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Die Wanderung durch den Jebel Saghro würde meine vorerst letzte Gelegenheit sein, um existentielle Erfahrungen in den Bergen zu sammeln und ich wollte sie voll ausreizen. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer davon, wie weit mich das bevorstehende Abenteuer über alle Grenzen hinausführen würde.
Als ich nach meiner Rückkehr die Schriftstücke fand, die ich vor meinem Aufbruch verfasst hatte, überkam mich Gänsehaut; wie ein Fremder blickte ich auf meine Notizen, las die Passage, in der ich in der dritten Person über mich und mein bevorstehendes Abenteuer sprach und fragte mich, was Freunde und Familie auf Grundlage dieser Überreste auf mein verlorenes Lebens geschlossen hätten.
Warum hatte ich es wieder so weit getrieben? Das ist die entscheidende Frage.
Doch zurück zum Anfang: Schon auf dem Weg zur Herberge in der Dades-Schlucht, die bald zu meiner Heimat werden sollte, hatte ich zum ersten Mal von der Wanderung gelesen und Blut geleckt. Dennoch dauerte es lange Zeit bis meine Pläne Form annahmen; zeitweise schienen sie fast zu einem running gag verkommen zu sein. Tief im Innern jedoch hatte ich keinen Zweifel, dass ich mich aufmachen würde, wenn die Zeit reif war. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Zurück. Einmal verschob ich die Wanderung aufgrund von Schneefall, dann wollte ich lieber das Glück genießen, wieder einmal einen Heimat- und Sehnsuchtsort gefunden zu haben, an dem ich mir mein Leben vorstellen konnte. Hier schien sich ein großer Kreis zu schließen. Ausgedehnte Reisen hatten die letzten sechs Jahre bestimmt und ich war weit gekommen. Nur diese Erfahrungen ermöglichten es mir, mich in die zuvor völlig fremde Kultur der Berber einzufühlen und die Grenzerfahrungen im Himalaja gaben mir das Selbstbewusstsein, um alleine in die fremde und zugleich vertraute Bergwelt zu gehen. Außerdem lag das vorläufige Ende meines Nomadenlebens in greifbarer Nähe; das erste Mal auf meinen Reisen wusste ich, was mich nach der Rückkehr erwarten würde: die Sesshaftigkeit in einer solidarischen Hofgemeinschaft.
Der Höhlenmensch
Eine erste Wanderung lag bereits einige Wochen zurück und hatte mich wider Erwarten an meine Grenzen herangeführt. Die von meinem Freund Mohammed als lockere 2‑Tages-Wanderung beschriebene Route, die auch an einem Tag zu schaffen sei, stellte sich als Abenteuer heraus, das mit 25 Kilogramm auf dem Rücken, ohne Karte zur Orientierungshilfe und ohne Reittier kaum unter drei Tagen zu bewältigen war; ich brauchte schließlich vier. Ich schlief die ersten zwei Tage in Höhlen. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, in der Geborgenheit der Höhlen im Schein der Kerzen über dem Gaskocher Speisen zuzubereiten. Nie zuvor nahm ich in solch einer Klarheit wahr, wie die Nacht im Mondschein niemals ganz dunkel wurde. Es war wie eine Zeitreise zu meinen Vorfahren.
Manchmal zweifelte ich an der eingeschlagen Route, litt Durst und erlebte eine Fremde, die mich überwältigte, manchmal Überforderte und dann wieder tief im Innern anrührte und mir in diesen Momenten vertrauter schien als Alles, was ich einst gekannt hatte. Mir begegneten Nomaden mit kristallblauen Augen und es schmerzte mich fast in ihre Reinheit zu blicken. Sie lebten noch immer vollständig in die Natur eingebettet – ich suchte einen Weg zurück. Wenn mir ein einsamer Reiter auf einem Esel begegnete, fühlte ich mich gar in biblische Zeiten versetzt. Es war eine archaische, übermächtige Landschaft, eine Steinwüste, die ihren Bewohnern alles abverlangte. Die fruchtbaren Flusstäler schienen plötzlich weit weg. Ich war auf mich selbst zurückgeworfen.
Die dritte Nacht schlief ich bei einem Dorfvorsteher, der mich bei sich aufnahm und bewirtete. Die touristische Infrastruktur war räumlich gesehen nicht allzu fern und zugleich zeitlich Lichtjahre entfernt.
Spätestens diese Wanderung änderte endgültig die Wahrnehmung meiner Person – grundsätzlicher konnte ich mich kaum von anderen Touristen unterscheiden, die Komfort und Entspannung suchten und in Windeseile die touristischen Sehenswürdigkeiten abklapperten. Sie tun alle das Gleiche: Sie buchen in Ouarzazate eine Gruppen-Tour, die zu sie zu den Dünen bei Merzouga und durch die Todra- oder Dadesschlucht führt. Ihr Vorteil war, dass sie von einem guten Führer viele Informationen bekamen, aber sie kamen dafür nur selten direkt mit den Einheimischen in Kontakt. Von ihnen trennten mich seit langem Welten; ich war ein aus der Zeit gefallenes Fossil, ein Anachronismus, auf der Suche nach dem einfachen, guten Leben. Inzwischen hatte ich mir einen kleinen Basisschatz an Taschelheit-Kenntnissen (einer der Berberdialekte) zugelegt. Das reichte zwar nicht im Ansatz für eine richtige Konversation, stieß mir aber immer mehr Türen auf. Meine eifrigen Bemühungen mich der Berberkultur anzunähern brachten mir Achtung ein. Auch wenn es anmaßend klingen muss – ich fühlte mich bald im Herzen als Berber. Deren Ideale von Freiheit, Gemeinschaft, Familie, ihre Verbundenheit mit der Erde und ihr Widerstand gegen unzählige Invasoren imponierten mir. Schon lange trug ich den Dschellaba (den Kapuzenmantel der Berber) mit großer Selbstverständlichkeit. Nun wollte ich einen Schritt weitergehen und in die halbnomadische Welt des Saghro vordringen. Diesmal war ich wild entschlossen; so ließen mich die Warnungen meiner Freunde Ibrahim und Mohammed kalt. Sie hatten die Ankündigung von schwerem Schneefall im Saghro gehört und empfahlen mir, meine Wanderung noch einmal zu verschieben. Doch ich musste endlich los, ich war auf das große Abenteuer fokussiert und wenn es zwei Tage schneien sollte, dann würde ich das Ende eben in den Bergen abwarten. Doch da hatte ich die Rechnung ohne meinen Stolz gemacht.
Zunächst machte ich mich auf den Weg nach Tagdilt, direkt am Fuße der Bergkette. Mit einem Fahrer hätte ich anderthalb Stunden dorthin gebraucht. Ich war jedoch immer wie die Einheimischen unterwegs: Ich bestieg eines der Sammeltaxis, die unregelmäßig durch die Dades-Schlucht fahren, wartete stundenlang in Boumale-Dades, bis der nächste klapprige Mercedesbus sich so weit gefüllt hatte, dass sich die Fahrt für den Fahrer lohnte. Dann fuhren wir auf einen Gemüsemarkt, wo sich die Passagiere mit dem Nötigsten eindeckten – die Sammeltaxis sind für viele die einzige Möglichkeit, um Waren nach Hause zu bringen. So dauerte es den halben Tag, um Tagdilt zu erreichen. Dort stieg ich in einer Gite, einer einfachen Herberge unter. Das Wetter war prächtig und es schien mir schwer vorstellbar, dass es bald schneien sollte. Über dem Hohen Atlas hatten sich zwar schwere Wolken gebildet. Doch zwischen ihm und der Bergkette des Saghro liegt eine 30–40 Kilometer weite Ebene.
Im Schneesturm
Am nächsten Tag wusste ich, dass die Prognosen nicht aus der Luft gegriffen waren. Als ich erwachte, lag bereits eine Schneeschicht auf dem Boden, der Himmel hatte seine Pforten geöffnet und ließ schwere Schneeflocken auf die Erde rieseln. Wind war aufgekommen und es wurde immer diesiger. Die Kinder des Hauses lieferten sich eine Schneeballschlacht und ich war ein wenig unschlüssig, was ich tun sollte. Der älteste Sohn des Besitzers wiederholte in einem fort, wie kalt es sei und dass ich doch nicht ernsthaft losgehen könne. Ich ertappte mich bei dem absurden Gedanken, wer wohl hier der Berber war. Bald beschloss ich das nervige Gejammer hinter mir zu lassen und aufzubrechen. Zumindest die einige Stunden entfernte Ortschaft Imi n’Ouarg wollte ich unbedingt erreichen. So stapfte ich mit den 30 Kilogramm auf dem Rücken los.
Bald war aus dem Wind ein heftiger Sturm geworden und es schneite sich immer weiter ein. Der Rucksack war viel zu schwer, der Dschellaba wurde immer feuchter und damit noch schwerer. Die Sicht verringerte sich auf wenige Meter. Aber ich musste weiter. Bald passierte ich ein kleines Dorf; Kinder hängten sich an meine Fersen und stürmten mich mit Fragen. Am liebsten hätte ich eine Pause gemacht und mich irgendwo aufgewärmt. Doch ich verbat es mir; ich musste meinen Rhythmus finden.
Von der Landschaft war wenig zu erkennen. Die Felder und Gärten waren kaum zu erahnen und manchmal waren es nur die Berge in unmittelbarer Nähe, die mir ein vages Gefühl davon vermittelten, wo ich mich befand. Ein Transporter passierte mich und der Fahrer bot mir an, mitzufahren. Doch ich wollte keine Hilfe annehmen – ich war bereits jetzt in meinem Einzelkämpfer-Modus. Es hörte nicht auf zu schneien und zu stürmen. Die Weiler, die ich passierte, wirkten wie ausgestorben, dann traf ich wieder zwei junge Burschen, die mich ein Stück begleiteten. Schließlich erreichte ich erschöpft Imi n’Ouarg. Ich war kaum mehr als vier Stunden unterwegs gewesen, aber die Nässe, der Sturm und der Schnee hatten mir zugesetzt, von dem Gewicht auf dem Rücken ganz zu schweigen. Eigentlich führte ich für die Wanderung zu viel Gepäck bei mir, aber ich hatte gehofft, wie auf der letzten Wanderung ein oder zwei Mal in Höhlen übernachten zu können.
Als ich den Weiler erreichte, wollte ich nur noch unter ein trockenes Dach und hatte meinen Rucksack gerade für einen Moment an der Tür zur Moschee abgesetzt, als ich vor dem benachbarten Haus den Mann erkannte, der mir unterwegs die Mitfahrt angeboten hatte. Ohne zu zögern lud er mich in sein Haus ein. Dankbar betrat ich einen kleinen, offenen Innenhof, in dessen Mitte sich bereits ein beachtlicher Schneeberg angesammelt hatte und wurde einer jungen Araberin vorgestellt. Bald stellte sich heraus, dass mein Gastgeber Youssef einige der Lehrerinnen der Dorfschule bei sich wohnen ließ. Während sie mir ihre Pantoffeln auslieh, führte mich Youssef in einen Lagerraum und begann mir ein Nachtlager herzurichten. Ich war gerührt von seiner Gastfreundschaft und meine Dankbarkeit wuchs mit jeder Geste. Er versorgte mich mit Essen und einem kleinen Gasofen, für den er zweimal eine neue Gasflasche kaufte. Zunächst war er ein wenig enttäuscht über meine nicht vorhandenen Französisch-Kenntnisse. Umso erfreuter war er über meine Bemühungen etwas Taschelheit zu lernen und meinem Interesse für die Berberkultur. In Windeseile schloss er mich in sein Herz und war wie ein Vater zu mir.
Da es in dem Dorf kein reguläres Gasthaus gab, gab ich eine sonderbare Erscheinung ab. Überhaupt stellte sich die Frage, was ein einsamer Wanderer bei diesen Bedingungen überhaupt hier machte. Mit Fatima, einer weiteren Lehrerin, unterhielt ich mich in einer wilden Melange aus Englisch, ein paar Brocken Französisch und Taschelheit über den Islam und wir waren uns trotz unterschiedlicher Vorstellungen vom Leben einig, dass nur in religiöser Koexistenz Zukunft für unsere Erde lag. Ihre fast naive Reinheit rührte mich an. Am Abend saß ich vor dem Gasofen. Draußen wehten die Stürme durch den Saghro, der Schneefall hatte nicht nachgelassen, aus einem Nachbarzimmer erklang das fröhliche Glockenlachen der Lehrerinnen. Ich schlief gut. Am nächsten Tag verwickelten mich die Dorfkinder und Lehrerinnen in eine Schneeballschlecht. Es war eine unverfälschte Erfahrung ganz nach meinem Geschmack. Vielleicht würde mir die Vollendung meiner Wanderung verwehrt bleiben, aber alleine diese Tage waren den Aufbruch wert gewesen.
Nach der zweiten Übernachtung hatte es aufgehört zu schneien und zu stürmen. Der Blick, der sich mir bot, war atemberaubend:
Ich wollte weiter. Zumindest bis zum nächsten Etappenort; dort würde ich weitersehen, ob der dahinter liegende Pass passierbar wäre. Inzwischen lag über ein halber Meter Schnee; Dort, wo sich Schneeverwehungen aufgetürmt hatten, war er noch deutlich tiefer. Youssef schippte gerade sein Dach frei und war keineswegs begeistert über mein Ansinnen, bei diesen Bedingungen weiter zu gehen. Schließlich begleitete er mich mit seinem Sohn und einigen Kindern aus dem Dorf noch ein Stück auf meinem Weg und half mir, einen Weg zu spuren.
Dann war ich wieder allein und kämpfte mich durch den Schnee.
Einmal machte ich bei einer halbnomadischen Familie halt und wurde in einem höhlenartigen Raum mit Tee, Olivenöl und Brot verköstigt. Kurze Zeit später erreichte ich Ishu Hassein, wo mich eine kleine Herberge mit grandiosem Blick erwartete.
Der Weiler wird nur von zwei Familien bewohnt. Mein Gastgeber Hassein war einer der wenigen Einheimischen unterwegs, die ein passables Englisch sprachen. Er versorgte mich mit einem kleinen Chimini (ein kleiner Holzkohleofen) und leistete mir Gesellschaft. Ich machte mir Sorgen, mich mit dem Anstieg zum folgenden Pass zu übernehmen und frage ihn nach seiner Einschätzung. Es sei „difficult, but not impossible“. Das musste genügen.
In der Nacht ging ich immer wieder nach draußen, um den Himmel zu betrachten. Ich war vollkommen dem Moment ergeben, ergriffen von den Elementen. Selten war ich ihnen so nah. Über mir blitzten die Sterne in all ihrer Pracht um die Wette. Hundegebell drang aus der Ferne zu mir und das Echo hallte im Tal wieder. Ich war glücklich.
Der Grenzgänger
Am nächsten Morgen zog ich weiter. Noch einmal mache ich kurz bei einer Nomadenfamilie halt. Es war die letzte Behausung vor dem Pass. Wir tauschten Tee, Brot und Zigaretten, im Halbdunkel lag ein schwer behindertes Kind, das vollständig auf die Fürsorge seiner Eltern angewiesen war. Sie hatten noch ein weiteres Kind. Die Mutter buk auf einfachste Weise Brotfladen. Es fiel mir unendlich schwer mir vorzustellen, wie sie dieses Leben meistern konnten. Die Elemente verlangten ihnen alles ab. Im Sommer herrschen im Saghro oft über 50 Grad, es wimmelt von Skorpionen und Kobras und wie widrig die Verhältnisse im Winter sein können, erlebte ich gerade selbst. Da stieß die romantische Vorstellung von einem Leben inmitten der Berge an ihre Grenzen.
Ich brach wieder auf. Nach drei Schritten sank ich das ersten Mal im Tiefschnee ein und fiel um. Mühsam rappelte ich mich wieder auf. Spätestens jetzt war mir klar, dass ich unter diesen Bedingungen auf keinen Fall weiterlaufen sollte, doch ein Umkehren war in meinem Kopf nicht vorgesehen. Also weiter, immer weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.
Längst betrachte ich mein Abenteuer aus einem Tunnelblick heraus, ohne den ich keine meiner Wanderungen überstanden hätte. Das eingeschränkte Blickfeld durch die Kapuze verstärkte dieses Gefühl noch.
In der gleißenden Bergsonne war es unglaublich heiß, aber für den schweren Kapuzenmantel aus Schafswolle war kein Platz in meinem Rucksack. Ich schwitze wie ein Schwein. Mühsam schleppte ich mich weiter und befand mich bald im Aufstieg zum Tizi N’uarg. Es kostete unglaublich viel Kraft, um mich im Tiefschnee nach oben zu arbeiten. Bereits bei Erreichen des Passes fühlte ich mich völlig entkräftet.
Der Blick zurück:
Doch ich glaubte, das Schlimmste hinter mich gebracht zu haben. Ich ging noch ein wenig über den Pass hinaus weiter und genoss den Blick auf die betörende Schnee- und Berglandschaft. Vor mir lag ein Tal ausgebreitet, das sich in zwei Richtungen teilte.
Im Tal machte ich einige Steinbehausungen von Nomaden aus; sie waren verlassen. Ich wusste, dass meine Route unmittelbar vor dem Pass nach links weiterführte und dort verliefen auch Spuren im Schnee. Das irritierte mich jedoch auch ein wenig, denn Hassein hatte gesagt, keiner sei in den Bergen unterwegs. Ich hatte vermutet, das steilste Stück bereits hinter mich gebracht zu haben und war daher überrascht, dass nach einer relativ flachen Passage ein weiteres Steilstück wartete. Hier war der Schnee bereits bis zu einen Meter tief. Wir reden spätestens jetzt von Extremsport und ich schwankte zwischen leichter Hysterie ob meines verrückten Unternehmens, mich hier hochzustemmen und einem unbändigen Stolz, dass ich mal wieder dabei war, Grenzen einzureißen. Nicht zuletzt musste ich über mich selbst lachen, mich wieder in so einer Extremsituation wiederzufinden, bei der jeder Vernünftige Mensch die Notbremse ziehen würde. Mein Wasser war inzwischen aufgebraucht. Um nicht völlig zu dehydrieren, hatte ich begonnen, Schnee zu essen.
Es war ein Himmelfahrtskommando. Alle Kraft und Konzentration waren nach vorne gerichtet. Jeder Schritt war eine Qual, doch ich wusste genau, dass mich auch auf den anderen extremen Wanderungen nicht die Kondition, sondern mein unbändiger Wille ans Ziel gebracht hatte. Wieder einmal hatte der risikobereite Draufgänger in mir den Vorsichtigen meilenweit abgehängt. Dem Herrn Alles-oder-Nichts ging es darum, intensiv und wahrhaftig zu leben und alles auszumerzen, was in mir unlebendig ist. Doch diese scheinbar nur negativen Seiten in mir hatten in meinem Leben eine wichtige Funktion gehabt: Selbstschutz. Sie mussten entstehen, als ich verraten und verachtet war. Diese Seite sucht nach Heimat, zumindest nach einem Hafen. Mir ging es in meinem Leben immer nur gut, wenn ich einen Ausgleich zwischen den Ich-Anteilen fand. Beide haben ihre Berechtigung und Notwendigkeit. Doch wieder einmal ignorierte ich den schwachen Anteil und versuchte den Schatten der Vergangenheit abzuschütteln. Ich wollte mich spüren, mich meines Selbstwerts versichern. Die Abenteuerlust war zu einem wichtigen Teil meiner Identität geworden. Wer hier hoch kam, der konnte alles schaffen.
Ich hörte Rufe aus dem Tal, dem ich gerade entstieg, interpretierte sie als Warnung, auf dem falschen Weg unterwegs zu sein und die grenzenlose Erschöpfung löste Verwirrung aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Weg immer weiter nach oben führen konnte. Ich begann zu zweifeln. Folgte ich wirklich dem richtigen Weg oder war ich längst auf einer aberwitzigen Route, die mich in die Irre führte? Hätte ich vielleicht doch in Richtung der Nomadenbehausungen gehen sollen? Mir ging die Zeit aus, die Situation spitzte sich zu und ich musste zusehen, dass ich einen geeigneten Ort für eine Übernachtung fand.
In Wahrheit war ich vom höchsten Punkt meiner Route vielleicht noch eine dreiviertel Stunde entfernt. Ich müsste nur noch zwei oder drei letzte Kuppen bezwingen und befände mich dann im langen Abstieg nach Igli. Doch in dieser völlig unübersichtlichen Berg-und Schneelandschaft war Orientierung fast unmöglich. In meiner Verunsicherung traf ich die fatale Entscheidung, in ein Seitental hinabzusteigen, um wieder auf die Route zu stoßen, die ich von der Passhöhe aus hatte erahnen können. Das war völliger Wahnsinn, eine völlig unwahrscheinliche Annahme. Doch es war bereits seit Stunden eine Grenzerfahrung fernab jeglicher Rationalität.
Die Todesfalle
Um es mir ein wenig einfacher zu machen, beschloss ich seitlich über die Felsen in das Tal zu klettern. Über den Fels hinunterzusteigen war deutlich angenehmer. Dazwischen war der Schnee verboten tief.
Als ich das Tal erreichte, erlebte ich eine böse Überraschung: Unter dem Schnee hatte sich ein unterirdischer Fluss gebildet und mir blieb nur, den Fluss immer wieder zu kreuzen auf der Suche nach Passagen, in denen ich nicht zu tief versank. Die Nässe spielte keine Rolle; meine Schuhe waren ohnehin schon seit dem Morgen durchnässt. Ich überlegte kurz, doch wieder zu den Fußspuren zurückzukehren, aber ich hatte kaum noch Kraft. Es fiel mir immer schwerer, vernünftige Gedanken zu entwickeln. Mir war bewusst, dass mir vor dem Einbruch der Dunkelheit nicht mehr viel Zeit bleiben würde und begann nach einer Höhle Ausschau zu halten – vergeblich. Dann verengte sich das Tal. Ein kleiner Wasserfall verhinderte ein Weiterkommen. Ich kletterte auf den linken Grat, stand aber bald vor einem Abgrund. Auch ein weiteres Aufsteigen schien mir unmöglich; von diesem Aussichtspunkt aus entschied ich mich, auf die rechten Flanke hinaufzuklettern, um das Nadelöhr zu umgehen. Doch ich schaffte es nicht mehr hinaufzukommen, ich war viel zu entkräftet, der poröse Fels gab kaum Halt oder von zu viel Schnee bedeckt. In diesem Moment der absoluten Schwäche nahm ich wahr, dass ich von meiner Position aus den kleinen Wasserfall umgehen konnte, indem ich mit dem Schnee wieder zur Talsohle hinunter rutschte. Ich sah ohnehin keine anderen Optionen mehr.
Umso größer war mein Entsetzen, als mir das ganze Ausmaß meiner Entscheidung klar wurde: ich hatte mich in eine Todesfalle begeben. Das Tal hatte sich an dieser Stelle auf wenige Meter verengt, in der Mitte hatte sich ein kleiner See gebildet und der Schnee links und rechts davon war abschüssig und gerade dabei, sich in Wasser zu verwandeln. Rechts und links über mir ragte nur schroffer, steiler Fels auf.
Zunächst versuchte ich die Wasseransammlung am Rande zu umgehen. Nach wenigen Schritten versank ich vollständig im Schnee, aus dem ich mich lange nicht mehr befreien konnte. Nun hatte ich Todesangst. Nur mit den Irrsinnskräften der Verzweiflung gelang es mir noch einmal, mich seitlich aus dem Loch herauszurollen. So kam ich nicht weiter. Ich wurde zunehmend hysterisch und ein lautloses, verzweifeltes Schluchzen überkam mich. Die einzig verbliebene Option erschien nun das Durchqueren der Wasseransammlung; doch als ich bereits am Rande bis zu den Hüften einsank, musste ich auch dieses Vorhaben aufgeben. Im eisigen Wasser stehend, war ich mir sicher, dass mein Leben hier enden würde. Alea iacta est! Die Würfel waren gefallen. Nackte Panik erfüllte mich; Gedankenfetzen rasten durch meinen Kopf: du gehst kaputt wiederholte eine Stimme in mir stupide. Was für ein erbärmliches Ende! Ich dachte daran, welche schöne Erfahrungen, ich nie wieder machen dürfte. Die anderen Gedanken kreisten um die Frage, was die Lieben sagen würden, wenn man mich irgendwann finden sollte. Der Abenteurer in mir hatte sich oft insgeheim gewünscht, während einer dieser Grenzgänge im vollen Seinszustand mit erhobenem Haupt zu verunglücken und nicht während einer der Phasen der Unlebendigkeit, die mich immer wieder einholten. Aber doch nicht so! Ein anderer Gedanke jagte mir durch den Kopf: Mit 16 hatte ich sterben wollen, jetzt war ich 32 und ich würde sterben, obwohl ich unbedingt leben wollte.
Ich stieg mühsam aus dem Wasser heraus und setzte mich auf einen Stein, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich versuchte den aufkommenden Zynismus aufgrund der bitter-absurden Situation zu ersticken. Ich hatte nur noch eine einzige Chance: Ich musste irgendwie den Fels erklimmen. Ein erster Versuch endete nach wenigen Metern. Da saß ich nun in einem Felsspalt, krampfhaft bemüht mich selbst und die beiden Rucksäcke festzuhalten und beschloss in dieser windgeschützten Position eine Nudelsuppe zu kochen. Wie das technisch möglich war, ist mir völlig unklar, aber es gelang. Bleiben konnte ich dort jedoch nicht, ich konnte mich unmöglich die ganze Nacht hier festhalten, geschweige denn die Kleider aus meinem Rucksack anziehen. Ich kletterte wieder hinab und versuchte es an der einzig anderen Stelle, die theoretisch in Frage kommen konnte. Doch der Fels war brüchig und bot kaum Möglichkeiten, sich festzuhalten. Es blieb mir nur mich am Rande des Gesteins im Tiefschnee an den Fels geklammert hinauf zu arbeiten, den einen Rucksack immer weiter nach oben wuchtend, den anderen am Körper. Mir war bewusst, wie knapp ich davor stand mit den Rucksäcken nach unten in das Eiswasser zu fallen; das wäre der sichere Tod, davon würde ich mich nicht mehr erholen können. Selbst einen der Rucksäcke zu verlieren, hätte alle verbliebenen Hoffnungen vernichtet – darin war alles, was mich noch von außen schützen konnte.
Ich besaß keine Kraft mehr, dort hinauf zu klettern, alle Notreserven waren lange verbraucht. Doch im Angesicht des sicheren Todes mobilisierte ich übermenschliche Kräfte. Ich war in einem reinen Überlebens-Modus. Alles schien auf Zeitlupe eingefroren. Alle Energie galt der nächsten Bewegung. So überwand ich die schroffe Felswand und erreichte wieder den Punkt, an dem ich mir einen Überblick verschafft hatte. Schon da hatte ich überlegt, dort auszuharren, den Platz aber als ungeeignet verworfen. Nun blieb mir nichts anderes mehr. Das erste Mal in meinem Leben schrie ich lauthals nach Hilfe, doch Niemand konnte mich hören. Ich war auf mich allein gestellt.
Mein Lagerplatz war der einzige Ort in der näheren Umgebung, an dem auf etwa drei Metern Breite kein Schnee lag; Ich konnte mich gegen einen Felsen lehnen, der mich ein wenig vor dem Wind schützte, der immer mehr an Stärke gewann. Selbst wenn ich ein Zelt gehabt hätte – hier hätte es mir nichts genutzt. Um mich herum war nur Schnee und Stein. Kurz überlegte ich noch, nach einem besseren Ort Ausschau zu halten, aber ich wusste, dass ich keine Kraft mehr vergeuden konnte. Also begann ich, mich in mein Schicksal zu fügen und holte alles aus meinem Rucksack, was mir in der Nacht helfen konnte.
Ich dachte an die einzig halbwegs vergleichbare Situation, als ich in Ladakh ohne Zelt draußen übernachtet hatte, weil ein Fluss unpassierbar geworden war. Das war auf 4000 Metern gewesen. Doch damals war ich nicht alleine, es hatte kein Schnee gelegen und es war auch nicht feucht. Dies hier war um Leben und Tod.
Nun war ich froh über die Vielzahl an Kleidern, die ich mitgenommen hatte. Vor allem ohne die beiden Dschellaba und den Ahandir, eine schwere Nomadendecke aus einem Ziegen-/Schafswollmix hätte ich keine Chance gehabt. Dazu hatte ich Thermounterwäsche, mehrere T‑Shirts, einen Pullover, eine leichte Jacke, Handschuhe, eine Mütze und drei paar trockene Socken bei mir. Vor allem letzteres schien mir jetzt besonders wertvoll. Endlich trockene Füße! Doch die frischen Socken hielten meine Füße gerade mal 15 Minuten trocken, bevor sich mir der schlimmste Umstand meiner Übernachtung offenbarte: von unten drückte Wasser durch den Fels – wohl auch der Grund, warum hier kein Schnee lag. Schon zog die Feuchtigkeit langsam durch alle meine Kleiderschichten.
Ich konzentrierte mich ganz darauf, innerlich ruhig zu werden. Panik würde innerhalb kürzester Zeit alle verbliebenen Überlebens-Reserven verbrauchen und meinen sicheren Tod bedeuten. Ich hatte etwas Feigenschnaps bei mir. Trank ich den Schnaps auf einen Zug, entschied ich mich für den Tod im Schlaf. So trank ich langsam, Schlückchen für Schlückchen und rauchte einige Zigaretten, um mich runterzubringen und ein Gefühl für die Zeit aufrechtzuerhalten. Dann versagten meine Feuerzeuge und damit wurden Vorräte und Gaskocher unbrauchbar. Wenigstens hatte ich die Nudelsuppe gegessen.
Ich richtete mich noch einmal auf und warf einen Blick auf den erhabenen Sonnenuntergang. Es würde mein letzter sein, dessen war ich mir sicher. Wie sollte ich die nächsten 16 Stunden überleben? Und selbst wenn, die Zeit arbeitete gegen mich. Unter mir verwandelte sich stetig Schnee in Wasser. Nicht mal dieser Hoffnungsschimmer war allzu groß. Es wurde dunkel. Der Moment war gekommen, mich von meiner Existenz zu verabschieden. Es war Neumond und die Sterne funkelten wieder in all ihrer Intensität. Aber ich hatte keinen Blick mehr für den vollkommenen Sternenhimmel über mir. In meinem Inneren war es pechschwarz. Der Sturm gewann an Kraft und die kräftigen Böen erreichten im 5‑Minutentakt mein Sterbelager. Es war unfassbar kalt; noch schlimmer war die Feuchtigkeit und der Wind. Nichtmal in dieser aussichtslosen Situation konnte ich weinen.
Doch trotz meiner aussichtslosen Lage kehrte die Hoffnung noch einmal zurück. In mir erwachte ein Lebenswille, der mich in seiner Intensität überraschte. Ich wollte noch etwas beitragen, etwas schaffen, für etwas kämpfen, vor allem Lieben. Ich wünsche mir sehnlichst einen geliebten Menschen an meine Seite, in meinen Phantasien wärmten wir uns gegenseitig. Es war kein rein egoistisches Überleben-Wollen, sondern vielmehr das Gefühl, das ich noch gebraucht würde, das ich noch etwas zu geben hätte, mein Auftrag auf dieser Erde noch nicht erfüllt war. Ich musste alle mentale Kraft aufwenden, um das innere Feuer zu nähren, das mich vielleicht aus der Dunkelheit retten konnte. Ich versuchte mich mit den Böen anzufreunden, mich ihrem Rhythmus zwischen Wachen und Träumen, zwischen Leben und Tod anzupassen. Ich kam zur Ruhe in dem vollkommenen Bewusstsein, dass ich mich zum Sterben hingelegt hatte und mobilisierte zugleich noch einmal allen inneren Willen, um die minimale Chance wahrzunehmen, die Nacht zu überstehen. Es war ein widersprüchlicher Drahtseilakt: den eigenen Tod akzeptieren und aus dieser Ruhe heraus doch überleben.
Ich driftete immer weiter ab und mein Bewusstsein wurde immer schwächer. Manchmal kamen mir Fetzen aus dem 23. Psalm in den Sinn:
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.«
In der unendlichen Nacht fiel ich immer wieder in kurzen, komatösen Schlaf. Ich war weit weg von allem Irdischen, irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.
Neugeburt
Als ich irgendwann den Ahandir von meinem Kopf zog, war es zu meiner Überraschung schon hell. Ich konnte es kaum glauben: ich hatte die endlose Finsternis überstanden. Noch war es eisig, aber ich wusste, dass ich die Zeit bis zur Ankunft der Sonne überstehen würde. Bald sah ich die ersten Sonnenstrahlen auf einen nahen Gipfel scheinen und ganz langsam übernahm die Sonne wieder das Kommando über die Erde. Das Leben war zurückgekehrt. Das Glücksgefühl ist kaum zu beschreiben. Doch zunächst musste ich hier wieder wegkommen. Meine Versuche wieder in die Schuhe zu steigen, waren aber aussichtslos. Sie waren über Nacht schockgefroren. So erwartete ich geduldig darauf, dass die Sonne mich erreichte und Schuhe und die vollständig mit Wasser aufgesogenen Kleider und die Decke einen Moment trocknen konnten. Trotzdem wog jeder Gegenstand nun das Doppelte.
Im Tageslicht sah mein Übernachtungsort geradezu friedlich aus. Ich war der Dunkelheit entstiegen.
Zu meiner Überraschung funktionierte eines der Feuerzeug wieder und ich machte mir eine Suppe. Ich versuchte aus kleinen Stöckchen ein kleines Feuer zu entzünden, gab es aber bald auf. Meine Zehen waren stark angeschwollen, doch es blieb mir nichts Anderes als wieder in die nassen Socken zu schlüpfen und weiterzugehen. Es würde Wochen dauern, bis sich meine Zehen wieder normal anfühlten. Zunächst rätselte ich noch, ob ich versuchen sollte, einen der beiden Felshänge zu erklimmen, um mir klarzumachen, wo ich mich befand. Dann beschloss ich das einzig Sinnvolle zu tun und zurück nach Ishu Hassein zu laufen. Glücklicherweise war der Fluss nicht noch viel mehr angeschwollen. Den größten Teil der Nacht hatte ich die Beine eng an den Körper gewinkelt; in Kombination mit den Anstrengungen des Vortags konnte ich kaum noch Laufen. Aber ich hatte keine Wahl.
Blick zurück: Auf der linken Flanke des Tals (in der Bildmitte) hatte ich dem Tod wiederstanden.
Ich war vielleicht eine Stunde unterwegs und fragte mich, wie ich völlig entkräftet wieder über den Pass kommen sollte. Ich hatte mir vorgenommen, niemals wieder so etwas alleine zu wagen, zumindest nicht unter solchen Bedingungen. Ich hatte das Schicksal oft genug herausgefordert, genug Grenzgänge unternommen. Ich wollte auch den Ängstlichen in mir mit ins Licht nehmen; er hatte genauso seinen Platz wie der Draufgänger. Ich hatte genug riskiert, es war an der Zeit endlich einmal zur Ruhe zu kommen. Ich wollte nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand. Kein Mensch kann immer kämpfen. Ich wollte Geborgenheit, inneren Frieden und Gleichgewicht finden. Ein neuer Tag, ein neues Leben.
Plötzlich kam mir wie aus dem Nichts ein Berber entgegen. Er war meinen Spuren gefolgt. Ich hatte mir so sehr nach einem Menschen gesehnt, der mir half. Und nun stand er vor mir. Eine Tonne Gewicht fiel von meinen Schultern. Er bot mir an, mir die Route nach Igli zu zeigen und forderte einen staatlichen Geldbetrag dafür. Es war absurd: gerade wäre ich fast gestorben und nun feilschte ich mit ihm über Geld. Meine Verhandlungsposition war zugegeben schlecht; bald wurden wir uns einig und er würde sich sein Geld mehr als verdienen. Bald nahm er mir meinen schweren Rucksack ab, den ich kaum noch schultern konnte. Als wir wieder die Route erreichten, an der ich ins Nichts abgebogen war, sahen wir eine Gruppe von Eseln, die von ein paar Berbern Richtung Ishu Hassein getrieben wurden. Selbst die Esel verweigerten die Gefolgschaft und oft mussten die Führer sie schieben. Sie waren auf dem Weg zurück nach Tagdilt, nachdem alle Touristentouren abgesagt worden waren oder auf schneefreie Korridore ausgewichen waren. Ich war der einzige Ausländer weit und breit und hatte mitten im Schneekorridor übernachtet. Einen unpassenderen Ort für die vergangene Nacht hätte man sich nicht vorstellen können. So erklärte ich es auch meinem Führer. Ich war auf dem Weg von Igna nach Igli. Igna bedeutet auf Taschelheit Himmel.
Trotz des nun viel geringeren Gewichts, war es für mich eine unmenschliche Anstrengung wieder bergauf durch den Tiefschnee zu laufen. Mein unerwarteter Führer trieb mich zwar immer wieder zur Eile, akzeptierte dann aber, dass ich auf Notreserve lief. Schließlich erreichten wir den höchsten Punkt der Wanderung.
Hatte ich auf den Wanderungen in der Dadesschlucht das Bild von den „Stufen zum Himmel“ angenommen, das ich in einer Lektüre über die Berber gefunden hatte, so ging ich diesmal die Stufen vom Himmel herab. Vor uns lag eine schneefreie Ebene. Es erschien mir fast unwirklich.
Nachdem das Ziel direkt vor meinen Augen lag, machte sich mein Begleiter wieder auf den Rückweg und ich stieg scheinbar endlos an mächtigen Tafelbergen entlang ins rettende Tal hinab.
Noch einmal machte ich eine Pause und blickte ungläubig auf die völlig veränderte Landschaft.
Ich sah die ersten Vögel, sie sangen für mich von der Schönheit der Sonne und des Lebens. Erst nachdem ich das Bild der ersten kleinen Gärten ganz in mich aufgesogen hatte, machte ich mich im Dunkel auf die letzten Meter zu einer kleinen Herberge. Nachdem ich mich erstmal hingelegt hatte, konnte ich mich nicht mehr aufrichten. Ich musste zur Wand robben und mich mit aller Kraft gegen die Wand aufstemmen. Als ich mich noch einmal in die Nacht hinausgequält hatte, war ich entsetzt und ungläubig ob der Kälte, der ich in der Nacht zuvor hoch oben in den Bergen im Sturm und durchnässt 16 Stunden lang ausgesetzt war. Wie hatte ich das nur überstehen können?
Am nächsten Tag bewegte ich mich kaum, beschränkte mich auf das Liegen in der Sonne, fühlte mich geerdet wie seit Jahren nicht mehr, wusch meine Kleider und kochte. Es war ein wundervoller Ort, um sich neugeboren zu fühlen. Immer wieder blickte ich auf die Tafelberge, die meinen Weg aus der Schneezone markiert hatten. Fast war ich die Stufen zum Himmel ganz hinaufgestiegen. Es schien völlig absurd, hier in der Sonne zu liegen, umgeben von kleinen Gärten und nur einige Kilometer entfernt den Ort zu wissen, an dem ich gerade erst fast erfroren wäre.
Wie gut rochen die Sträucher und Wildblumen, wie satt leuchtete das Grün der Felder und Gärten, wie hell zwitscherten die Vögel, strahlten die Sonne und der blaue Himmel um die Wette, mundete das Wasser, zirpten die Grillen im Wohlklang. Ich war neugeboren.
Noch immer lagen drei anstrengende Tagesetappen vor mir, die mir alles abverlangten. Einige Impressionen:
Schließlich erreichte ich völlig entkräftet Nekob. Als ich das erste Mal wieder an einer Verkehrsstraße stand, konnte ich den Lärm kaum aushalten, so still war die letzte Woche in der Bergwelt des Saghro gewesen. Für die Menschen hier war der Schnee ein Segen. Die Felder konnten erblühen. Seit acht Jahren hatte es nicht mehr so viel Wasser gegeben.
Der Abschied war standesgemäß; Ich lud Said, einrn Minenarbeiter, der mich auf dem letzten Stück meiner Wanderung begleitet hatte, in ein Teehaus ein. Es wurde ein großartiger Abend. Ich lief noch einmal zu großer Form auf und machte alles aus meinem Mini-Wortschatz und meinem theatralischen Talent. Als wir zu später Stunde durch die Straßen des Ortes schlenderten, saß vor einem kleinen Laden ein junger Mann der „Imgoune Life“ auf der Gitarre spielte, einen rebellischen Freiheitssong der Berber. Neben einigen Stücken aus dem „into the wild“-Soundtrack war dies das einzige Musikstück, das mich schon lange, vor allem aber auf der Wanderung durch den Saghro begleitet hatte. Es war zu schön, um wahr zu sein. So schien das letzte Abenteuer meiner Reisen zu Ende zu gehen. Ich würde weiter über das Karussell des Lebens schleudern. Ich war noch nicht am Ende angekommen.
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Hallo,
das sind sehr schöne Bilder von den Bergen .Nur wenn man nicht weis was Du da fotografiert hast geht man weiterhin Blind durch das Leben. Ich nenne deine Berge jetzt mal Baumstümpfe oder besser der versteinerte Rest vom Baum.Es lässt sich nicht in Worten wiedergeben wie man uns belogen hat.Suche alle Bilder von den versteinerten Bäumen,alle sind geschnitten 😉 Nur wer schaffte das vor oder nach der Versteinerung! Alles Gute.Der Mensch muss wieder zurück zur Natur.9 Millionen Hexen starben nicht wegen der Inqisition sondern weil es das Natur Volk war.Gedanken erschaffen die Realität ( Bedingt durch gesunde Ernährung ohne Genmanipulation )und genau das ist die Macht vor der die Herrscher sich fürchtenHallo Oleander,
Danke für Deine Antwort. Da Deine Geschichte eher wie eine 8000er-Besteigung klingt, hoffe ich, dass sich niemand davon abschrecken lässt, diese durchaus »normale« und problemlos durchführbare Trekkingtour zu einer geeigneten Reisezeit (und mit Karte oder Führer) zu unternehmen 😉
Viele GrüßeSorry Oleander, aber über diesen Beitrag musste ich mich als Marokko-Kennerin und Bergsteigerin doch recht ärgern. Zum einen wimmelt es an maßlosen Übertreibungen (»Im Sommer wimmelt es an Kobras und Schlangen«, in einem Absatz sind es 25 kg im Rucksack, im nächsten 30 kg). Zum Anderen gerät man auch auf jedem einfachen Voralpengipfel in Bayern in die »Todesfalle«, wenn man bei Schlechtwetter ohne Orientierungssinn (oder ‑hilfen) aufbricht, mit einer Djellabah und Wolldecken als Ausrüstung statt ordentlicher Funktionsklamotten und einem Zelt. Vom Dj. Saghro gibt es eine deutsche Trekkingkarte, außerdem kann man sich für ein paar Euro am Tag einen ortskundigen Mulitreiber oder Guide anmieten – wenn man schon den Kontakt zu den Einheimischen so betont, wäre es doch eine gute Sache, ihnen ein bisschen Einkommen zu sichern. Ich bin die Durchquerung mehrmals gelaufen – eine der schönsten Gegenden in Marokko.
Hallo Astrid!
Zunächst vielen Dank für Deine Rückmeldung! Zu Deinen Anmerkungen: Die Aussage über die Kobras und Schlangen habe ich häufig von Einheimischen gehört und übernommen, da ich den Saghro im Sommer selbst noch nicht durchwandert habe. Die Diskrepanz bei den Gewichtsangaben resultiert daraus, dass ich unterwegs Proviant verbraucht habe. Ansonsten trifft mich der Vorwurf der maßlosen Übertreibungen nicht; das habe ich wirklich nicht nötig.
Selbstverständlich kann ich Anderen nur empfehlen, einen Führer zu nehmen. Ich habe aber auch Niemanden ermuntert, ähnlich unkalkulierbare Risiken auf sich zu nehmen – im Gegenteil. Ich habe nur von meinen persönlichen Erfahrungen berichtet und beschrieben, was mich antreibt und welche Dynamik sich unterwegs entwickelt hat.
Ein Zelt hätte mir in dieser Situation nichts genutzt. Ich denke nach wie vor, dass die beiden Dschellaba und der Ahandir in Kombination mit der Funktionsunterwäsche das Beste war, was ich bei mir tragen konnte – zumal ich wie ein Einheimischer unterwegs sein wollte. Gefehlt hat mir am meisten eine Plastikplane.
Keinen Führer zu nehmen war eine bewusste Entscheidung – ich wollte unbedingt alleine gehen, um die unmittelbare Naturerfahrung ganz in mich aufzunehmen – das ist meine Form der Meditation und Selbsterfahrung – genährt von vergleichbaren Wanderungen im Himalaja. Die Einheimischen unterstütze ich auf andere Weise.
Dennoch ist mir bewusst, dass man mein Abenteuer als reine Fahrlässigkeit werten kann und darf – da stehst Du mit Deiner Einschätzung sicher nicht alleine. Für mich sind solche Grenzerfahrungen existentiell wichtig; diese führte mich weiter als mir lieb sein konnte, aber am Ende habe ich nur mein eigenes Leben gefährdet und Niemanden sonst. Ich bin weder großer Marokko-Kenner, noch Bergsteiger oder Reisejournalist. Ich berichte von meiner existentiellen Suche und wohin sie mich führt.
In diesem Sinne liebe Grüße!
Oleander
Wow, wahnsinns Abenteuer!
Die Fotos finde ich richtig super, Respekt!
Liebe Grüße,
SabineHerzlichen Dank, Sabine! Liebe Grüße zurück! Oleander
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