Die Gezeiten von Ankunft und Abschied

Rhyth­men dik­tie­ren unser Leben. Früh­ling, Som­mer, Herbst und Win­ter. Früh­stück, Mit­tag­essen, Abend­brot. Arbei­ten, Wochen­en­de, Arbei­ten, Wochen­en­de. All die­se Rhyth­men haben wir zurück­ge­las­sen (so, wie man das mit 2 klei­nen Kin­dern eben kann), um uns einer neu­en Kraft zu unter­wer­fen: der magi­schen Anzie­hung von Ankunft und Abschied.

Wir haben uns ver­ab­schie­det. Von unse­ren Jobs, von den Nach­barn und der Spra­che, die wir so gut ken­nen. Seit einem Monat waren wir nicht mehr fest ver­wur­zelt in einem All­tag in einem beschirm­ten Euro­pa, son­dern haben zwei gros­se Ruck­sä­cke gepackt, unse­re bei­den blon­den Mäd­chen, andert­halb und vier Jah­re alt, an die Hand genom­men und sind in den nächs­ten Zug gestie­gen. In die Unge­wiss­heit. Es ist Som­mer 2019 und das Leben ist unbe­schwert. Jede Men­ge Zug­fahr­ten und einen Flug spä­ter saßen wir in unse­rem neu­en Aben­teu­er, das sich noch etwas zu groß anfühl­te. So, als wür­den die Ärmel die gan­ze Zeit über die Hän­de rut­schen, weil man die Jacke von irgend­je­man­dem aus­ge­lie­hen hat. Es war aber irgend­wie unser neu­es Leben, das wir auf unbe­stimm­te Zeit mit unbe­stimm­ten Ziel füh­ren wür­den. In das wir hin­ein­wach­sen woll­ten.

Und des­halb sit­zen wir jetzt in Geor­gi­en auf einer Ter­ras­se mit wahn­sin­ni­gem Aus­blick auf die kau­ka­si­schen Ber­ge und schau­en in die unbe­stimm­ten Wol­ken. Wir hat­ten ja kei­ne Ahnung, wie Geor­gi­en so ist und wis­sen es auch nach zwei Wochen noch nicht. Wir sind ein­fach drauf los, ohne uns stun­den­lang durch den Blog­ger­him­mel von Trek­kern und Tou­ris­ten zu lesen, ohne die zwan­zig wich­tigs­ten Phra­sen auf Geor­gisch auf Zet­tel notiert zu haben. Irgend­wie haben wir es trotz­dem geschafft, ein­mal quer durch das Land zu rei­sen, und jede Men­ge aber­wit­zi­ge, inti­me und her­aus­for­dern­de Begeg­nun­gen zu haben.

Da war die Kin­der­ärz­tin und ihr Mann, die uns in ihrem barock ein­ge­rich­te­ten Haus förm­lich und auf­ge­regt als AirBnb-Gäs­te will­kom­men hie­ßen, um uns spät­abends „auf einen Kaf­fee“ ein­zu­la­den. Zum Glück spricht mein Mann flie­ßend Rus­sisch, und so wur­de aus dem kur­zen Kaf­fee­plausch um elf Uhr abends ein rau­schen­der Abend mit Wein, Mit­ter­nachts­snack und hit­zi­gen Dis­kus­sio­nen über Poli­tik, Gott und die Beschaf­fen­heit von Teig­ta­schen.

Da war die Kat­zen­frau Mate an der Stra­ße in Tbi­li­si, die mit ihrem Tier auf dem Schoß um Geld bet­tel­te. Irgend­wie hat­te sie einen Nar­ren an unse­rer blon­den Toch­ter gefres­sen, und jedes Mal, wenn wir unser Hos­tel ver­lie­ßen, zog sie unser Kind magisch an. Die bei­den ver­band eine stum­me Lie­be, es ging um die Kat­ze, und da half es auch nicht, dass wir ger­ne wei­ter gehen woll­ten, um Bur­gen oder Muse­en oder Spiel­plät­ze zu besich­ti­gen. Mate und die Kat­ze und unse­re Toch­ter, die stan­den stumm da und lieb­kos­ten sich gegen­sei­tig. Geld und Zeit waren Begrif­fe, die in die­sem Moment an die­ser Stra­ßen­ecke kei­ne Rol­le spiel­ten.

Da war der deut­sche Geor­gi­er, der uns auf dem Hin­flug ansprach. Er prahl­te auf Deutsch damit, was für ein schö­nes Haus mit Pool er sich in sei­ner Hei­mat mit dem Geld erbaut hat, dass er in Bie­le­feld ver­dient. Und dass er uns ger­ne ein­la­den wür­de. Als wir eini­ge Zeit spä­ter nicht wuss­ten, wohin, mel­de­ten wir uns bei Vaz­ha. Und lan­de­ten tat­säch­lich in sei­nem Haus (mit auf­blas­ba­rem Schwimm­be­cken) und stell­ten fest, dass wir bes­ser mal Vaz­has Frau gefragt hät­ten, ob wir kom­men dürf­ten. Denn die bei­den hat­ten gera­de erbit­ter­ten Streit und war­fen sich hin­ter ver­schlos­se­nen Türen geor­gi­sche Schimpf­wor­te an den Kopf. Wäh­rend mein Mann mit Vaz­ha los­zog, um ande­re Män­ner zu tref­fen, die über ihre Scharf­schüt­zen­ge­weh­re und Bären­tro­phä­en und ihren täg­li­chen Wod­ka­kon­sum prahl­ten, saß ich mit einer schlecht gelaun­ten Ehe­frau in einem lee­ren Haus.

Die letz­ten Wochen waren ein ein­zi­ges Aben­teu­er. Da waren tro­pi­sche Regen­güs­se an der Schwarz­meer­küs­te, wo sich der Regen mit dem Schweiß ver­mischt, da waren stun­den­lan­ge Bus­fahr­ten durch die Step­pe, ran­zi­ges Hos­tel in einem Hin­ter­hof in Tbi­li­si, Milch kau­fen für die Klei­ne am nächs­ten Kiosk. Wie­der Bus­fahrt, wie­der Ankom­men, wie­der Milch. Die vie­len Wech­sel und Rei­se­ab­schnit­te reih­ten sich ein in den Wel­len­gang des »Hal­lo und Auf­wie­der­se­hens«. Und so lang­sam lern­ten wir, auf den Wel­len zu rei­ten ohne her­un­ter­zu­fal­len.

Am Anfang jeder Rei­se steht die Ankunft. Wir reis­ten nach alter Back­pa­cker-Manier mit dem öffent­li­chen Ver­kehr – auch mit zwei klei­nen Kin­dern. Das bedeu­tet am Kau­ka­sus vor allem: Marsch­rout­ka. Das ist so ziem­lich das Bes­te, was die Sowjet­uni­on an Errun­gen­schaf­ten her­vor­ge­bracht hat. Ein aus­ge­klü­gel­tes Sys­tem von pro­fes­sio­nell umge­bau­ten Lie­fer­wa­gen, oft mit Schrift­zü­gen wie »Meis­ter Ehr­hardt – Ihr Elek­tro­fach­mann in Wer­ni­ge­ro­de“ ver­ziert, die 10–15 Pas­sa­gie­re auch über gro­ße Distan­zen güns­tig trans­por­tie­ren. Wir saßen schon in Marsch­rout­kas in Make­do­ni­en und Tadschi­ki­stan, und durf­ten uns jetzt von den Fahr­küns­ten der geor­gi­schen Fah­rer (ich sage nur: dra­ma­tisch) über­zeu­gen. Noch mach­te es uns Spaß, die schwat­zen­den Groß­müt­ter und schwei­gen­den Jugend­li­chen neben uns zu beob­ach­ten, mit den Kin­dern aus dem Fens­ter zu schau­en und sie dann auch mal am iPad spie­len zu las­sen und selbst ein­fach die Lethar­gie des Durch­die­welt­ge­tra­gen­wer­dens zu genie­ßen. Aber nach eini­gen Stun­den tat der Hin­tern dann doch weh, und wir kamen ver­schwitzt und mit stei­fen Glie­dern an.

Ankom­men. Den schwe­ren Ruck­sack able­gen. Die stau­bi­gen Füs­se waschen. Das Zim­mer im Guest­house begut­ach­ten, die Milch in den Kühl­schrank stel­len. Für unse­re Kin­der bedeu­te­te eine neue Unter­kunft erst ein­mal: ent­de­cken. Sie woll­ten jede Schub­la­de, jede Steck­do­se ein­mal anfas­sen, ein­stöp­seln, begut­ach­ten. Auf alles ein­mal drauf­hüp­fen um zu tes­ten, ob es tram­po­lin­taug­lich ist.

Das funk­tio­nier­te in Geor­gi­en, wo vie­le Sofas, Trep­pen­ge­län­der und Schrank­tü­ren grund­sätz­lich eher fra­gil sind, lei­der nicht so gut. Und des­halb war das die anstren­gends­te Zeit in unse­rem Wel­len­gang der Rei­se. Weil wir als Eltern jedes Mal unser Revier neu mar­kie­ren muss­ten. „Das ist das Klo. Nein, das musst du nicht anfas­sen.“ „Wo hast du die Fern­be­die­nung gefun­den? Hast du die kaputt gemacht, oder hat die vor­her schon nicht funk­tio­niert?“  Beson­ders erfreut waren wir über die geor­gi­sche Bau­be­hör­de, die ihren Bür­gen größt­mög­li­che Frei­heit bei der Wahl von Bal­kon­git­tern zuge­steht. Vie­le Ter­ras­sen waren für uns unzu­gäng­lich. Ande­re Län­der, ande­re Sit­ten. Unse­re Sit­te hier: Fin­ger weg vom Bal­kon.

War das neue Ter­rain erkun­det, dann folg­te die Heim­pha­se. Wir lern­ten immer mehr den Ort ken­nen, fan­den den Weg zu unse­rer Unter­kunft auch im Dun­keln. Es stand immer der glei­che Stra­ßen­hund an der Ecke, und wir wuss­ten irgend­wann, in wel­chem Kiosk es die bes­ten Pfir­si­che gab. Wir freu­ten uns an urchigen Häu­sern, schos­sen unglaub­lich vie­le Bil­der von Ber­gen, und schlen­der­ten ein­fach so her­um, wie das Men­schen, die nichts zu tun haben, so machen. Meis­tens haben wir dann dadurch auch tol­le Leu­te ken­nen­ge­lernt. Es war nicht schwer, net­te Men­schen in Geor­gi­en ken­nen­zu­ler­nen. Sie stan­den manch­mal neben Stra­ßen­hun­den an Stra­ßen­ecken und manch­mal luden sie uns auch ein.

Der Taxi­fah­rer, der Gebraucht­wa­gen aus Deutsch­land impor­tier­te und froh war, sein Deutsch mal wie­der in den Mund zu neh­men. Die älte­re Tages­mut­ter, die mit zwei klei­nen Kin­dern auf dem Spiel­platz tob­te und sich ger­ne an ihre Zeit als jun­ge Mama erin­ner­te. Die Opas, die im Park einen vier­stim­mi­gen Cho­ral anstimm­ten und uns auf einen Schnaps ein­lu­den.

Unse­re zwei klei­nen blon­den Mäd­chen beka­men eigent­lich immer etwas geschenkt, sei es ein ver­schwitz­tes Bon­bon oder ein Plas­tik­spiel­zeug. In der Heim­pha­se spie­len sie ent­spannt und ver­tieft in Hin­ter­hö­fen und Gär­ten. Mit­tags ist es sehr heiß, da geht kaum jemand auf die Stra­ße und wir auch nicht. Dafür sind abends, wenn nach guter mit­tel­eu­ro­päi­scher Tra­di­ti­on Klein­kin­der im Bett sein soll­ten, die Stra­ßen und Restau­rants vol­ler schwat­zen­der Men­schen. Der Spiel­platz quillt über in der Dun­kel­heit. Wir lie­gen dann manch­mal schon mit schnar­chen­den Kin­dern im Bett, am Han­dy die nächs­te Desti­na­ti­on suchend.

Irgend­wann kam der Abschied. Wir pack­ten rou­ti­niert unse­re Ruck­sä­cke und schau­en wie die Spür­hun­de unters Bett und hin­ter das abge­wetz­te Sofa. Zu groß war unse­re Angst, dass wir etwas Wich­ti­ges ver­ges­sen hat­ten. Bei einem Gast­ge­ber hat­te unse­re jüngs­te Toch­ter anschei­nend unbe­ob­ach­tet mit unse­rem Geld­beu­tel gespielt und fünf­zig Euro unter dem Kis­sen ver­steckt. Er hat­te es spä­ter gefun­den und uns infor­miert. Sol­chen net­ten Men­schen muss­ten wir immer wie­der Tschüss sagen, und gin­gen doch ger­ne immer wie­der wei­ter. Denn wir waren nicht zu Hau­se, unser Lebens­mot­to war Neu­gier.

Seit wir unter­wegs waren, waren die Wel­len von Ankom­men und Weg­ge­hen eher stür­misch. Hoch und hek­tisch. Nach eini­gen Wochen woll­ten wir ein­fach mal ankom­men auf der Rei­se und unse­re Kör­per ein­ho­len. An einem Ort län­ger sein als nur zwei oder drei Näch­te. Mehr als ein Gemein­schafts­bad und ein win­zi­ges Zim­mer­chen haben. Das stell­te sich als gar nicht so ein­fach her­aus, denn wir waren gera­de irgend­wo in Kak­he­ti­en, und hier gab es ent­we­der bit­ter­ar­me Dör­fer oder stein­rei­che Wein­gü­ter, und unse­re Chan­cen, eine ein­fa­che klei­ne Woh­nung zu fin­den, stan­den rela­tiv schlecht. Wir frag­ten Vaz­ha. Und Vaz­ha sag­te: „Sigh­naghi.“

Und so fuh­ren wir – mit der Marsch­rout­ka – durch son­nen­ver­wöhn­te Wein­ber­ge nach Sigh­naghi. Wir fuh­ren durch Lehm­dör­fer mit Hüh­nern auf der Stra­ße und lan­de­ten in einer fest­li­chen klei­nen Klein­stadt, die wie aus dem Ei gepellt aus­sah. Das hat­te sei­nen Grund, weil zeit­gleich mit uns eine Hor­de Back­pa­cker, jede Men­ge Asia­ten und Inder die Stadt bevöl­ker­ten. Sigh­naghi war das Schloss Neu­schwan­stein von Geor­gi­en.

Wir hat­ten kei­ne Mühe, ein Zim­mer in einer Pen­si­on zu fin­den. Es war mit­ten im Wald und von außen war das Haus nicht von den vie­len Bau­rui­nen zu unter­schei­den, aber die zwei Frau­en, die es betrie­ben, hat­ten es sau­be­rer geputzt als jedes 5‑S­ter­ne-Hotel in Zer­matt. Wir genos­sen es, eine funk­tio­nie­ren­de eige­ne Dusche zu haben, und über­leg­ten, wie es jetzt wei­ter­geht. Feri­en­woh­nun­gen in die­ser Stadt waren völ­lig über­teu­ert und auch schon alle von den Indern aus­ge­bucht. Nein, es wür­de wohl wie­der ein guest­house sein, also ein Zim­mer bei einer ein­hei­mi­schen Fami­lie. Wir such­ten online ein paar Ange­bo­te her­aus, und beschlos­sen, die­se ein­fach nach­mit­tags zu Fuß abzu­gra­sen. Am bes­ten gefie­len uns die Fotos von einer gewis­sen Nani, die ein Zim­mer in ihrem klas­sisch ein­ge­rich­te­ten Haus ver­mie­te­te. Unse­re Kin­der muss­ten ihre Son­nen­hü­te anzie­hen, und nach der gro­ßen Hit­ze stapf­ten wir durch die Kulis­se der Stadt. Nanis Adres­se führ­te uns laut Goog­le Maps aus dem Ort raus in den Wald. Wir wan­der­ten unter zir­pen­den Vögeln und dunk­len Tan­nen, und san­gen wohl so etwas Kit­schi­ges wie „Das Wan­dern ist des Mül­lers Lust“. Dann erzähl­ten wir uns Geschich­ten von Con­ni, die eine Wan­de­rung macht, und wie sie einen klei­nen India­ner­jun­gen ken­nen­lernt. Und nach gut andert­halb Stun­den sag­te Goog­le Maps, dass wir jetzt bei dem besag­ten Gäs­te­haus ange­kom­men sei­en. Goog­le Maps ist ein Arsch­loch. Wir stan­den vor einem Baum, kein Haus weit und breit. Wir Erwach­se­nen schau­ten uns lan­ge an und führ­ten ein stum­mes Streit­ge­spräch mit den Augen. Zwei Klein­kin­der fin­gen wie auf Knopf­druck an zu wei­nen. „Wisst ihr was, da vor­ne ist ein Klos­ter. Da woll­te Con­ni doch auch hin. Kommt, wir gehen mal gucken, ob es dort einen India­ner gibt.“ Und so taps­ten wir aus dem Wald, und an der Bun­des­stra­ße wei­ter, einem Ein­trag bei Goog­le Maps fol­gend. Rei­se­bus­se vol­ler Tou­ris­ten ras­ten knapp an uns vor­bei. Der ein oder ande­re Stra­ßen­hund floh vor unse­rer schlech­ten Aura.

Das Klos­ter war eben­falls Teil der Neu­schwan­stein-Kulis­se. Sie konn­te sich durch­aus sehen las­sen, die­se Kulis­se: Der Blick über ein wei­tes, frucht­ba­res Tal, umrahmt von schnee­be­deck­ten Ber­gen. Das Klos­ter war erst vor kur­zem kom­plett restau­riert wor­den, damit noch mehr korea­ni­sche Rei­se­grup­pen und deut­sche Rent­ner her­kom­men konn­ten. Wir saßen vor der Kulis­se auf einem Mäu­er­chen, beob­ach­te­ten Non­nen, die Kühe auf die Wei­den trie­ben, und nag­ten an unse­rem Keks­vor­rat. Mein Mann und ich führ­ten wie­der die­sen stum­men Dia­log, der nur mit Bli­cken aus­kommt.

„Was sol­len wir denn machen? Mor­gen früh müs­sen wir aus der Pen­si­on raus, alle Zim­mer sind aus­ge­bucht. Es wird schon lang­sam Abend, und wir haben noch nicht ein Gäs­te­haus besich­tigt.“

„Naja, sonst neh­men wir halt irgend­eins.“

„Spinnst du? Wir suchen ein Haus, in dem wir wochen­lang blei­ben wol­len. Da muss man schon vor­her wenigs­tens ein­mal rein­ge­schaut haben!“

„Das weiß ich doch auch! Aber wie sol­len wir jetzt sowas fin­den? Wir sind mit­ten im Wald in einem Klos­ter, und bis wir zurück­ge­lau­fen sind, ist es dun­kel und die Kin­der schrei­en vor Hun­ger!“

„Es ist alles dei­ne Schuld. Ich habe gleich gewusst, dass Goog­le Maps…“

„Hör auf!“

Und so mach­ten wir uns wie­der auf den Heim­weg, jeder ein Kind auf den Schul­tern. Auch die Tou­ris­ten­bus­se kehr­ten zurück, und streif­ten uns fast. Wir hat­ten eine wun­der­schö­ne Sicht auf die Klein­stadt, sie lag vor uns wie im Mär­chen, umge­ben von Wald und Wie­sen. Und wir hat­ten kei­ne Lust, dort­hin wie­der zurück­zu­keh­ren, es wim­mel­te von Tou­ris­ten und das war das Letz­te, was wir woll­ten. Wir such­ten ein­fach ein ruhi­ges Plätz­chen, an dem wir unse­re Schu­he aus­zie­hen und ein­fach in Geor­gi­en ankom­men konn­ten.

Kurz vor dem Städt­chen ging eine Abzwei­gung den Berg hin­auf. Anstatt schnur­stracks zurück zu lau­fen, sahen wir uns kurz an, und bogen dann ab. Es ging steil den Berg hin­auf, und es war nicht ersicht­lich, ob das jetzt ein Feld­weg war oder eine rich­ti­ge Stra­ße. Goog­le Maps sag­te, es soll­te dort oben Häu­ser geben, aber auf Goog­le Maps reagier­te ich mitt­ler­wei­le wie auf You­Tube-Vide­os über Chem­trails. Doch tat­säch­lich erschien irgend­wann ein bewohn­tes Haus, und dann noch eines. Wir wur­den von neu­gie­ri­gen Kin­der­au­gen zwi­schen Zaun­lat­ten beäugt. Mein Mann rief auf Rus­sisch, ob es hier ein Gäs­te­haus gäbe. Ein Mann in Unter­hemd und Jog­ging­ho­se erschien auf einer Ter­ras­se, die eher einer Bau­stel­le glich, und wink­te uns in Rich­tung eines Feld­we­ges. Er mein­te, es sei das letz­te Haus dort. Also lie­fen wir wei­ter. Die Stra­ße ende­te an einem ver­ros­te­ten alten Tor, und zunächst hör­te nie­mand unser Klop­fen. Dann kam sie, die alte gebück­te Frau. Sie heis­se Nani und ja, sie habe seit kur­zem zwei Zim­mer zum Ver­mie­ten ins Inter­net gestellt. Oder bes­ser gesagt, ihr Sohn habe das gemacht. Wir gin­gen mit ihr rein und staun­ten nicht schlecht: Es war genau das Zim­mer, das wir im Inter­net gese­hen hat­ten und anschau­en woll­ten. Das Zim­mer war frisch reno­viert, das Bade­zim­mer ein­fach, die Ter­ras­se rie­sig und (!) das Gelän­der kin­der­si­cher, wir durf­ten ihre Küche und Wasch­ma­schi­ne mit­be­nut­zen. Wir sag­ten sofort zu, und am nächs­ten Tag brach­te uns ein Taxi mit unse­rem Gepäck zu Nani. Wir blie­ben fast 3 Wochen bei ihr, und es hät­te schö­ner nicht sein kön­nen.

Nani bekocht uns mit ein­ge­leg­tem Gemü­se, Kräu­ter­sup­pen und Boh­nen­ein­topf, und unse­re Kin­der hei­tern die fri­sche Wit­we auf. Wir genies­sen die ruhi­gen Stun­den auf der rie­si­gen Ter­ras­se, und ler­nen Nanis Enkel und Fami­lie ken­nen, die die Som­mer­fe­ri­en eben­falls hier ver­brin­gen. Sie erzäh­len uns von ihrem Leben, und wir von unse­rem, und dann sit­zen wir stun­den­lang schwei­gend und zufrie­den gemein­sam um den Holz­ofen und kau­en an fri­schem Brot, das Nani zele­briert wie die hei­li­ge Hos­tie, mit andäch­ti­gem Gesicht.

Wir wer­den noch mehr­mals durch den Wald stap­fen, und doch immer wie­der den Weg zurück­fin­den. Wir sehen Neu­schwan­stein aus der Fer­ne, und doch sind wir so weit weg von dem Tru­bel, wie wir es uns gewünscht hat­ten. Sigh­naghi, die geor­gi­sche Stadt der Lie­be und der Aus­sicht, liegt ruhig da wie in einem glat­ten Meer aus Wol­ken. Und wir wis­sen, wenn die nächs­te Wel­le kommt, stür­zen wir uns vol­ler Kraft wie­der hin­ein.


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