Wenn sie gefragt wer­den, was sie mit Schwe­den ver­bin­den, ant­wor­ten die meis­ten IKEA, dann ABBA. Doch der Super­la­tiv fehlt – Dalarna. Einige nen­nen die Region in Mit­tel­schwe­den, die im Wes­ten auf Nor­we­gen stößt, das Herz Schwe­dens, aber das ist unter­trie­ben: Dalarna, da liegt Schwe­dens Seele ver­bor­gen. Irgendwo zwi­schen roten Holz­häu­sern, Dala-Pfer­den und Mitt­som­mer­fei­ern, die bis in den Juli dauern.

„Rot sehen“ ist gut

In Dalarna ist es nor­mal, Rot zu sehen. Wobei der Begriff „Schwe­den­rot“ eher irre­füh­rend ist und kor­rekt ‚Fal­un­rot‘ (Falu­röd) hei­ßen muss. Das kommt ers­tens von Falun, der Haupt­stadt Dalar­nas, und zwei­tens vom Falu­ner Kup­fer­berg­werk, im 17. Jahr­hun­dert das größte der Welt. 1992 wurde es still­ge­legt, 2001 Teil des UNESCO-Welt­erbes. Dort baut man seit 1764 das soge­nannte Pig­ment Fal­un­rot aus Eisen­oxid und wei­te­ren Inhalts­stof­fen ab und brennt den Farb­staub, der nach durch­lau­fe­nem Pro­zess als rost­rote Farbe auf den Haus­wän­den lan­det. Laut Legende war es die neu­gie­rige Ziege Kåre, die im 8. oder 9. Jahr­hun­dert im Berg­werk her­um­schnüf­felte, mit rotem Staub an den Hör­nern zurück­kehrte und ihren Bau­ern auf den Kup­fer-Schatz in der Grube auf­merk­sam machte, wor­auf­hin diese ab Ende der Wikin­ger­zeit in Betrieb genom­men wurde. „Die Vor­räte rei­chen noch etwa 100 Jahre“, ver­rät Berg­werk­füh­re­rin Johanna Nybe­lius wäh­rend der ein­stün­di­gen Tour über 400 Stu­fen bis in 67 Meter Tiefe.

Wich­tig, bevor der Abstieg beginnt: drei­mal an die Ein­gangs­tür klop­fen, dabei flu­chen und pfei­fen. Im Berg­werk wohnt näm­lich der Berg­geist, und der hat sein Begrü­ßungs­ri­tual. Frü­her leis­te­ten ihm über 1.000 Arbei­ter Gesell­schaft, heute nur noch Besu­cher in Regen­capes und mit Schutz­helm, die hof­fen, der Abstieg in die +5 Grad kühle Grube habe ver­jün­gende Wir­kung. Lei­der ist die Chance einer Ver­jün­gung bei der Besich­ti­gung eher gering (da müsste man schon etwas län­ger blei­ben, wie der Tan­nen­baum, der bereits seit Jah­ren im Berg­werk steht und aus­sieht, als wäre er ges­tern geschla­gen wor­den, oder Max, ein ver­schüt­te­ter Berg­werk­ar­bei­ter, der 42 Jahre spä­ter gefun­den wurde und noch so kna­ckig war wie am Tag sei­nes Todes), die Gefahr, sich im Laby­rinth der nied­ri­gen Wege zu ver­lau­fen, dafür umso grö­ßer. Beson­ders, wenn die Lam­pen aus­ge­hen und es zap­pen­dus­ter wird.

Fal­uns Kup­fer­berg­werk war jedoch nicht nur das größte, son­dern auch einer der bedeu­tends­ten Arbeit­ge­ber Schwe­dens. Und es kommt noch bes­ser: In der Grube liegt der Ursprung des schwe­di­schen Arbeits­ge­set­zes, Urlaubs­ge­set­zes und der Ver­sor­gung im Krank­heits­fall, denn man ver­stand, dass Berg­ar­bei­ter bes­ser arbei­te­ten, wenn sie gut ver­dien­ten. Die Gewerk­schaft für Berg­ar­bei­ter war die erste in Schwe­den, die über­haupt über Urlaub ver­han­delte, außer­dem gab es auch gesund­heit­li­che Ver­sor­gung für die Berg­ar­bei­ter – ab Ende des 16. Jahr­hun­derts arbei­tete in Falun ein Arzt, und gegen Ende des 17. Jahr­hun­derts wurde eine Not­fall­sta­tion bei der Grube ein­ge­rich­tet. Diese Ver­sor­gung war für die Arbei­ter kos­ten­los. Kam ein Mann im Berg­werk ums Leben, wurde sich dar­über hin­aus um des­sen Fami­lie geküm­mert. Und das kam schon mal vor, denn am Seil im gro­ßen Schacht wur­den nicht nur Eimer mit abge­bau­tem Erz hoch­ge­zo­gen – Arbei­ter, die wohl etwas schnel­ler Fei­er­abend machen woll­ten, stell­ten sich gern auf den Eimer­rand, um mit nach oben zu fah­ren, oder glit­ten die 200 Meter am Seil nach unten. Für diese Seile aus Och­sen­le­der star­ben im Jahr etwa 10.000 Och­sen, deren Rest­fleisch zu ‚Falu­korv‘, Wurst aus Falun, ver­ar­bei­tet wurde – heute neben der rost­ro­ten Haus­farbe ein wei­te­res Mar­ken­zei­chen Schwedens.

Kna­ckig ist gut

Wer nicht auf Wurst steht, ist in Dalarna trotz­dem rich­tig, denn es gibt auch Knä­cke­brot. Zum Bei­spiel in Stora Skedvi zwi­schen Falun und Avesta. Und das nicht zuletzt dank Benny Anders­son von ABBA. Doch eins nach dem ande­ren. Wenn Besu­cher nach Stora Skedvi kom­men, dann vor allem wegen Skedvi Bröd, denn im Dorf wird bereits seit 1950 Knä­cke­brot pro­du­ziert. Bis 2013 buk Vika­bröd, das dem Unter­neh­men Lek­sand gehörte, in der Fabrik, dann wurde sie geschlos­sen. Doch so schnell gaben sich die Men­schen vor Ort nicht geschla­gen. Ihre Geschichte und was sie erreich­ten passt in ein Moti­va­ti­ons­hand­buch „Alles ist mög­lich, wenn du wirk­lich daran glaubst“. Plus eine kleine Prise Glück. Natür­lich. Gemein­de­mit­glie­der und ehe­ma­lige Ange­stellte woll­ten die tote Fabrik wie­der­be­le­ben, dar­un­ter Malin Flo­ridian und Anders Åker­berg. Anders, der Besu­cher­grup­pen durch die neue Fabrik führt, strahlt das Selbst­be­wusst­sein von einem aus, der weiß, was er will. Und wie er es errei­chen kann. Viele Augen­paare kle­ben an sei­nen Lip­pen, wäh­rend er berich­tet, wie Skedvi Bröd wie Phö­nix aus der Asche auferstand.

„Vika­bröd erlaubte uns nicht, ihre alten Öfen zu benut­zen, sie ris­sen alles raus“, erzählt er. „Wir woll­ten das Gebäude trotz­dem kau­fen und star­te­ten eine Crowd­fun­ding-Kam­pa­gne.“ Inner­halb kur­zer Zeit hät­ten sie gut 60.000 Euro zusam­men­be­kom­men, doch das Teu­erste sei die neue Aus­rüs­tung gewe­sen. „Wir brauch­ten mehr Inves­to­ren, und dann geschah es: Benny Anders­son von ABBA mel­dete sich und bot sich als Inves­tor an!“ Das Leuch­ten in Anders‘ Augen lässt noch erah­nen, wie sehr er sich dar­über gefreut hat. „Benny sagte: „Wenn ihr mir Brot gebt, gebe ich euch Geld“, und damit war der Deal geschlos­sen.“ Anders lacht.

Seit Dezem­ber 2014 lau­fen die neuen Öfen der Fabrik auf Hoch­tou­ren. Besu­chern schlägt die Hitze ent­ge­gen, es riecht nach fri­schem Brot aus Rog­gen, Was­ser, Salz und Hefe. Und wenn Begeis­te­rung einen Geruch hätte, würde der alles über­la­gern. „Wir woll­ten eine Tou­ris­ten­at­trak­tion aus der Fabrik und Bäcke­rei machen, wo Besu­cher zuschauen kön­nen, wie wir Brot backen, und sie kön­nen hier auch essen.“ Das sei ein­zig­ar­tig, nicht nur in Dalarna, son­dern in ganz Schwe­den. Anders hat große Pläne: Ste­hen bis­her noch Tische in einem Teil der gro­ßen Markt­halle ver­teilt, an denen Besu­cher essen kön­nen, soll nun ein rich­ti­ges Restau­rant ent­ste­hen. Beson­ders beliebt sind die Tapas mit Schin­ken und Käse, zu denen eine Papier­tüte vol­ler Knä­cke­brot auf den Tisch kommt. Ver­kauft wird es in blauen und gel­ben Packun­gen – in blauen mit dun­kel geba­cke­nen Bro­ten, in gel­ben mit hell gebackenen.

Hoch zu (schwe­di­schem) Ross 

Kaum ein Schwe­den­be­su­cher ver­lässt das Land, ohne eins davon im Kof­fer zu haben – ein klei­nes meist rotes Holz­pferd mit auf­ge­pin­sel­tem Sat­tel und grün-wei­ßem Zaum­zeug, das Sym­bol für Schwe­den. Natür­lich wird es nicht irgendwo in Schwe­den, son­dern in Dalarna pro­du­ziert, in ver­schie­de­nen Werk­stät­ten, von denen eine der wich­tigs­ten in Nusnäs steht. Rich­tig bekannt wurde das Dala-Pferd, auf Schwe­disch Dalah­äst, als es sein Land 1939 bei der Expo in New York reprä­sen­tierte, doch das Hand­werk geht bereits aufs 17. Jahr­hun­dert zurück. Damals schnitz­ten die Bewoh­ner der Region in kal­ten Win­ter­näch­ten Holz­spiel­zeug, weil es sonst nicht viel zu tun gab.

Die Pro­duk­tion in Nusnäs begann der 15-jär­hige Nils Ols­son mit sei­nem Bru­der im Jahre 1928, und bis heute kann man zuse­hen, wie die Pferd­chen in Farb­bot­ti­chen ver­schwin­den und dann lie­be­voll per Hand bemalt wer­den. Gleich am Ein­gang der Werk­statt sitzt Gosta Hell­dal, der seit zehn Jah­ren jedes Wochen­ende in die Fabrik kommt, um Pferd­chen zu schnit­zen und den Besu­chern gedul­dig zu erklä­ren, was er macht. „Es gibt 20 ver­schie­dene Grö­ßen des Dala-Pfer­des und vier Far­ben, rot, schwarz, blau und weiß“, erklärt er, wobei Rot die Häu­ser reprä­sen­tiere, Blau die Außen­tür, Weiß Fens­ter und Türen und Schwarz den Stall. „Eigent­lich haben wir ange­fan­gen, Hähne zu schnit­zen, und Schweine machen wir auch, aber die Pferde sind am belieb­tes­ten.“ Dabei gebe es eigent­lich nur eine Regel – jedes Pferd müsse aus Holz sein.

Im Nach­bar­zim­mer bemalt Gos­tas Kol­le­gin bereits rot gefärbte Pferde mit den typi­schen Mus­tern. „Ich brau­che etwa fünf Minu­ten pro Pferd und bemale 60 oder 70 am Tag“, berich­tet sie, ohne von der Arbeit auf­zu­se­hen. Das Pferd muss dann zwei bis drei Tage trock­nen. Bis es ganz fer­tig ist, vom geschnitz­ten Holz­stück bis zum per­fekt bemal­ten Dala-Pferd, ver­ge­hen in der Regel zwei Wochen, unab­hän­gig von der Größe. Kein Wun­der also, dass der beliebte Gaul nicht gerade bil­lig ist, denn schon ein 13 Zen­ti­me­ter gro­ßer kos­tet etwa 25 Euro. Bil­li­ger gibt es sie ab und an mal bei IKEA, wird gemunkelt.

Fahr­rad­runde mit Augen- und Ohrenschmaus

Nach einer Ver­jün­gungs­kur unter der Erde im Falu­ner Berg­werk, viel Knä­cke­brot im Magen und dem Farb­duft der Dala-Pferde in der Nase, ist es an der Zeit, ein wenig Dalarna-Land­luft zu schnup­pern. Bei einer Fahr­rad­tour auf der 26 Kilo­me­ter lan­gen Dal­hallarundan, die in Rätt­vik mit sei­ner 625 Meter lan­gen Lan­dungs­brü­cke am Sil­jan-See, dem siebt­größ­ten in Schwe­den, los­geht und endet.

Ich bin an einem Sonn­tag am Start und traue mei­nen Augen nicht, als ein lan­ges Ruder­boot über den wel­len­lo­sen Sil­jan­see schnellt, deko­riert mit grü­nem Gestrüpp und geru­dert von jun­gen Män­nern in schwar­zen Trach­ten­an­zü­gen. Beim Näher­kom­men las­sen sich auch Mädels in schi­cken Klei­dern an Bord aus­ma­chen. „Das ist das Kir­chen­boot, es kommt jeden Sonn­tag­mor­gen von der ande­ren See­seite her­über zur Kir­che“, erklärt Lotta Back­lund, die in ihrer Agen­tur für Öko­tou­ris­mus Green Owl Tra­vel auch geführte Fahr­rad­tou­ren rund um Rätt­vik anbie­tet. Wir ste­hen genau vor der male­ri­schen Dorf­kir­che mit etwa 100 soge­nann­ten Kir­chen­hüt­ten aus dem 17. Jahr­hun­dert. Diese Kir­chen­dör­fer mit Hüt­ten, Stäl­len oder Vor­rats­räu­men wur­den frü­her in Nord- und Mit­tel­schwe­den bei Kir­chen­be­su­chen genutzt, heute wir­ken die Holz­hütt­chen wie Feri­en­häu­ser, bei denen man die Fens­ter ver­ges­sen hat.

Das Gefühl, in einem Hei­mat­film aus den 50ern gelan­det zu sein, ver­stärkt sich, als immer mehr in Trach­ten geklei­dete Män­ner, Frauen und Kin­der her­bei­strö­men, um die Ankömm­linge vom Boot zu begrü­ßen. „Das ist die typi­sche Dalarna-Tracht“, weiß Lotta. Die Frauen tra­gen weiße Blu­sen und schwarze Röcke, vorne mit Schürze, teils gestreift, teils gemus­tert, und zum per­fek­ten Out­fit gehört ein gleich­far­bi­ger Stoff­beu­tel. „Es gibt jedoch Unter­schiede, je nach Her­kunft, Fami­li­en­sta­tus und sozia­lem Rang“, erklärt Lotta. Den Män­nern und Jun­gen ste­hen in ihren schwar­zen Fracks und Hüten die Schweiß­per­len auf der Stirn, doch alle lachen, lau­fen freu­dig zur Kir­che. „Die Men­schen in Dalarna nut­zen jede Gele­gen­heit, ihre Trach­ten zu tra­gen. Heute gibt es eine Konfirmation.“

Dass man sich in Dalarna befin­det, der schwe­dischs­ten aller schwe­di­schen Gegen­den, wo auch die Schwe­den selbst gern Urlaub machen, zeigt sich auf der Dal­hallarundan an jeder Ecke. Sogar auf einem Golf­platz ste­hen Dala-Pferd­chen über den Rasen ver­teilt. Auf dem Weg nach Nittsjö komme ich mir vor, als wäre ich in Bul­lerbü unter­wegs, zwi­schen Holz­häu­sern in Fal­un­rot mit weiß gestri­che­nen Kan­ten. In jedem noch so klei­nen Dorf thront ein Mai­baum, manch­mal mit Stroh­her­zen geschmückt, meis­tens mit dem Wap­pen Dalar­nas, zwei gekreuz­ten Rudern in Blau und Gelb. Alle paar Meter steht ein Papp­schild „Lop­pis“ – Floh­markt –, wo jemand vor sei­nem Haus Ramsch ver­kauft. Ebay in Live-Ver­sion mit­ten auf dem Land. Für Ramsch- wie für Kera­mik­lieb­ha­ber gilt: unbe­dingt Fahr­rad mit Körb­chen aus­lei­hen, denn den Floh­märk­ten folgt die Nittsjö Kera­mik­fa­brik von 1840. Ein ech­ter Urlau­ber­fän­ger, der Schwe­den aus allen Lan­des­tei­len anlockt: Jedes Jahr gibt es neue limi­tierte Wich­tel-Krea­tio­nen für Weih­nach­ten, soge­nannte Luv­nisse, die zu Samm­ler­ob­jek­ten gewor­den sind.

Mit dem einen oder ande­ren Wich­tel an Bord geht es wei­ter, vor­bei an Seen, wo selbst im Hoch­som­mer kein Mensch ist. Ich ver­stehe auf ein­mal diese Schwe­den-Fana­ti­ker, die jedes Jahr zu den roten Häus­chen hoch­fah­ren und von Stille und Weite und Frei­raum erzäh­len. Frei­raum, der an so vie­len Orten Man­gel­ware ist, vor allem im Hoch­som­mer. Nicht in Schwe­den. Nicht mal in aller­nächs­ter Nähe zu Schwe­dens Seele. Es ist heiß, ich würde am liebs­ten in jede Pfütze sprin­gen, aber Lotta hat andere Pläne.

Wieso braucht man über­haupt einen Guide, wenn man die Dal­hallarundan auch bequem allein fah­ren kann? Bald soll die Ant­wort kom­men. Aber zunächst gibt es einen Abste­cher zur Namens­ge­be­rin der Fahr­rad­runde – nach Dal­halla, einer rie­si­gen Frei­licht­bühne in einem still­ge­leg­ten Kalk­stein­bruch. „Dal­halla ist eine Wort­mi­schung aus Dalarna und Wal­hall aus der nor­di­schen Mytho­lo­gie“, erklärt Lotta. Und wieso befin­det sich in der 60 Meter tie­fen Grube nun eine Bühne? „Die Opern­sän­ge­rin Mar­ga­reta Del­lefors hatte die Idee in den 90er Jah­ren. Der Kalk­bruch ähnelte bereits einem Amphi­thea­ter, und die Akus­tik ist fan­tas­tisch.“ Und so steht die Frei­licht­bühne seit 1994 von Juni bis Sep­tem­ber für Kon­zerte offen. Angeb­lich zählt sie sogar zu den vier bes­ten Frei­luft­are­nen der Welt, sah schon Künst­ler wie Björk, Deep Pur­ple und die Pet Shop Boys.

Lang­sam habe ich Hun­ger, frage mich, was Lotta zum Mit­tag­essen geplant hat. Sie lächelt geheim­nis­voll. Ganz anders als eine düs­tere Figur am Weges­rand, die jeden aus gro­ßen wei­ßen Augen anstiert. „Das ist Mörk­sugga.“ Der Name dunkle Seele passt zu dem son­der­ba­ren Wesen. „Ein Künst­ler aus Rätt­vik schuf diese Figu­ren und ver­teilte sie über die Gegend, um Kin­der davon abzu­schre­cken, nach Ein­bruch der Dun­kel­heit in den Wald zu gehen.“

Zum Glück ist es noch nicht dun­kel, denn wir quet­schen uns mit den Rädern vor­bei an Mörk­sugga, tie­fer hin­ein in den Wald. Die Pfade sind schon längst nicht mehr fahr­rad­taug­lich, doch das stört Lotta nicht. Was hat sie bloß vor? Bald ste­hen wir vor einer klei­nen Holz­hütte zwi­schen den Bäu­men, die mich an das Som­mer­haus mei­ner fin­ni­schen Freun­din in Turku erin­nert. Die­ses ist das Som­mer­haus von Lot­tas Fami­lie mit drei Bet­ten und einer win­zi­gen Küche im Inne­ren und einer Toi­let­ten­hütte im Dickicht. Mein Herz hüpft vor Freude. Wäh­rend Lotta den Pick­nick­korb vol­ler Würst­chen, rohem Gemüse und Zimt­schne­cken aus­packt, spa­ziere ich run­ter zum Fluss, der mit­ten im Som­mer nur noch in Bach­ge­wand vor sich hin­plät­schert, Lotta aber als Bade­wanne dient, wenn sie ein paar Tage in der Hütte bleibt. Außer dem Plät­schern und Sum­men von Bie­nen und Flie­gen höre ich nichts. Meine Lieb­lings­mu­sik: Stille mit der Natur als Hintergrundchor.

„Schnitzt euch mal einen Stock, auf den ihr die Würste spie­ßen könnt“, lau­tet Lot­tas Anwei­sung, und schon hocken wir auf den Bän­ken rund um einen Stein­bot­tich, in dem bereits Kohle lodert. Das Feuer muss begrenzt wer­den, denn gerade im Som­mer ist die Wald­brand­ge­fahr hoch. Hach, es gibt doch nichts Schö­ne­res, als inmit­ten immenser schwe­di­scher Wäl­der zu sit­zen und Wurst zu gril­len. Ich bin sicher: Bevor die Worte „Carpe diem“ dem Römer Horaz über die Lip­pen gin­gen, wur­den sie bestimmt schon mal von einem Schwe­den aus­ge­spro­chen. Wenn ich an Dalarna zurück­denke, denke ich zuerst an die Hütte im Wald. An Plät­schern und Sum­men und Stille. Und Würstchen.

Mitt­som­mer im Juli

Es gibt keine bes­sere Art, sich von Dalarna zu ver­ab­schie­den, als bei einem Mitt­som­mer­fest. Dazu gibt es keine Eile, denn wäh­rend im Rest Schwe­dens um den 24. Juni gefei­ert wird, geht es in Dalarna mun­ter wei­ter bis in den Juli. Auf der Web­site der Region kann man sich infor­mie­ren, an wel­chem Tag wo eine Feier star­tet und dann hin­fah­ren und mit­ma­chen. Wenn gerade keine Wald­brand­ge­fahr besteht, wird Hering gegrillt, ansons­ten bringt man sein Pick­nick mit. Vor allem, wenn Mitt­som­mer in einem win­zi­gen Dorf wie Mång­berg unweit des Sil­jan­sees statt­fin­det, wo nur fünf Häu­ser stän­dig bewohnt und der Rest Feri­en­häu­ser sind.

Es ist gegen acht­zehn Uhr, als Fami­lien mit klei­ne­ren oder grö­ße­ren Kin­dern ein­tröp­feln, aber auch ältere Leute und Pär­chen. Mång­berg liegt an einem win­zi­gen See, wo die Kids bei noch hoch am Him­mel ste­hen­der Sonne baden. Einer, der ihnen lächelnd zusieht, ist der fast 80-jäh­rige Sid Jans­son, der ein lan­ges Horn mit sich her­um­schleppt, ein soge­nann­tes Näver­lur, um zu zei­gen, wie die Tele­fon­kom­mu­ni­ka­tion lange vor dem Handy funktionierte.

Mit allen ande­ren war­tet er gespannt dar­auf, dass die Gruppe der Fied­ler von der ande­ren See­seite her­über­kommt, gefolgt von Kin­dern, die Blät­ter­kränze und eine Blät­ter­gir­lande für den Mai­baum tra­gen. Alles geht hoch­fei­er­lich und nach fes­ten Regeln von­stat­ten, denn Mitt­som­mer ist in Schwe­den eine ernste Sache. „Das eigent­li­che Mitt­som­mer­fest wurde am Geburts­tag von Johan­nes dem Täu­fer am 24. Juni gefei­ert“, berich­tet Sid. „Schon die islän­di­schen Sagen spre­chen von die­sem Brauch. Und alles, was mit Mitt­som­mer zu tun hat, dreht sich um Frucht­bar­keit und Leben.“ Er deu­tet auf den Mai­baum, einen etwa 25 Meter lan­gen Pfahl, der zuerst mit den her­an­ge­tra­ge­nen Gewäch­sen geschmückt und dann in einem schweiß­trei­ben­den Pro­zess auf­ge­rich­tet wird. Der Pfahl ist näm­lich nicht irgend­ein Baum­stamm, son­dern ein Stahl­pfahl von etwa 700 Kilo. Der Mai­baum-Mas­ter gibt über Mikro­fon Anwei­sun­gen, wäh­rend Män­ner in klei­nen Grüpp­chen an ver­schie­de­nen Stel­len des Pfahls wuch­ten. Mil­li­me­ter um Mil­li­me­ter, denn sonst kann der Mai­baum abstür­zen und Unheil anrichten.

„Die Kränze oben wer­den von dem Mai­baum pene­triert, es ist das größte Frucht­bar­keits­sym­bol über­haupt“, erzählt Sid mit glän­zen­den Augen. Der Baum gewinnt an Höhe, die Fied­ler gei­gen wei­ter, die Män­ner schnau­fen. „Wir haben ein Sprich­wort, das besagt die Mitt­som­mer­nacht sei nicht sehr lang, setze aber sie­ben und sieb­zig Wie­gen in Bewe­gung.“ Etwa eine halbe Stunde spä­ter ist der große Moment gekom­men: Der Mai­baum­pfahl steht wie eine Eins, der Mai­baum-Mas­ter seufzt erleich­tert ins Mikro, die Leute klat­schen. Die Party kann begin­nen. Die Fied­ler klem­men die Gei­gen fes­ter unters Kinn und Müt­ter machen sich mit ihren Kin­dern bereit für den ers­ten Tanz rund um den Mai­baum, wel­cher der Ein­fach­heit hal­ber bis zum fol­gen­den Som­mer stehenbleibt.

Ich sitze in der nur zöger­lich unter­ge­hen­den Sonne auf der Pick­nick­de­cke, schaue fas­zi­niert zu. Denn Mitt­som­mer im Juli, das gibt es nur in Dalarna. Eine gute Ent­schul­di­gung dafür, immer wie­der in die Trach­ten zu schlüp­fen. Ein guter Grund, zusam­men­zu­kom­men und fröh­lich zu sein und zu fei­ern, auch wenn die eigent­li­che Feier längst vor­bei ist. Denn in Dalarna fei­ert man die Feste eben nicht, wie sie fal­len, son­dern dann, wenn man Lust dar­auf hat. Und das sollte man über­all viel öfter machen.

Infor­ma­tio­nen:

Diese Reise wurde unter­stützt von Visit Swe­den mit Unter­kunft im Qua­lity Hotel Dale­car­lia, Täll­berg. ( https://www.dalecarlia.se/)

Emp­feh­lens­werte Restau­rants: Neben der Gast­stätte bei Skedvi Bröd ist mir beson­ders ein Restau­rant in Erin­ne­rung geblie­ben: Sol­gårds­kro­gen in Rätt­vik, auch Gast­haus, betrie­ben vom schwe­di­schen Koch Jona­than, der bereits in Miche­lin-Star-Restau­rants arbei­tete, und sei­ner aus­tra­li­schen Frau Gene­vieve. Man sitzt bei den bei­den im Gar­ten hin­term gemüt­li­chen Land­haus – natür­lich in Fal­un­rot – direkt neben den Wie­sen mit Scha­fen und Zie­gen und am Holz­koh­le­ofen, wo Jona­than alle Köst­lich­kei­ten zaubert.

Cate­go­riesSchwe­den
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Yaren says:

    Klingt nach einer aben­teu­er­li­chen Reise. Ich habe einige dei­ner Posts gele­sen und wollte fra­gen, ob du Erfah­run­gen mit Road­trips gemacht hast.
    Und hast du bestimmte Apps, die dir das Rei­sen erleich­tern (das Pla­nen davor, die Orga­ni­sa­tion wäh­rend­des­sen) bzw. hast du über­haupt einen sol­chen Bedarf?
    Liebe Grüße,
    Roaddreamer
    https://road-dreamer.blogspot.com

    1. Bernadette says:

      Hallo Road­drea­mer,
      also eine prak­ti­sche App ist für mich Tri­poso. Und ansons­ten lese ich gerne per­sön­li­che Rei­se­be­richte über meine Ziele oder recher­chiere online, was mich inter­es­sie­ren könnte. Und ganz viel ent­scheide ich auch immer erst vor Ort, durch Gesprä­che mit Ein­hei­mi­schen und ande­ren Reisenden.
      Liebe Grüße
      Bernadette

  2. Hans-Dieter Knebel says:

    Hallo,
    der Bericht (Falun) hat mich an die trau­rig-schöne Erzäh­lung von Johann Peter Hebel ‑Unver­hoff­tes Wie­der­se­hen- erinnert.
    Gruss Hans-Die­ter Knebel

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