­sen­er­folg für das Pro­jekt. Der sich auch in den letz­ten Tagen nicht mehr top­pen lässt. Doch das Gesamt­ergeb­nis bei­der Expe­di­tio­nen in die­sem Som­mer kann sich sehen­las­sen: Von allen Zel­len von 2×2 Kilo­me­ter Größe, in die das For­schungs­ge­biet ein­ge­teilt wurde, haben wir 35 durch­fors­tet, und in 26 davon fan­den wir Hin­weise auf Beu­te­tiere des Schnee­leo­par­den. Dazu kom­men 41 Vogel­ar­ten und 23 Schmet­ter­lings­sor­ten, die teils zum ers­ten Mal in der Region gese­hen wur­den. Um nicht die Petro­gly­phen und ein paar Grab­hü­gel zu vergessen.

Ende gut, alles gut 

Am Frei­tag­abend, vor unse­rer letz­ten Zelt­nacht in der Wild­nis, machen wir ein gro­ßes Lager­feuer aus allem brenn­ba­ren Müll, der Rest wird im NABU-Las­ter mit in die Stadt genom­men und dort ent­sorgt. Die Flam­men schla­gen immer höher, wäh­rend Bek einen Wagen her­an­fährt und die Mucke auf laut dreht. Man­che tan­zen, andere genie­ßen die letz­ten Trop­fen Wein oder eine Fla­sche Wodka, die vom Groß­ein­kauf in Bish­kek noch übrig sind. An mei­nem Arm hängt Jan, die nach meh­re­ren Gläs­chen selbst mit Krü­cke nicht mehr gerade steht, und schaut in den Him­mel. Noch ein­mal läuft über uns die Milch­straße zur Höchst­form auf. „Ich habe mich jeden Abend in mei­nem Zelt gefragt, warum ich mir das antue. Als ich mir den Hin­tern abfror und ver­suchte, mich mit mei­nen Feucht­tü­chern abzu­rei­ben.“ Sie seufzt, schaut über den Fluss zur wei­ßen Jurte unse­res direk­ten Nach­barn, der oft mit sei­nem Pferd durch den Fluss gerit­ten und auf einen Drink vor­bei­ge­kom­men ist. „Jetzt weiß ich, warum ich es getan habe.“ In einer Geste umfasst sie die Milch­straße, die Jurte, die Weite um uns. „Ich habe so ein Glück, dies noch zu erleben.“

Jan spricht mir aus dem Her­zen. Ja, es hat sich gelohnt. Sicher nicht für jeman­den, der wie auf der übli­chen Afrika-Safari schnell ein paar wilde Tiere auf sei­ner „To-see-Liste“ abha­ken will. Auch nicht für jeman­den, der Natur nur in Form von Glam­ping aus­hält. Aber es lohnt sich für jeden, der ein klit­ze­klei­nes biss­chen für die Natur und die Tiere tun möchte. Und der ebenso offen ist für die Lebens­lek­tio­nen, die so eine Expe­di­tion auch mit­bringt. Der begrei­fen kann, dass es nicht wich­tig ist, den Gip­fel jedes Ber­ges zu erklim­men. Denn Leben spielt sich auch oder vor allem unter­halb der höchs­ten Höhen ab, dort, wo das Tal weit und grün ist und dort, wo es stei­nig wird. Und es wäre schade, dort nur acht­los durch­zu­ei­len. Die Suche nach dem Schnee­leo­par­den hat mich daran erin­nert, dass es gut ist, ein Ziel zu haben und in des­sen Rich­tung zu lau­fen. Denn der Weg dort­hin ist voll von Klei­nig­kei­ten und Geschich­ten. Und ja, es wird wie in den Wei­ten Kir­gi­stans über­all ent­lang des Weges unglaub­lich viel Kacke geben. Aber auch die sel­tene Blume, die sich an einen Stein schmiegt. Einen Petro­gly­phen, den sich irgend­wann jemand die Zeit genom­men hat, in einen Fel­sen zu mei­ßeln. Orange und weiße und blaue Schmet­ter­linge, die sich zutrau­lich auf einem Hand­rü­cken nie­der­las­sen. Die Suche nach dem Schnee­leo­par­den hat bewie­sen, welch wun­der­ba­res Gefühl sich ein­stellt, wenn auch nur ein win­zi­ger Erfolg ein­trifft, und sei es das leicht ver­schwom­mene Bild einer Wild­katze, das für eine Region und ein Land viel bedeu­ten könnte. Wir haben es geschafft. Ich habe es geschafft. Indem ich einen Fuß vor den ande­ren gesetzt, geat­met und ab und an hoch­ge­schaut habe, anstatt beses­sen vom Ziel und außer Puste nach oben zu hech­ten. Diese Lek­tion nehme ich mit nach Hause. Danke, Schnee­leo­par­den. Danke, Kir­gi­stan. Danke, Bio­sphere Expeditions.

Diese Reise fand auf Ein­la­dung von Bio­sphere Expe­di­ti­ons statt. Meine Bericht­erstat­tung bleibt davon unbe­ein­flusst, diese Repor­tage beschreibt genau, wie ich die Expe­di­tion erlebt habe.

Infos:

Bio­sphere Expe­di­ti­ons ist eine gemein­nüt­zige Natur­schutz­or­ga­ni­sa­tion, die es Laien ermög­licht, sich als soge­nannte Bür­ger­wis­sen­schaft­ler aktiv in den Natur- und Arten­schutz ein­zu­brin­gen. Bio­sphere Exhi­bi­ti­ons bie­tet Expe­di­tio­nen inner­halb Deutsch­lands und in ver­schie­dene Län­der an, bei denen jeweils ver­schie­dene schutz­be­dürf­tige Tiere im Mit­tel­punkt ste­hen. Dabei­sein kann jeder, unab­hän­gig vom Alter, der durch­schnitt­lich fit ist. Für die Kir­gi­stan-Expe­di­tion zu den Schnee­leo­par­den ste­hen für 2019 fol­gende Ter­mine an:

vom 24.6.–6.7.2019

vom 8.–20.7.2019

Preis: jeweils 2270€ plus Anreise nach Kirgistan

Die Schnee­leo­par­den­ex­pe­di­tion wird unter­stützt vom deut­schen NABU

Cate­go­riesKir­gi­si­stan
Avatar-Foto
Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Bernadette says:

    Hallo Carola,

    das ist schön zu hören – wie toll, dass ihr als Ers­tes Schnee­leo­par­den­spu­ren gefun­den habt, und wir haben nun als Ers­tes einen auf Kamera gesehen :) 

    LG
    Bernadette

  2. Carola Neumann says:

    Hallo Ber­na­dette, ich war 2016 dabei und kann all deine Ein­drü­cke nach­voll­zie­hen und auch für mich war es ein ein­ma­li­ges Erleb­niss. Ich glaube, wir waren die ers­ten, die Schnee­leo­par­den­spu­ren in einem Schnee­feld gese­hen haben und dar­auf hin dort eine Foto­falle setz­ten. Grüße Carola

  3. Evachen says:

    Ist mit Sicher­heit ziem­lich schwer einen Schnee­leo­par­den zu besich­ti­gen. In mei­nem Wan­der­ur­laub Tren­tino habe ich auch so eini­ges gese­hen. Aber kein Schneeleoparden :)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert