Alles schläft. Blitze erhel­len die Nacht und las­sen die dich­ten Kie­fern wie Schreck­ge­spens­ter aus­se­hen. Die Musik im Ohr lie­fert den Sound­track dazu.
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Schon der Name ist Mythos – Trans­si­bi­ri­sche Eisen­bahn. Dem wohnt ein Zau­ber inne; der Zau­ber von wei­ten Land­schaf­ten, tie­fen Wäl­dern und Wodka – kurz – Müt­ter­chen Russ­land ist an Bord. Mit ihren bun­ten Röcken, den Gold­zäh­nen und ihrer viel besun­ge­nen Gast­freund­lich­keit. Schon oft gele­sen, schon oft in Doku­men­ta­tio­nen gese­hen und doch bleibt es anders. Russ­land ist nicht Europa. Und Mos­kau ist nicht Russ­land. Tief in der sibi­ri­schen Pro­vinz schmeckt das Leben nach Ent­beh­rung. In den rus­si­schen Städ­ten ist es kan­tig. Ein Hauch Sowjet­union hängt noch über den Stra­ßen und Dächern. Wie die Smog-Wol­ken über Moskau.

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Nur lang­sam weht fri­scher Wind den Dunst hin­fort und bringt dafür den Neo­li­be­ra­lis­mus. Ob das bes­ser ist? Neben alten sozia­lis­ti­schen Sowjet­bau­ten leuch­tet nun ein gel­bes „M“. Neben einer Lenin-Sta­tue lockt nun ein skan­di­na­vi­sches Beklei­dungs­ge­schäft. Doch umso tie­fer die Trans­sib  ins Lan­des­in­nere tuckert, umso rus­si­scher wird es.

Hier im Wag­gon ist in den letz­ten Tagen ein eige­ner Mikro­kos­mos ent­stan­den. Ich liege auf einer Prit­sche in der drit­ten Klasse. Aus Geld­man­gel und Aben­teu­er­lust. Mit mir schwit­zen rund fünf­zig fremde Men­schen, haupt­säch­lich Rus­sen, in die­ser rol­len­den Banja, auf dem Weg in die Weite, in den fer­nen Osten. Durch das größte Land der Erde.

Es ist zu warm für alles. Zu warm zum Sit­zen, zu warm zum Reden, zu warm zum Den­ken. Nur Lie­gen geht. Von mei­ner Prit­sche aus bli­cke ich in den Wag­gon. Über­all Füße, Hände, Beine. Ein Hin­der­nis-Par­cours aus Kör­per­tei­len. Seit eini­gen Tagen schon liege ich dort. Ohne Dusche, immer noch im glei­chen Shirt wie beim Ein­stieg in Mos­kau. So hal­ten es auch alle ande­ren. Unter­bro­chen von einem gele­gent­li­chen Gang zum Samo­war, um sich hei­ßes Tee­was­ser zu holen oder vor einer der zwei Toi­let­ten anzu­ste­hen, die sich fünf­zig Men­schen teilen.

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Die ers­ten Tage waren schlimm für mich – ich, die Düs­sel­dor­fe­rin – doch nun habe ich es akzep­tiert. Nicht ohne Wodka. Das war die Ret­tung, denn irgend­wann wurde ich von ein paar Frauen und Män­nern auf deren Prit­sche ein­ge­la­den und durfte trin­ken.  The kind­ness of stran­gers. Eigent­lich wollte ich nur foto­gra­fie­ren, doch nichts da, eine Stunde spä­ter war ich gefüt­tert, beschenkt, mit sibi­ri­schen Lie­bes­lie­dern auf der Gitarre unter­hal­ten, und abge­füllt wie zwölf Rus­sen. Wodka pus­tet das Hirn frei und lässt alles für ein Weil­chen leich­ter erschei­nen. Aus der Düs­sel­dor­fer Diva war nun eine müf­felnde, aber befreite Rei­sende gewor­den. Mit jedem Kilo­me­ter ein biss­chen mehr von beidem.

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Und doch ist es letzt­lich ein­fach nur eine Zug­fahrt. Eine sehr lange Zug­fahrt. Im Jahr 1891 befahl Zar Alex­an­der III. den Bau der Bahn­stre­cke und erschuf damit nicht nur eine Ver­bin­dung zwi­schen den zuvor uner­reich­ba­ren Orten, son­dern auch Stoff für Lite­ra­tur und Film. Sie­ben Zeit­zo­nen durch­quer­ten wir. An 400 Bahn­hö­fen roll­ten wir vor­bei, 9.288 Kilo­me­ter von Mos­kau bis nach Wla­di­wos­tok. Vor­bei an Jeka­te­rin­burg, Novo­si­birsk und dem Bai­kal­see. Die längste Zug­stre­cke der Erde, in der ich lernte, das Nichts­tun aus­zu­hal­ten. Kein Inter­net, kein Han­dy­emp­fang, keine Ahnung, wie spät es ist, geschweige denn, wel­cher Tag. Nur ein Buch, etwas Musik von Leo­nard Cohen und das schon mor­sche Fens­ter. Der Blick auf die vor­bei­rau­schende Welt. Und der wich­tigste Beglei­ter: Das Tuckern und Ruckeln des Zuges. Ruhig, gleich­mä­ßig, medi­ta­tiv. Der Herz­schlag. Und so wog mich Müt­ter­chen Russ­land in den Schlaf.

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Ankunft am Ende der Welt

Hǎis­hēn­wǎi „See­gur­ken­marsch“ bedeu­tet Wla­di­wos­tok auf Chi­ne­sisch. Ins Rus­si­sche über­setzt klingt die Hafen­stadt am Japa­ni­schen Meer schon ein­drucks­vol­ler: „Beherr­sche den Osten“.

Erst seit 1991 dür­fen Aus­län­der die Stadt wie­der ohne Son­der­ge­neh­mi­gung besu­chen. Zuvor war sie gesperrt, da der Hafen zu den Haupt­stütz­punk­ten der rus­si­schen Pazi­fik­flotte zählte und noch immer zählt. Auch das macht Wla­di­wos­tok für mich als Euro­päe­rin zu einem Ende der Welt.

Ich hatte mir diese Stadt immer grau, abwei­send und kalt vor­ge­stellt. Viel­leicht urteilt man nur allzu leicht­fer­tig über Russ­land, wenn man im Wes­ten auf­ge­wach­sen ist. Doch im Ver­gleich zu manch ande­ren Städ­ten fühlte ich mich hier nicht ganz so ver­lo­ren. Die Luft war mild, die Stim­mung warm. Ich schlen­derte über ein klei­nes Stra­ßen­fest in der Nähe des Stran­des und ver­brachte den Rest des Tages damit, stumm und ergrif­fen auf das Meer hin­aus zu starren.

Hier endet unsere Fahrt mit der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn. Knapp zehn Tage waren wir unter­wegs und nann­ten den Zug schon unser Zuhause. Weh­mut kam auf.

9.288 Kilo­me­ter und sie­ben Zeit­zo­nen von Mos­kau ent­fernt – Wla­di­wos­tok ist sicher­lich eins der vie­len Enden die­ser Welt. Nur eine Flug­stunde von Tokyo ent­fernt und mit dem Blick auf ein erahn­tes Nord­ko­rea. Und doch liegt die Stadt im Fer­nen Osten auf dem­sel­ben Brei­ten­grad wie Flo­renz. Die Win­ter sind trotz­dem kalt und die Som­mer zumeist reg­ne­risch. Und so braute sich über dem Japa­ni­schen Meer ein Unwet­ter zusam­men und ließ uns in ein Café flüch­ten. Es war August und doch ertönte aus der Musik­an­lage „White Christ­mas“. Selt­sa­mes Russland.

Cate­go­riesRuss­land
  1. Josef paul says:

    Danke für dei­nen tol­len Bericht. Ich fahre Anfang Februar 2017 und hoffe das es rich­tig kalt ist.

    Viel Spass wei­ter­hin und ich freue mich auf dei­nen nächs­ten Bericht

    LG

    Josef

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