Hampi und Hanuman

Wir ste­hen am Rand der Umge­hungs­stra­ße von Hosape­te, irgend­wo im indi­schen Bun­des­staat Kar­na­ta­ka. Ein paar Kilo­me­ter noch, dann errei­chen wir Ham­pi, die einst stol­ze Haupt­stadt des letz­ten gro­ßen süd­in­di­schen Hin­du­rei­ches. Der Tag rotiert über den Hori­zont. Noch immer ist es heiß. Müde und hung­rig ste­hen wir am Stra­ßen­rand; kraft­los vom stun­den­lan­gen War­ten unter der tro­pi­schen Son­ne und der zeh­ren­den Rei­se ins Lan­des­in­ne­re.

Graue Beton­wän­de erhe­ben sich hin­ter der mehr­spu­ri­gen Fahr­bahn. Es sind die letz­ten Gebäu­de der Stadt. Auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te lie­gen wei­te Acker­flä­chen. Drei Fin­ger genü­gen, um die Pkws zu zäh­len, die hier vor­bei kom­men. Statt­des­sen nähern sich Rik­scha­fah­rer, die uns for­dernd auf ihre Diens­te auf­merk­sam machen. Wir leh­nen ab, erst freund­lich, dann bestimmt, und ern­ten belei­di­gen­de Ges­ten.

Als end­lich ein Pkw hält, rol­len drei Rik­schas knat­ternd aus der Dun­kel­heit und ver­sper­ren den Weg. Die Fah­rer mar­schie­ren auf uns zu. Ihr Rädels­füh­rer, ein feis­ter Typ, ver­bie­tet uns, in den Pkw ein­zu­stei­gen und ver­langt statt­des­sen, dass wir sein klapp­ri­ges Gefährt nut­zen.

Hampi, Indien

So viel Dreis­tig­keit ver­schlägt uns die Spra­che. Ich habe den Kerl so gern wie Fuß­pilz. „Wer bist du denn?“, fra­ge ich mich und füge laut hin­zu: „Wenn mir einer Befeh­le gibt, dann nur mein Vater.“ Die Fami­lie ist in Indi­en das höchs­te Gut. In einem Staat, der dem Indi­vi­du­um nichts gibt, ist der fami­liä­re Rück­halt über­le­bens­wich­tig. Ihr gehört Respekt, denn ohne Fami­lie geht man in Indi­en unwei­ger­lich unter.

Ich weiß, dass der Rik­scha­fah­rer das weiß. Gegen die Fami­lie wagt er nichts zu sagen. Schon gar nicht gegen den Vater. Wir schau­en uns wütend an, aber der Kon­flikt ist zu unse­ren Guns­ten ent­schie­den. Wir stei­gen in den Pkw und las­sen die Tau­ge­nicht­se mit ihren Rik­schas am Stra­ßen­rand zurück.

Nichts­des­to­trotz füh­le ich mich schlecht. Dass wir glimpf­lich aus der Situa­ti­on ent­kom­men, ist purer Zufall. In Indi­en ist kör­per­li­che Gewalt nie beson­ders weit ent­fernt. Latent liegt sie in der Luft, war­tet nur dar­auf im über­be­völ­ker­ten, von Schi­ka­nen und Kor­rup­ti­on gezeich­ne­ten Land, aus­zu­bre­chen. Fäus­te flie­gen schnell und oft bleibt es nicht dabei. Das Kas­ten­sys­tem trägt sei­nen Teil dazu bei. Obwohl offi­zi­ell abge­schafft ist es im indi­schen Gesell­schafts­ge­fü­ge noch immer prä­sent. Nach unten wird getre­ten, nach oben gebu­ckelt.

Wir errei­chen das Dorf Ham­pi Basar in der frü­hen Nacht. Häu­ser ragen wie dunk­le Schat­ten empor. Der Fluss Tung­ab­h­a­dra win­det sich an der Sied­lung vor­bei. Die meis­ten Unter­künf­te befin­den sich am ande­ren Ufer. Eine Fäh­re setzt die Besu­cher tro­cke­nen Fußes über das Was­ser. Doch im Schutz der Nacht wird aus dem jun­gen Fähr­mann ein aben­teu­er­li­cher Pirat, der für die drei­mi­nü­ti­ge Über­que­rung das Fünf­und­zwan­zig­fa­che des übli­chen Prei­ses ver­langt.

Tempel in Hampi, Indien
Palmen und Bananen am Wegrand, Indien

Wir ver­su­chen zu han­deln, was ihn offen­bar per­sön­lich belei­digt, denn unver­mit­telt wird er ähn­lich aus­fal­lend wie die Rik­scha­fah­rer in Hosape­te. Mit wil­den Ges­te brüllt er uns kon­fu­se Din­ge ent­ge­gen. Dann erklärt er das Ufer zu sei­nem Pri­vat­be­sitz und weil wir noch immer nicht bereit sind, unver­schäm­te Prei­se zu zah­len, ver­scheucht er uns vom Fähr­an­le­ger.

Wir neh­men uns ein Zim­mer in Ham­pi Basar und ver­mis­sen die Schwe­re­lo­sig­keit, die bis­her stets im indi­schen Cha­os zu fin­den war. Es dau­ert nicht lan­ge, bis wir die Geis­ter aus­fin­dig machen, die die Men­schen in Ham­pi umtrei­ben. Hier befin­den sich die impo­san­ten Res­te der Stadt Vija­ya­na­gar. Die Haupt­stadt des gleich­na­mi­gen Rei­ches war in ihrer Blü­te, zwi­schen dem 14. und 16. Jahr­hun­dert, grö­ßer als Rom und präch­ti­ger als Lis­sa­bon zur glei­chen Zeit.

Die UNESCO wür­digt seit 1986 die Rui­nen als Welt­kul­tur­er­be. Tou­ris­ten kom­men, Unter­künf­te und Restau­rants ent­ste­hen eben­so wie klei­ne Geschäf­te, die in ihrer Sum­me eine beacht­li­che Infra­struk­tur stel­len. All das mit­ten in den Rui­nen. Die his­to­ri­schen Mau­ern stüt­zen Kios­ke, hal­ten Well­blech­dä­cher und Pla­nen, geben Unter­schlupf.

In Ham­pis Rui­nen herrscht Leben, doch die UNESCO möch­te ein Muse­um. Es geht um den Erhalt alter Stei­ne, archäo­lo­gi­scher Schät­ze und so wei­ter. Denk­mal­schutz. In Indi­en bedeu­ten sol­che For­de­run­gen Will­kür, Poli­zei­ge­walt, Zwangs­um­sied­lung. 2011 kom­men die Bull­do­zer zum ers­ten Mal. Sie rei­ßen Häu­ser ein, die über Nacht mit roten Kreu­zen mar­kiert wur­den. Wo eben noch ein Zuhau­se war, ist wenig spä­ter Schutt und Staub. Das ist nun bereits Jah­re her. Noch immer ste­hen ein paar Wohn­häu­ser in Ham­pi Basar. Auch die tou­ris­ti­sche Infra­struk­tur funk­tio­niert wei­ter­hin. Wie lan­ge, dass weiß nie­mand. Die Bewoh­ner in Ham­pi sind ange­spannt. Unsi­cher­heit beglei­tet sie jeden Tag. Viel­leicht ste­hen schon mor­gen die Bull­do­zer erneut in den stau­bi­gen Gas­sen. Angst und Wut bro­deln in ihren Her­zen wie glü­hen­de Lava in einem dunk­len Kra­ter.

Hampi, Indien

Das mächtige Reich Vijayanagar

Noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten ist Ham­pi ein gro­ßer wei­ßer Fleck. Ein gemüt­li­ches Dorf, Reis­bau­ern und Rui­nen. Die Öffent­lich­keit hat kei­ne Ahnung vom Schatz, der zwi­schen Pal­men und Bana­nen­stau­den in der Gegend her­um­steht. Am süd­li­chen Ufer des Tung­ab­h­adras befin­det sich einst der Königs­sitz des Rei­ches Vija­ya­na­gar. Unvor­stell­bar wohl­ha­ben­de Köni­ge und Prin­zen las­sen unvor­stell­bar pracht­vol­le Tem­pel und Paläs­te errich­ten. Um sie her­um wächst eine Stadt, die sich in ihrer Blü­te auf 25 km² erstreckt. Im begin­nen­den 16. Jahr­hun­dert reicht der Ein­fluss des Rei­ches über wei­te Tei­le des indi­schen Südens.

Die Herr­scher von Vija­ya­na­gar kon­trol­lie­ren den Han­del von der West­küs­te am Ara­bi­schen Meer bis zur Ost­küs­te am Golf von Ben­ga­len. In ihrer Haupt­stadt leben 300.000 bis 500.000 Men­schen. Vija­ya­na­gar ist so bedeu­tend wie Agra und Delhi. Paläs­te und Vil­len säu­men Pracht­stra­ßen, die an Gran­deur kaum zu über­bie­ten sind. Euro­päi­sche Rei­sen­de berich­ten von mit­rei­ßen­den Fes­ten, von Edel­stei­nen und Sei­de an den fein­glied­ri­gen Kör­pern edler Damen, von einem Luxus, den sie selbst aus ihrer Hei­mat nicht ken­nen.

In einer Zeit in der die gro­ßen euro­päi­schen König­rei­che ihre Kas­sen im Wett­lauf um die Ent­de­ckung der Welt lee­ren, hor­ten die Herr­scher Vija­ya­na­gars wahn­sin­ni­ge Schät­ze. Sie las­sen sich regel­mä­ßig mit Gold und Sil­ber auf­wie­gen, um die Reich­tü­mer dann unter ihren Unter­ta­nen zu ver­tei­len. An den Küs­ten­hä­fen Süd­in­di­ens sind sie es, die das Mono­pol auf Ara­bi­sche Pfer­de und indi­sche Gewür­ze hal­ten. Ein lukra­ti­ves Geschäft. Ihre Han­dels­be­zie­hun­gen rei­chen vom chi­ne­si­schen Kai­ser­hof bis zu den Adels­fa­mi­li­en in Por­tu­gal.

Doch nur ein paar Jahr­zehn­te spä­ter ver­bün­den sich die benach­bar­ten Sul­tana­te zu einer Alli­anz und for­dern Vija­ya­na­gar zur ent­schei­den­den Schlacht her­aus. 1565 fällt das letz­te unab­hän­gi­ge Hin­du­reich. Die könig­li­che Fami­lie flieht mit einer Ele­fan­ten­ka­ra­wa­ne voll bela­den mit Luxus­gü­tern und noch immer bleibt so viel wert­vol­les Zeug zurück, dass ihre Haupt­stadt für sechs Mona­te geplün­dert und gebrand­schatzt wird.

Als die Glut erlischt, sind die ruhm­rei­chen Tage der Stadt been­det. Das Zen­trum der Macht gerät in Ver­ges­sen­heit. Die größ­te Stadt des indi­schen Südens ver­fällt in pro­vin­zi­el­le Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Was bleibt, ist ein Rui­nen­feld: Stei­ne, Zie­gel, Stuck, Göt­ter­fi­gu­ren und die hoch auf­ra­gen­den Gopur­ams, die Ein­gangs­tür­me, der Tem­pel.

Hampi, Indien

Sonnenuntergang über Hampi

Heu­te heißt Vija­ya­na­gar Ham­pi. Am nörd­li­chen Ufer des Flus­ses haben wir uns ein­quar­tiert. Es sind nur ein paar Meter bis zu leuch­tend grü­nen Reis­fel­dern und noch ein paar mehr Meter bis zu einem Hügel aus gewal­ti­gen Gra­nit­fel­sen. Von dort oben betrach­ten wir den Son­nen­un­ter­gang. Mit uns haben etwa fünf­zig wei­te­re Men­schen die­se Idee. Rei­se­füh­rer mit Mil­lio­nen­auf­la­ge ver­lei­hen Ham­pi den Sta­tus eines Geheim­tipps. Davon ist der Ort mitt­ler­wei­le weit ent­fernt. Die Son­ne hängt tief­oran­ge hin­ter einem grau­en Dunst­schlei­er.

Vor uns liegt ein wei­tes, frucht­ba­res Land. Saf­ti­ge grü­ne Reis­fel­der, aus­la­den­de Pal­men und üppi­ge Bana­nen­plan­ta­gen schmie­gen sich in der hüge­li­gen Land­schaft um gigan­ti­sche Fels­bro­cken, die sich gold­braun von der Vege­ta­ti­on abhe­ben. Bis an den Hori­zont lie­gen sie ver­streut, ver­kei­len sich zu klei­nen Gebir­gen oder balan­cie­ren in gewag­ten Win­keln auf­ein­an­der.

Das dunk­le Band des Flus­ses schlän­gelt sich mit­ten durch das Grün. Rui­nen und Tem­pel ragen aus der male­ri­schen Land­schaft empor. Trü­bes Licht hüllt sie in mys­ti­schen Schein. Oben auf dem Hügel wer­den Gitar­ren und Trom­meln aus­ge­packt. Hip­pie­sound klingt vom Aus­sichts­punkt über die Fel­der. Täto­wier­te Men­schen jon­glie­ren, trin­ken Bier, rei­chen Joints umher. Es ist magisch.

Hampi, Indien
Gruppen zum Sonnenuntergang, Hampi, Indien
Sonnenuntergang, Hampi, Indien

Wie ein luzi­der Traum. Nack­te, honig­far­be­ne Fel­sen spie­len mit üppig grü­ner Vege­ta­ti­on. Die Natur ist im Rausch, sor­tiert Gra­nit­bro­cken in einem gigan­ti­schen Stein­gar­ten. Die Son­ne sinkt immer tie­fer. Kurz vor dem Hori­zont durch­trennt eine Wol­ke den feu­er­ro­ten Ball am Him­mel, der nun in zwei Tei­len aus dem Blick­feld rutscht. Ein paar ein­hei­mi­sche Jun­gen sind auch hier oben. „Your name? Your coun­try?“, wol­len sie wis­sen. Sie ver­kau­fen Post­kar­ten und Bier und Soft­drinks in eis­ge­kühl­ten Eimern. Die Gesprä­che flau­en ab. Bekiff­tes star­ren zum Hori­zont.

Mehr als ein­tau­send archäo­lo­gi­sche Fund­stät­ten befin­den sich in einer spek­ta­ku­lä­ren Land­schaft zwi­schen Fel­dern und Fel­sen. Wie wun­der­voll muss es hier aus­ge­se­hen haben, als die Stadt Vija­ya­na­gar in ihrer Blü­te stand, als sich die Holz­häu­ser der Metro­po­le kilo­me­ter­lang zwi­schen Märk­ten, Tem­peln und Paläs­ten erstreck­ten? Tore, Ver­tei­di­gungs­pos­ten, Bewäs­se­rungs­an­la­gen, Stal­lun­gen, Lager. Die Stadt war einst grö­ßer als Rom oder Bag­dad oder Istan­bul. Heu­te ist sie das größ­te Rui­nen­feld Indi­ens. In sei­ner Bedeu­tung ver­gleich­bar mit Ang­kor in Kam­bo­dscha. Doch von unse­rem Aus­sichts­punkt ist nicht viel davon zu sehen. Ledig­lich das klei­ne Dorf Ham­pi Basar taucht in eini­ger Ent­fer­nung zwi­schen die Pal­men auf.

Hampi, Indien
Hampi, Indien

Don›t worry, be Hampi

An den Ghats unten am fel­si­gen Fluss­ufer, dort wo die Pira­ten­fäh­re liegt, pad­deln Ein­hei­mi­sche in klei­nen, run­den Bam­bus­boo­ten im Was­ser. Dorf­be­woh­ner baden im Fluss. Ein paar Schrit­te ent­fernt schla­gen Wasch­frau­en Sei­fen­lau­ge aus bun­ten Stof­fen. Und noch ein Stück wei­ter liegt der Tem­pel­ele­fant Lak­sh­mi im Was­ser und wird von zwei Pfle­gern abge­schrubbt. Es ist nur ein klei­nes Stück bis ins Dorf Ham­pi Basar. Bauch­la­den­ver­käu­fer schlei­chen umher. Markt­frau­en sit­zen mit ihrer Ware auf der Erde. Ein paar hei­li­ge Kühe erfül­len ihre Auf­ga­be, vor­han­den zu sein.

Rei­se­bü­ros und Cafés haben sich auf die Bedürf­nis­se inter­na­tio­na­ler Rei­sen­der ein­ge­stellt. Restau­rants ser­vie­ren Piz­za und Pom­mes, Bur­ger und Sand­wi­ches. Kios­ke ver­kau­fen Toi­let­ten­pa­pier und Scho­ko­rie­gel. Die Tou­ris­ten haben ein klei­nes biss­chen Wohl­stand nach Ham­pi gebracht. Den­noch ist die Stim­mung im Ort schlecht. Gier und Miss­gunst wach­sen, hören wir von den Ein­hei­mi­schen. Beson­ders seit nie­mand mehr weiß, ob mor­gen nicht schon das gesam­te Hab und Gut abge­ris­sen wird.

Der Rausch gehört zu Ham­pi. Sad­hus, die Bet­tel­mön­che des Sub­kon­ti­nents, sind hier zuhau­se. Die wil­den Män­ner mit ihren ver­filz­ten Haa­ren leben zu Dut­zen­den in den Höh­len rund um Ham­pi. Dort üben sie sich in Aske­se und Medi­ta­ti­on oder berau­schen sich am Gan­ja, je nach dem.

Ruck­sack­rei­sen­de auf Sinn­su­che füh­len sich erst dann ange­kom­men, wenn ihre Gedan­ken so psy­che­de­lisch bunt sind, wie die Batik T‑Shirts mit Shi­va und Ganesh, die auf der Stra­ße ver­kauft wer­den. Sie nen­nen es Selbst­er­fah­rung, was ihnen offen­bar beson­ders gut in der Grup­pe und einem Cock­tail aus Rum, Bier und Mari­hua­na gelingt.

Leben am Fluss, Hampi, Indien
Leben am Fluss, Hampi, Indien
Leben am Fluss, Hampi, Indien

Von einer Ter­ras­se schau­en wir in den Gar­ten unse­rer Unter­kunft. Ein paar Meter wei­ter sitzt eine Israe­lin aus der Gene­ra­ti­on unse­rer Eltern. Jeden Mor­gen, wenn die Tem­pe­ra­tu­ren noch erträg­lich sind, führt sie eine klei­ne rote Bong an den Mund. So begin­nen plan­lo­se Tage. Wenig spä­ter klim­pert sie auf einer Klang­scha­le. Frei sein, high sein.

Am Abend haben wir neue Nach­barn. Noch bevor wir Hal­lo sagen kön­nen, sind die bei­den Rus­sen schon betrun­ken. Sie tor­keln gluck­send umher, ver­feh­len ihre Hän­ge­mat­te und pur­zeln, als sie doch zufäl­lig in die Auf­hän­gung fal­len, schnell wie­der her­aus. Sie kot­zen über die Veran­da und lie­gen nach inten­si­ven Momen­ten gekrümmt und nicht mehr ansprech­bar auf dem Beton­bo­den vor ihrem Zim­mer.

Wir zie­hen uns zurück. Doch die Näch­te wer­den nicht ruhi­ger. Fünf jun­ge Hun­de, die tags­über trä­ge vor unse­rer Tür rum­hän­gen, wer­den nachts an glei­cher Stel­le aktiv: kau­en, klau­en und zer­le­gen sind ihre Lieb­lings­be­schäf­ti­gun­gen, wes­halb die Ter­ras­se jeden Mor­gen aus­sieht als sei­en über Nacht meh­re­re Müll­beu­tel explo­diert. Unse­re Schu­he sind weg, dafür haben wir andert­halb neue Paa­re. Treu­doo­fe Bli­cke ver­fol­gen uns, als wir unse­re Lat­schen im Blu­men­beet wie­der­fin­den. Die Köter sind ver­mut­lich ein biss­chen stolz auf ihr Werk. Don›t worry, be Ham­pi.

Hampi, Indien
Hampi, Indien

In den Ruinen einer vergessenen Stadt

Mit­ten­drin in Ham­pi Basar steht der Virup­ak­sha-Tem­pel. Seit Jahr­hun­der­ten kom­men Pil­ger aus ganz Süd­in­di­en hier­her, um an die­ser his­to­ri­schen Stät­te Shi­va anzu­be­ten. Ein etwa fünf­zig Meter hoher Tem­pel­turm ragt über den Gläu­bi­gen empor. In bun­ten Saris schla­ckern ein­hei­mi­sche Frau­en durch die bei­den Innen­hö­fe. In den schat­ti­gen Gän­gen des Tem­pels ver­brin­gen sie die hei­ßen Mit­tags­stun­den und manch­mal las­sen sie sich vom Tem­pel­ele­fan­ten Lak­sh­mi für ein paar Rupi­en seg­nen.

Doch Ham­pis wich­tigs­tes Klein­od liegt etwas außer­halb; vor­bei am Virup­ak­sha-Tem­pel, vor­bei an der alten Markt­stra­ße. Nord­öst­lich von Ham­pi Basar erhebt sich der Vitt­ha­la-Tem­pel am Ufer des Flus­ses. Errich­tet im 15. Jahr­hun­dert gilt er als der archi­tek­to­ni­sche Höhe­punkt im Vija­ya­na­gar-Reich. Er ist in all sei­ner Pracht dem Gott Vish­nu und sei­nem Reit­tier, dem Fabel­we­sen Garu­da gewid­met. Sono­re Gra­nit­säu­len in sei­nem Inne­ren las­sen Ton­lei­tern erklin­gen. Im Innen­hof des Tem­pels steht ein reich ver­zier­ter, in Indi­en ein­zig­ar­ti­ger, stei­ner­ner Tem­pel­wa­gen.

Vitthala-Tempel, Hampi, Indien
Vitthala-Tempel, Hampi, Indien
Vitthala-Tempel, Hampi, Indien

Die archäo­lo­gi­sche Stät­te Ham­pi ist voll­ge­packt mit his­to­ri­schen Bau­ten – mal sakral, mal säku­lar, aber immer anschau­lich. Zwi­schen Pal­men­wäl­dern, Fel­sen und Fel­dern erhe­ben sich die Über­res­te alter Tem­pel und Pavil­lons. Es ist nicht schwer, sich in der herr­li­chen Land­schaft zu ver­lau­fen. Ehe wir uns ver­se­hen, ver­sperrt ein Was­ser­büf­fel unse­ren Weg. Wir ver­su­chen uns zu ori­en­tie­ren und lau­fen schließ­lich aufs Gera­te­wohl wei­ter. Zu schön ist es hier, als das die kür­zes­te Stre­cke eine Opti­on wäre.

Auf dem Hema­ku­ta Hügel, der sich hin­ter dem Virup­ak­sha-Tem­pel erhebt, ste­hen Tem­pel und Schrei­ne, die viel älter sind als das Vija­ya­na­gar-Reich. Hier beten die Hin­dus schon seit dem neun­ten Jahr­hun­dert ihre Göt­ter an. Ganesh gehört natür­lich dazu. Der Ele­fan­ten­kopf­gott sitzt hin­ter dem Hügel in einem Pavil­lon mit gro­ben Säu­len, die sei­nem dicken Bauch gera­de so Platz las­sen.

Drei Kilo­me­ter wei­ter süd­lich ste­hen die Über­res­te der ehe­ma­li­gen Palast­bau­ten der Königs­fa­mi­lie. Von den meis­ten Gebäu­den sind nur noch die Grund­mau­ern geblie­ben. Nur weni­ge Bau­wer­ke ragen wie Ske­let­te ihrer selbst empor. Da ste­hen ver­fal­le­ne Wach­tür­me, gewal­ti­ge Ele­fan­ten­stal­lun­gen und Gar­ten­pa­vil­lons. Von hoch auf­ra­gen­den Podes­ten betrach­tet der König einst impo­san­te Para­den, lässt sich von Musik und Tän­ze­rin­nen betö­ren oder von Kämp­fen belus­ti­gen: Mann gegen Mann, Ele­fant gegen Ele­fant.

Hazara Rama Tempel, Hampi, Indien
Plast der Königin, Hampi, Indien

Im könig­li­chen Palast­tem­pel sind die Wän­de detail­reich mit Sze­nen aus der hin­du­is­ti­schen Mytho­lo­gie ver­ziert. Die alt­in­di­schen Legen­den aus der Rama­ya­na tau­chen immer wie­der auf. Aber es sind nicht nur Mythen abge­bil­det. Vie­le Reli­efs im alten Vija­ya­na­gar sind anti­ke Comic­skrip­te. Sie zei­gen das Leben am Hof, erzäh­len von Tän­ze­rin­nen mit melo­nen­gro­ßen Brüs­ten und brei­ten Hüf­ten, von Krie­gern und wil­den Ele­fan­ten, vom tan­zen­den Gott Shi­va. Wir schlen­dern die ver­zier­ten Mau­ern ent­lang, ver­lie­ren uns in den Bil­der­ge­schich­ten ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te.

Man­che Sze­nen sind hoch­gra­dig ero­tisch. Unbe­klei­de­te Frau­en sprei­zen die Bei­ne, öff­nen ihre Scham. Dane­ben legen nack­te Män­ner selbst die Hand an sich. Öffent­li­che Por­no­gra­phie die Epo­che für Epo­che über­dau­er­te. Wie konn­te aus so frei­zü­gi­gen Bild­hau­ern und Wand­ge­stal­tern die prü­de indi­sche Gesell­schaft der Gegen­wart wer­den in der die Men­schen selbst beim Baden voll­be­klei­det sind? Mit einem Rol­ler fah­ren wir durch die male­ri­sche Land­schaft. Schweiß steht uns auf der Stirn. Es ist unglaub­lich heiß, kleb­rig feucht. Zucker­rohr­fel­der und Bana­nen­plan­ta­gen säu­men den Weg. Reis wird groß­flä­chig ange­baut. Pal­men ragen empor. Hun­dert­tau­sen­de wild umher­lie­gen­de Gra­nit­bro­cken bre­chen die kla­re Ord­nung der Vege­ta­ti­on.

Virupaksha Tempel, Hampi, Indien
Virupaksha Tempel, Hampi, Indien

Die Legende von Hanuman

Nörd­lich des Flus­ses Tung­ab­h­a­dra erhebt sich der Hügel Anjan­adri. Auf sei­ner Kup­pe steht ein klei­ner wei­ßer Tem­pel. Er ist dem Affen­gott Hanu­man geweiht, der als Gene­ral die mäch­tigs­te Pri­ma­ten­ar­mee befeh­lig­te, die je durch die Baum­kro­nen die­ser Erde tob­te. Ein stei­ler Pfad führt mit 578 Stu­fen auf den fel­si­gen Hügel. Dort oben tur­nen Maka­ken über das unweg­sa­me Gelän­de. Ohne Scheu klet­tern sie auf die Schul­tern und Köp­fe der Tem­pel­be­su­cher, sti­bit­zen Was­ser­fla­schen. Unge­niert geben sie sich jedem Unfug hin. Hier sind sie zuhau­se.

Alte Legen­den erzäh­len vom König­reich Kish­kind­hya, das hier einst in einem gigan­ti­schen Wald lag. Hanu­man soll auf dem Hügel Anjan­adri gebo­ren sein. Er ist Bera­ter, Kriegs­herr und Bot­schaf­ter sei­ner Köni­ge. Ein wacke­rer Recke, gut­mü­tig und loy­al, uner­mess­lich stark und schnell wie der Wind. Außer­dem kann Hanu­man flie­gen und sei­ne Grö­ße nach Bedarf ver­än­dern. Ein rich­ti­ger Super­held. Neben Shi­va und Ganesh ist Hanu­man einer der belieb­tes­ten Göt­ter in ganz Indi­en. Vor allem Ange­hö­ri­ge der unte­ren Kas­ten, Bediens­te­te und Ange­stell­te ver­eh­ren ihn.

Hanu­man ver­kör­pert das Ide­al eines Die­ners. Er ist opfer­be­reit, uner­schro­cken, demü­tig und gehor­sam. Im Hel­den­epos Rama­ya­na wird er zum treu­en Hel­fer des Got­tes Rama, der gegen den Dämon Rava­na in den Krieg zieht, um sei­ne Frau Sita zu ret­ten. Die Geschich­te kennt bis heu­te jedes Kind in Indi­en. Unter der Füh­rung Hanu­mans stellt Rama eine Affen­ar­mee der bes­ten und stärks­ten Kämp­fer zusam­men. Jeder will dabei sein, wenn es gegen den Dämon in die Schlacht geht und zum Beweis ihrer Mus­kel­kraft ver­streu­en die Affen­krie­ger über­all gigan­ti­sche Fel­sen, sta­peln sie zu mäch­ti­gen Tür­men über­ein­an­der.

Anjanadri, Hampi, Indien
Anjanadri, Hampi, Indien

Der legen­dä­re Wald ist nicht mehr da, aber die von den Affen hin und her gewor­fe­nen Gra­nit­blö­cke lie­gen noch immer in der Land­schaft. Vom Anjan­adri Hügel mit dem Hanu­man-Tem­pel öff­net sich eine fan­tas­ti­sche Aus­sicht auf Reis­fel­der und Pal­men und Fels­bro­cken, die unwirk­lich mit­ten aus dem dich­ten Grün her­aus­ra­gen. Die Maka­ken schlen­dern noch immer um den Tem­pel. Im Land Hanu­mans haben sie nichts zu befürch­ten. Ent­spannt hocken sie in unse­rer Nähe und weil wir ihnen irgend­wann zu lang­wei­lig wer­den, genie­ßen auch sie den Blick in die Fer­ne.

Rund um Ham­pi lässt es sich aus­hal­ten. An der irren Land­schaft kön­nen wir uns kaum satt­se­hen. Fau­le Tage, glei­ßen­de Son­nen­un­ter­gän­ge und impo­san­te Rui­nen ver­füh­ren nicht nur uns. Kaum jemand ent­kommt die­sem Bann. An den Fel­sen hin­ter Ham­pi Basar hän­gen Klet­te­rer an schrof­fen Wän­den. Sie nut­zen die weni­ger hei­ßen Mor­gen­stun­den. Danach geht es zum Baden an den nahen Sana­pur See oder gemüt­lich in die Hän­ge­mat­ten. Es könn­te herr­lich sein. Doch neben der Leich­tig­keit liegt die Unge­wiss­heit. Wie es mit Ham­pi Basar wei­ter­geht, liegt in den Ster­nen. Viel­leicht ver­mag ja Hanu­man zu hel­fen.

Hampi, Indien
Hampi, Indien

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