Der letzte Tag des Sommers

»Heu­te ist der letz­te Tag des Som­mers.« Ich weiß nicht, wie oft ich sol­che Wor­te die­sen Som­mer über gehört habe – häu­fig ängst­lich, manch­mal freu­dig, sel­ten gleich­gül­tig. Nie haben sie gestimmt – immer wur­de es noch ein­mal warm und son­nig.

Der letz­te Tag, das letz­te Wochen­en­de des Som­mers, so hieß es auch an dem Wochen­en­de, das ich Ende August zusam­men mit mei­nem Freund in Pfron­ten im All­gäu ver­brach­te. Die­se ganz spe­zi­el­le »Wenn-nicht-jetzt-wann-dann«-Stimmung des kur­zen Som­mers in Deutsch­land und ganz Mit­tel- und Nord­eu­ro­pa hat­te uns voll­kom­men ergrif­fen. Und so schwan­gen wir uns aufs Fahr­rad und erkun­de­ten so vie­le Orte wie mög­lich, bade­ten in jedem See, der sich dafür anbot, leg­ten uns ins frisch gemäh­te Gras, genos­sen das Rot des Son­nen­un­ter­gangs.

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Der Trübsinn der vier Jahreszeiten

Die­ses Som­mer­en­de-Dilem­ma: Der pol­ni­sche Autor Andrzej Sta­si­uk nennt es »die unend­li­che Melan­cho­lie der gemä­ßig­ten Zone«, den »mit­tel­eu­ro­päi­schen Trüb­sinn der vier Jah­res­zei­ten«. Die­ses unbe­re­chen­ba­re Kli­ma, in dem nichts ewig dau­ert, in dem jeder Son­nen­strahl, jeder hei­ße August­tag mit dem Gedan­ken Hand in Hand geht, dass auf Wär­me Käl­te, auf Son­ne Regen folgt, und das häu­fig völ­lig ohne Vor­war­nung. In dem nichts End­gül­ti­ges end­gül­tig ist.

Wir haben schon ein schwe­res Los – und doch und gera­de des­halb die Chan­ce, jeden Som­mer­tag wie den letz­ten zu genie­ßen. Das Som­mer­en­de hat immer etwas Melan­cho­li­sches, und so zwingt es uns dazu, noch ein­mal alles zu schaf­fen, was wir uns bis­her nur vor­ge­nom­men hat­ten, all die ver­säum­ten Stun­den auf­zu­ho­len, wäh­rend derer wir eigent­lich im Schwimm­bad hät­ten lie­gen sol­len und statt­des­sen zu Hau­se, in der Arbeit, in der Biblio­thek sehn­süch­tig aus dem Fens­ter schau­ten. Auch, wenn wir mitt­ler­wei­le erwach­sen sind, kommt uns das Som­mer­en­de vor wie damals in der Schu­le das Ende der Som­mer­fe­ri­en, der Beginn des neu­en Schul­jah­res, der abrup­te Über­gang zwi­schen süßem Nichts­tun und so genann­tem Ernst des Lebens. »I don’t wan­na feel like the end of a sum­mer«, das Som­mer­en­de ist Meta­pher und Rea­li­tät zugleich.

Die letz­ten Som­mer­ta­ge genie­ßen – was soll man eigent­lich auch ande­res machen, wenn die Flüs­sig­keit im Ther­mo­me­ter sich trä­ge über die 30 schiebt? »Gemä­ßig­tes Kli­ma«, dar­über kann man nur lachen, wenn einem im August der Schweiß Stirn und Bei­ne hin­un­ter­rinnt, auch wenn man gar nichts dafür tut.

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Idylle pur

Direkt neben unse­rem Hotel erstreckt sich eine gro­ße Wie­se, auf der Kühe mit ihren umge­häng­ten Glo­cken um die Wet­te klin­geln. Mit­ten auf dem Weg liegt eine Zie­ge und schaut uns neu­gie­rig an. Rings­um die Ber­ge, grün bewach­sen bis zur Baum­gren­ze, danach rau und wild, fel­sig, von den Jahr­mil­lio­nen geformt. Durch die Abend­son­ne läuft eine Kat­ze, nicht behän­de und ele­gant, son­dern so dick, dass sie Mühe hat, vom Fleck zu kom­men.

Alles schreit so sehr nach Idyl­le, dass man gar nicht anders kann, als sich ab dem Moment, in dem man ankommt, voll­kom­men ent­spannt zu füh­len.

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Die Stadt Pfron­ten hat etwa 8.000 Ein­woh­ner und liegt im süd­öst­li­chen Teil des All­gäu, direkt an der Gren­ze zu Öster­reich. Sie ist Teil der Regi­on Schloss­park, die mit per­fekt aus­ge­schil­der­ten Fahr­rad- und Wan­der­we­gen auf Som­mer­tou­ris­ten setzt. Auf ver­schlun­ge­nen Wegen geht es durch grü­ne Berg­wie­sen, im Hin­ter­grund immer die Spit­zen der Alpen, die majes­tä­tisch hin­ter den Dör­fern in die Höhe ragen. Brei­ten­berg, Alp­spitz, Hoch­plat­te, graue Fels­wän­de vor strah­lend blau­em Him­mel.

Radfahren im Schlosspark

Elf Regio­nal­rad­tou­ren sind im Schloss­park aus­ge­schil­dert, mit zwi­schen 25 und 65 Kilo­me­tern Län­ge. In den Orten wie Pfron­ten kann man sich pro­blem­los Fahr­rä­der und auch E‑Bikes aus­lei­hen – das Fah­ren in den Ber­gen kann für Untrai­nier­te schnell zur Qual wer­den. Doch auf­grund der Ein­zig­ar­tig­keit der Vor­al­pen­land­schaft muss man nicht direkt in die Ber­ge: Vie­le der Rou­ten füh­ren durch die Ebe­ne, um Seen her­um oder aller­höchs­tens mal über einen klei­nen Hügel.

Rad­fah­ren macht hier Spaß, weil die Wege so gut aus­ge­schil­dert sind. Noch schö­ner als die Stre­cken an sich sind aber die Din­ge, die sich am Weges­rand fin­den las­sen. Jede Rou­te hat ein bestimm­tes The­ma, das mit Land­schaft und Geschich­te des Schloss­parks abge­stimmt ist. So führt die Dampf­lok-Run­de ent­lang zwei­er ehe­ma­li­ger Bahn­stre­cken, der Emmen­ta­ler Rad­weg zeigt einem ver­schie­de­ne alt­ein­ge­ses­se­ne Käse­rei­en und auf dem Sagen­haf­ten Weg kann man durch Info­ta­feln ver­schie­de­ne Mythen des Ost­all­gäus ken­nen ler­nen.

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Die Schlösserrunde

Wir ent­schei­den uns für die Bur­gen- und Schlös­ser­run­de am Sams­tag und die 8‑Seen-Run­de am Sonn­tag, die per­fek­te Kom­bi­na­ti­on aus dem, was den Schloss­park aus­macht, und dem Nut­zen des angeb­lich letz­ten Som­mer­wo­chen­en­des. Der Schloss­park trägt sei­nen Namen näm­lich nicht von unge­fähr: Die wun­der­schö­ne Natur inspi­rier­te »Mär­chen­kö­nig« Lud­wig II. zu Schloss Neu­schwan­stein und dem Schloss Fal­ken­stein, das auf­grund von Lud­wigs Tod jedoch nie voll­endet wur­de und des­sen uto­pi­sche Ideen sich ver­mut­lich auch nie­mals hät­ten umset­zen las­sen.

Doch die bei­den Schlös­ser des extra­va­gan­ten Königs sind nicht die ein­zi­gen im Schloss­park: Bereits kurz nach­dem wir Pfron­ten ver­las­sen haben, radeln wir an der ers­ten Burg­rui­ne vor­bei, der Burg Vil­segg, die bereits im 13. Jahr­hun­dert erbaut wur­de. Einen Stopp machen wir jedoch erst an einer Brü­cke über den Lech, hin­ter der wir die Fahr­rä­der in den Kies legen und die Bei­ne ins eis­kal­te Was­ser hal­ten.

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Als wir wenig spä­ter die zwei­te Pau­se machen, wun­dern wir uns über das öster­rei­chi­sche Han­dy­netz – um schließ­lich fest­zu­stel­len, dass wir tat­säch­lich bereits das Land gewech­selt haben. Auf dem Weg in Rich­tung Neu­schwan­stein kom­men wir dann auch an einem Grenz­häus­chen vor­bei, des­sen rot-wei­ße Schran­ke heu­te mit­ten im Wald mehr als fehl am Platz wirkt.

Faszination Neuschwanstein

Nach einem anstren­gen­den Anstieg wer­den wir mit dem Blick über den Alp­see belohnt, des­sen glas­kla­res Was­ser sich per­fekt zwi­schen die dicht dun­kel­grün bewal­de­ten Gip­fel zu schmie­gen scheint. Hier ist es mitt­ler­wei­le so voll, dass wir das Rad nur noch schie­ben kön­nen. Ein paar hun­dert Meter wei­ter kann man erken­nen, war­um: Tou­ris­ten­hor­den schie­ben sich ent­lang Sou­ve­nir­shops und Restau­rants in Shut­tle-Bus­se und Kut­schen, die sie zu den Königs­schlös­sern Neu­schwan­stein und Hohen­schwan­gau brin­gen.

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Wir bie­gen um eine Ecke und ganz plötz­lich liegt es da vor uns, das Schloss Neu­schwan­stein, das wie kaum eine ande­re Sehens­wür­dig­keit inter­na­tio­nal Deutsch­land reprä­sen­tiert. Bis zu 10.000 Men­schen besu­chen das Schloss zur Hoch­sai­son, jeden Tag. Die Schloss­ver­wal­tung stell­te bereits fest, dass die von den Besu­chern aus­ge­at­me­te Feuch­tig­keit mitt­ler­wei­le anfängt, den anti­ken Möbeln und Tex­ti­li­en zu scha­den. Ver­rückt, und doch irgend­wie ver­ständ­lich – die fili­gra­nen Tür­me mit­ten in der Alpen­ku­lis­se, der Inbe­griff eines Mär­chen­schlos­ses, die ver­rückt-uto­pi­schen Ideen eines zurück­ge­zo­ge­nen und mys­te­riö­sen Königs, die nicht alle rea­li­siert wer­den konn­ten, all das übt eine Fas­zi­na­ti­on aus, der man sich nur schwer ent­zie­hen kann.

Wir sind trotz­dem froh, als wir wei­ter­fah­ren, die Men­schen­mas­sen hin­ter uns las­sen und über ein­sa­me­re Pfa­de schließ­lich Füs­sen errei­chen. Ent­lang dem Forg­gen­see und dem Hop­fen­see geht es wie­der zurück nach Pfron­ten, vor­bei an klei­nen Dör­fern, tief­grü­nen Wie­sen und durch schat­ten­spen­den­de Wald­stü­cke. Das letz­te Stück, steil berg­auf, lässt uns die Son­ne und die Ber­ge noch für einen kur­zen Moment ver­flu­chen, bevor wir mit schmer­zen­den Waden wie­der in Pfron­ten ein­fah­ren und die letz­ten Son­nen­strah­len bewun­dern, die die Ber­ge rings­um in ein bläu­lich-sanf­tes Licht tau­chen.

Von Bergen und Seen

Am nächs­ten Tag geht es erst hoch hin­auf: Mit der Seil­bahn fah­ren wir auf den fast 1.600 Meter hohen Alp­spitz bei Nes­sel­wang, dem Nach­bar­ort von Pfron­ten. Hier gibt es nicht nur einen wun­der­schö­nen Blick auf die umlie­gen­den Gip­fel und den Rund­um­klang eines Alp­horn­kon­zerts neben dem Park­platz, son­dern auch eine Zipli­ne, auf der es mit bis zu 130 Stun­den­ki­lo­me­tern 1,2 Kilo­me­ter abwärts geht, quer durch die Baum­gip­fel. Ich ver­zich­te ger­ne, denn für mich sind Rad­tou­ren und Seil­bahn­fahr­ten schon Adre­na­lin­kick genug, aber der Freund saust mit ordent­lich Geschwin­dig­keit nach unten und kommt mit einem brei­ten Grin­sen wie­der an. Wer nicht auf ganz so viel Action steht, kann hier auch Som­mer­ro­del­bahn fah­ren – oder im Win­ter eben Ski.

Am Nach­mit­tag fol­gen wir mit dem Rad der Acht-Seen-Run­de – oder auch nicht, wir haben näm­lich ein Talent, uns trotz guter Beschil­de­rung zu ver­fah­ren oder nach unmög­li­chen Abkür­zun­gen zu suchen. Unser Weg führt uns mit­ten über Wie­sen und spä­ter durch den Wald. Die Seen, an denen wir ent­lang­fah­ren, könn­ten unter­schied­li­cher kaum sein: Am Kögel­wei­her sind wir bei­na­he die ein­zi­gen Bade­gäs­te, am Att­le­see fin­den wir kaum noch einen Platz auf der Wie­se und am Schwal­ten­wei­her wird sogar Ein­tritt ver­langt. Doch über­all kann man mit Blick auf ein per­fek­tes Alpen­pan­ora­ma schwim­men.

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Das Ende des Sommers

Heu­te weiß ich, unser Wochen­en­de in Pfron­ten war nicht das letz­te Wochen­en­de des Som­mers. Und auch der Herbst hat­te noch ein paar son­ni­ge Momen­te parat. Doch als wir am Mon­tag zum Wol­ken­bruch auf­wa­chen, scheint sich eine trau­ri­ge Ver­hei­ßung erst ein­mal bestä­tigt zu haben. Gut, dass wir noch­mal schwim­men waren, und rad­fah­ren und zipli­nen und im Gras lie­gen und im Bier­gar­ten sit­zen und auf Berg­gip­fel wan­dern. Gut, dass wir ihn genutzt haben, den letz­ten Som­mer­tag, gut, dass wir dem grau­sa­men mit­tel­eu­ro­päi­schen Kli­ma ein Schnipp­chen geschla­gen haben.

Som­mer, das ist, wenn man jeden Tag voll aus­kos­ten möch­te, wenn man jeden Moment bewusst wahr­nimmt. Wenn man anhält, wenn man anhal­ten möch­te; wenn man ins Was­ser springt, wenn man sich abküh­len möch­te; wenn man genau­er hin­sieht, wenn man etwas Inter­es­san­tes gefun­den hat – weil man weiß, es könn­te das letz­te Mal sein. Wenn man die Geschich­ten, die beson­de­ren Momen­te, die ein­drucks­volls­ten Aus­sich­ten am Weges­rand sucht und sich Zeit dafür nimmt. Und an wohl kaum einem Ort geht das bes­ser als zwi­schen idyl­li­schen Ber­gen, geheim­nis­vol­len Schlös­sern und erfri­schen­den Seen.

Mehr Infor­ma­tio­nen zu Pfron­ten und dem Schloss­park gibt’s im Ori­gi­nal­ar­ti­kel.

Erschienen am



Antwort

  1. Avatar von Luna
    Luna

    Lie­be Aria­ne,
    ich fin­de dei­nen Blog und die­sen Arti­kel wirk­lich toll! 🙂
    Nor­ma­ler­wei­se blei­be ich immer im glei­chen Hotel in Biber­ach (https://jordanbad-parkhotel.com/). Das liegt auch im All­gäu. Das nächs­te Mal wer­de ich aber defi­ni­tiv mal dei­ne Tipps aus­pro­bie­ren und die Regi­on rund um Pfron­ten her­um aus­pro­bie­ren.

    Vie­len Dank für die­sen tol­len Bei­trag, ich fand die Leich­tig­keit, die du ver­mit­telst unheim­lich schön 🙂

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