Es gibt Filme, die einem das Herz bre­chen. „Lilja 4‑ever“ aus dem Jahr 2002 ist so einer. Er erzählt die Geschichte der 16-jäh­ri­gen Lilja, die in einem trost­lo­sen Vor­ort irgendwo in der ehe­ma­li­gen Sowjet­union lebt und von einer glück­li­che­ren Zukunft träumt. Das Mäd­chen wird jedoch nach­ein­an­der von fast allen Men­schen um sich herum im Stich gelas­sen und schließ­lich als Zwangs­pro­sti­tu­ierte nach Schwe­den ver­schleppt. Erst vor ein paar Tagen habe ich das Drama gese­hen, jemand hat es in vol­ler Länge bei You­Tube hoch­ge­la­den. Lange hat mich nichts mehr so fer­tig gemacht.

Dreh­ort vie­ler Sze­nen war Pal­di­ski, eine Hafen­stadt im Nord­wes­ten von Est­land. Hier fand der schwe­di­sche Fil­me­ma­cher Lukas Moo­dys­son die pas­sende Kulisse für Lil­jas zutiefst depri­mie­rende Hei­mat. Durch einen Zufall habe ich die Stadt im ver­gan­ge­nen Som­mer von Tal­linn aus besucht.

Ausflug in eine andere Welt

Von Tal­linn tren­nen die Stadt nur 45 Kilo­me­ter und doch lie­gen Wel­ten zwi­schen bei­den Orten.

In der Alt­stadt von Tallinn

Tal­linn ist makel­los, könnte man fast mei­nen. Bei unse­rem Zwi­schen­stopp auf dem Weg nach Finn­land sind mein Freund und ich beein­druckt von Est­lands moder­ner Haupt­stadt. Blitz­blank und auf­ge­hübscht prä­sen­tiert sich nicht nur das mit­tel­al­ter­li­che Zen­trum: Zwi­schen Alt­stadt und Hafen liegt das Roter­mann-Vier­tel mit sei­nem Mix aus restau­rier­ten Back­stein­ge­bäu­den und futu­ris­ti­schen Bau­ten aus Glas und Stahl. Und dann ist da noch die „Tel­li­skivi Crea­tive City“, genau wie Roter­mann ein auf Vor­der­mann gebrach­tes ehe­ma­li­ges Fabrik­ge­lände, nur alter­na­ti­ver: Street Art ziert die Wände, Gale­rien stel­len Fotos aus, Desi­gner las­sen sich in ihren Stu­dios über die Schul­ter gucken.

Auf dem Tel­li­skivi Crea­tive Campus
Im Roter­mann-Vier­tel

So vie­les in Tal­linn ist neu, durch­dacht, urban und hip, dass uns das Fol­gende nicht über­rascht: Est­land, heißt es in den Medien, lebe vom „Skype-Effekt“. 2003 wurde der Mes­sen­ger Skype von zwei Esten pro­gram­miert und spä­ter mil­li­ar­den­schwer ver­kauft. Das hat dem Land sein fort­schritt­li­ches Image beschert und jede Menge Start-up-Fir­men ange­zo­gen – so viele, dass der Bal­ten­staat mitt­ler­weile den Bei­na­men „Sili­con Val­ley von Europa“ trägt.

Est­land, fast 50 Jahre lang von der Sowjet­union besetzt und erst seit 2004 EU-Mit­glied, hat den Anschluss an den Wohl­stand gefun­den. Das ist der Ein­druck, mit dem wir die Haupt­stadt ver­las­sen. „Na ja“, sagt zwei Tage spä­ter eine Freun­din aus Hel­sinki, deren Eltern in Est­land leben. „Das täuscht. Fahrt mal an den Stadt­rand von Tal­linn. Oder noch bes­ser: Fahrt nach Pal­di­ski!“, rät sie uns und wenig spä­ter kom­men wir vom Thema ab.

Fast 50 Jahre Sperrgebiet

Den Orts­na­men mer­ken wir uns trotz­dem. Als wir auf der Rück­reise wie­der ein paar Tage in Tal­linn ver­brin­gen, machen wir uns auf den Weg in die Stadt auf der Pakri-Halbinsel.

Was wir noch nicht wis­sen: Die rus­si­sche Beset­zung hat wohl kei­nen Ort so stark und nach­hal­tig geprägt wie die­sen. Die Hafen­stadt war ein bedeu­ten­der Mili­tär­stütz­punkt, an dem Streit­kräfte für ihren Ein­satz in Atom-U-Boo­ten trai­nier­ten. Wäh­rend der Sowjet-Zeit war die Region weit­räu­mig mit Sta­chel­draht umzäunt. Nie­mand kam hin­ein, nicht ein­mal Regie­rungs­ver­tre­ter hat­ten Zutritt und Bewoh­ner, die die Sperr­zone ver­las­sen woll­ten, brauch­ten dafür eine Son­der­ge­neh­mi­gung. Bis zu 16.000 Sol­da­ten waren in Pal­di­ski sta­tio­niert. Als die letz­ten Trup­pen Mitte der 90-er Jahre abzo­gen, sank die Ein­woh­ner­zahl auf 4.000.

Plattenbauten, nichts als Plattenbauten

Die Bus­fahrt dau­ert eine Stunde. Als wir ankom­men, fühle ich mich sofort in meine Kind­heit zurück­ver­setzt. Plat­ten­bau­ten, nichts als Plat­ten­bau­ten erhe­ben sich zu allen Sei­ten. Die Gegend hat Ähn­lich­keit mit dem Neu­bau­vier­tel, in dem ich im Osten Deutsch­lands vor der Wende groß gewor­den bin: Schön­walde II heißt der Stadt­teil von Greifs­wald, in dem ich in den Acht­zi­gern in den Kin­der­gar­ten gegan­gen bin und nach­mit­tags mit den Nach­bars­kin­dern auf dem Hof zwi­schen den Blö­cken gespielt habe. So ver­traut der Anblick der gleich­för­mi­gen Wohn­käs­ten mir des­halb auch ist, ermü­dend finde ich ihn den­noch. Immer­hin ist das Wet­ter heute freund­lich, die Sonne hält die Tris­tesse in Schach.

Ziel­los lau­fen wir durch die stil­len Stra­ßen. Viele Woh­nun­gen ste­hen leer, Fas­sa­den sind fle­ckig und stel­len­weise abge­brö­ckelt, Fens­ter­rah­men morsch. Zwi­schen eini­gen Häu­sern wuchern Gras und Büsche so wild, als wolle die Natur sich wie­der­ho­len, was ihr gehört.

Es gibt ein Pub, das mich wegen sei­nes hell­blauen Anstrichs an eine Schwimm­halle erin­nert, eine eigens aus­ge­schil­derte Filiale der est­ni­schen Kette „Pee­tri Pizza“, einen Super­markt und ein alt­ba­cke­nes Kauf­haus. Und dann ist da noch die­ser gelbe Flach­bau mit dem zer­bro­che­nen Ein­gangs­schild über der Tür und den kind­li­chen Zeich­nun­gen von Eis, Bur­ger, Pom­mes und Cola in den Fens­tern. Der Laden, wohl eine Art Imbiss, muss schon lange dicht sein, glaube ich zuerst. Als ich vor­sich­tig die Tür öffne, erschre­cke ich ebenso wie die Frau, die in der Mitte des gro­ßen Rau­mes steht und mir eine Sekunde spä­ter auf­mun­ternd zunickt. Statt ein­zu­tre­ten und mich umzu­se­hen, viel­leicht sogar etwas zu kau­fen, ent­schul­dige ich mich feige und ver­ab­schiede mich schnell.

Die Ver­käu­fe­rin ist einer von nur weni­gen Men­schen, die uns bis­her hier begeg­net sind. Erst am Nach­mit­tag neh­men wir Leben um uns herum wahr, wenn auch ver­ein­zelt: Vor meh­re­ren Haus­ein­gän­gen sit­zen Nach­barn auf Cam­ping­stüh­len in der Sonne und klö­nen, ein paar Kin­der fah­ren Rad. Auch wenn es an einem Ort wie die­sem wohl dem Kli­schee ent­sprä­che, nie­mand hier mus­tert uns skep­tisch. Eine viel­leicht 50-jäh­rige Frau in Kit­tel­schürze zeigt uns spä­ter an der Hal­te­stelle den rich­ti­gen Bus zurück nach Tal­linn. Sie spricht Rus­sisch, wie die meis­ten hier. Mit Hilfe einer Über­set­zungs-App erzäh­len wir ihr, dass wir aus Deutsch­land und aus Nepal kom­men. Sie lächelt, deu­tet erst auf sich und dann zum Boden: Sie kommt von hier, aus Pal­di­ski. Ich bedaure, dass ich kein Rus­sisch verstehe.

Ein Muss: Einmal auf den Pakri-Leuchtturm

Je län­ger wir blei­ben, umso mehr Mühen erken­nen wir, den Ort in eine lebens­werte Klein­stadt zu ver­wan­deln. Längst nicht alle, aber viele Miets­häu­ser sind saniert und bunt gestri­chen. Zwi­schen ihnen ent­de­cken wir über­ra­schend viele Spiel­plätze und ein Beach­vol­ley­ball­feld. Fast schon rüh­rend fin­den wir den win­zi­gen Platz mit Trimm-Dich-Gerüs­ten, neben dem ein rie­si­ges Schild mit der Auf­schrift „Pal­di­ski Work­out“ thront. Ganz in der Nähe steht eine hüb­sche ortho­doxe Kir­che, die erst 2015 eröff­net wurde. Ihr tan­nen­grün lackier­tes Holz setzt sich vom Blau des Him­mels ab.

Nein, so grau wie in „Lija 4‑ever“ sieht es in der Stadt – heute ist sie ein bedeu­ten­der Umschlag­platz vor allem für Autos – sicher nicht mehr aus.

Das Schönste, was sie zu bie­ten hat, liegt jedoch einige Kilo­me­ter ent­fernt. Eine Bus­ver­bin­dung aus dem Zen­trum dort­hin gibt es nicht, also fol­gen wir der kaum befah­re­nen Straße Rich­tung Meer zu Fuß. Zu unse­rer Lin­ken bran­det die Ost­see an den dra­ma­ti­schen Kalk­stein­klip­pen auf, die die­sen Teil der Küste säu­men. Zur Rech­ten erhebt er sich schließ­lich stolz in den Him­mel: der Pakri-Leucht­turm.

Er ist mit 52 Metern der höchste in ganz Est­land und wurde 1889 gebaut – lange bevor das kleine Land seine Unab­hän­gig­keit erst­mals 1918 erlangte und 1944 für fast 50 Jahre wie­der ver­lor. Bis heute erhellt er den Nacht­him­mel über der rauen See vor Pal­di­ski. Wir beschlie­ßen, den Leucht­turm zu bestei­gen. Eine gute Ent­schei­dung. Die Aus­sicht von hier oben ist fantastisch.

Cate­go­riesEst­land
Susanne Helmer

Journalistin aus Hamburg, die es immer wieder in die Welt hinauszieht. Gern auch für etwas länger. Am Ende jeder Reise stand bislang immer dasselbe Fazit: Kaum etwas im Leben euphorisiert und bereichert sie so sehr wie das Anderswosein. Und: Reisen verändert.

  1. Paul Mehnert says:

    Echt hef­tig diese Kon­traste zwi­schen Tal­lin und Pal­di­ski. Hatte sowohl den Film als auch die Stadt nicht auf dem Schirm. Vie­len lie­ben Dank für den tol­len Tipp.
    Liebe Grüße

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