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Auf der Spur von Irlands Hungersnot

Wahr­schein­lich haben viele schon mal irgendwo oder irgend­wann den Begriff „Iri­sche Hun­gers­not“ gehört. Irgend so eine Kata­stro­phe in 1800 irgend­was, die mit schlech­ten Kar­tof­feln zu tun hatte. Viel mehr ist im Aus­land meist nicht bekannt. Und auch nicht von Inter­esse – dabei war es eine der größ­ten sozia­len Kata­stro­phen im Europa des 19. Jahr­hun­derts. Und eine Kata­stro­phe, die in ihrer Ent­ste­hung und Hand­ha­bung ver­däch­tig an all das erin­nert, was auch heute noch in vie­len Län­dern der Welt pas­siert. Des­we­gen mache ich mich auf den Weg und schaue mir die Geschichte genauer an.

Den Hun­ger­pöt­ten nach

Vie­len Besu­chern wür­den sie kaum auf­fal­len – große guss­ei­serne Töpfe, die über­all in Irland mal hier und mal dort her­um­ste­hen, in Dör­fern, vor Häu­sern, in Museen oder irgendwo in der Land­schaft. Einen davon finde ich geschützt von Stein­wän­den am Lough Eske in Done­gal vor – Behäl­ter, die wäh­rend der Hun­gers­not von etwa 1845 bis 1852, die auch in der Region Done­gal schlimmste Aus­maße annahm, noch mehr Men­schen vor dem Hun­ger­tod bewahr­ten. „Famine pots“ wer­den sie genannt, ‚Hun­gers­not-Töpfe‘. Die meis­ten wur­den ab unge­fähr 1846 von der Regie­rung unter dem soge­nann­ten Sup­pen­kü­chen-Akt zur Ver­fü­gung gestellt, um all jenen, die sich nicht mehr selbst ver­sor­gen konn­ten, zu einem gele­gent­li­chen Süpp­chen zu verhelfen.

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Laut Aidan, einem der weni­gen tat­säch­lich rot­haa­ri­gen Iren, die ich auf der Reise treffe und der im Famine Museum von Strokes­town arbei­tet, waren die angeb­lich so hilf­rei­chen Sup­pen kaum ein Trop­fen auf den hei­ßen Stein. „Sie bestan­den prak­tisch nur aus Was­ser mit ein paar Brüh­wür­feln darin“, ent­rüs­tet er sich vor einem im Museum aus­ge­stell­ten „Famine pot“. „Es gab keine nahr­haf­ten Zuta­ten in den Sup­pen, aber die Leute hat­ten immer­hin den Ein­druck, sie wür­den irgend­was zu sich nehmen.“

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Im Famine Museum von Strokes­town, auf etwa hal­ber Stre­cke zwi­schen Dub­lin und Done­gal, mache ich mir auch erst­mals Gedan­ken dar­über, dass hin­ter der Hun­gers­not weit­aus mehr steckte als die weit­hin bekannte Kar­tof­fel­fäule, die zu Miss­ern­ten führte und den Iren ihr Haupt­nah­rungs­mit­tel ent­riss. Die hier wert­volls­ten Aus­stel­lungs­stü­cke sind Doku­mente, die im Strokes­town Park House gefun­den wur­den – Doku­mente, die Ein­blick in die Ver­wal­tung des Anwe­sens durch die eins­ti­gen bri­ti­schen Groß­grund­be­sit­zer geben. Denn zur Zeit der Hun­gers­not stand Irland noch immer unter eng­li­scher Herr­schaft und iri­sche Bau­ern durf­ten die von den Eng­län­dern gegrün­de­ten ‚Plan­ta­gen‘ als Päch­ter bewirt­schaf­ten. Bis eben die Kar­tof­fel­fäule zuschlug und den Bau­ern jede Lebens­grund­lage ent­riss – und jede Mög­lich­keit, ihre Land­miete zu zah­len. Unter den in Strokes­town gefun­de­nen Doku­men­ten befin­den sich neben Zwangs­räu­mungs­be­schei­den an die Bau­ern auch Fleh­briefe der ver­hun­gern­den Fami­lien an die Groß­grund­be­sit­zer und deren nie­der­schmet­ternde Ant­wor­ten sowie Zei­tungs­no­ti­zen zu Maß­nah­men gegen die Hun­gers­not, wie die „Famine pots“.

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Diese Nach­weise sind laut Aidan ein unbe­zahl­ba­rer Schatz, wur­den doch die meis­ten offi­zi­el­len Archive und Her­ren­häu­ser in den Jah­ren der Unruhe und des Unab­hän­gig­keits­krie­ges zer­stört und damit sämt­li­che Doku­mente, die Auf­schluss über die Hin­ter­gründe der Hun­gers­not geben könn­ten. „Selbst ich finde leich­ter Infor­ma­tio­nen über meine Vor­fah­ren von vor 2000 Jah­ren als über jene, die vor 100 oder 200 Jah­ren gelebt haben – und allen ande­ren Iren geht es nicht anders“, so Aidan. „Diese Papiere, die wir gefun­den haben, berich­ten dar­über, wie die Groß­grund­be­sit­zer und die eng­li­sche Regie­rung mit dem Pro­blem umgin­gen, wie gleich­gül­tig sie sich zeig­ten, und wie viele Men­schen ein­fach weg­ge­schickt wur­den.“ Viele seien wie Vieh nach Kanada ver­schifft wor­den. Die damals im Strokes­town Park House ansäs­sige Fami­lie Mahon habe vier Schiffe nach Kanada geschickt, die statt den vor­her­ge­se­he­nen sechs Wochen acht brauch­ten, mit 3000 statt wie geplant 2000 Men­schen an Bord, von denen 65% wäh­rend der Reise star­ben. Wer nicht über den Atlan­tik geschickt wor­den sei, sei daheim oft im Gefäng­nis gelan­det, weil er die Land­miete nicht mehr zah­len konnte.

Pat Doh­erty Doagh Famine Village

Wei­ter nörd­lich, im Doagh Famine Vil­lage auf der Halb­in­sel Ini­showen, bekomme ich einen noch tie­fe­ren Ein­blick in das Thema Hun­gers­not . Gegrün­det wurde das stän­dig wach­sende Museum 1997 als Folk Vil­lage, und zwar von Pat Doh­erty und des­sen Schwes­ter, die bis 1983 selbst in eini­gen der heute aus­ge­stell­ten Häu­ser leb­ten. „Frü­her sag­ten die Alten immer, man solle nicht rei­sen, dann sähe man zu viele Dinge, die man auch haben wolle und sei nicht mehr zufrie­den“, erzählt Pat. „Ich bin viel gereist, und das hat mich mei­ner Wur­zeln noch bewuss­ter gemacht – und dass ich etwas tun möchte, um sie mit ande­ren Men­schen zu teilen.“

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„Als wir Kin­der waren, haben wir neben Kar­tof­feln sehr viel See­gras geges­sen“, erklärt Pat und hält uns ein nicht beson­ders appe­tit­lich aus­se­hen­des Exem­plar unter die Nase. „Jedes Mal, wenn ich mich beschwerte, meinte meine Mut­ter, ich solle doch selbst an den Strand gehen und sehen, was ich fände.“ Da ist es wie­der, das Thema Essen – und natür­lich Kar­tof­feln. Bis zu die­sem Moment war mir nicht klar, wie abhän­gig die Iren wirk­lich von der Kar­tof­fel waren – dass um 1845, als die Hun­gers­not aus­brach, von 8,5 Mil­lio­nen Men­schen 1,5 Mil­lio­nen land­lose Arbei­ter und deren Fami­lien über­wie­gend von Kar­tof­feln leb­ten. „Ein hart arbei­ten­der Mann aß gut sechs Kilo Kar­tof­feln pro Tag, eine Frau und ein Kind ab zehn Jah­ren fünf Kilo, ver­teilt auf drei Mahl­zei­ten pro Tag“, berich­tet Pat. In den 1840ern wur­den dem­nach etwa drei Mil­lio­nen Ton­nen an Kar­tof­feln pro Jahr kon­su­miert. Und da mache sich noch mal einer über die Deut­schen und ihre Kar­tof­fel­liebe lustig!

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„Und warum haben die Leute nicht ein­fach mehr Fisch geges­sen, als die Kar­tof­fel­fäule ein­setzte?“, stellt eine Besu­che­rin die Frage, die vie­len von uns auf den Lip­pen liegt. Pat lächelt trau­rig. „Von der Nacht des gro­ßen Win­des habt ihr alle noch nichts gehört, stimmt’s?“ Er nickt. Zwar seien die Küs­ten­be­woh­ner in der Regel dank des Fisch­fangs ein wenig bes­ser klar­ge­kom­men als die Men­schen im Lan­des­in­ne­ren, doch habe zu der Zeit kein gro­ßer natio­na­ler Fisch­han­del statt­ge­fun­den – auf­grund eines schreck­li­chen Sturms in der Nacht des 6. Janu­ars 1839, der einen Groß­teil der Fische­rei­flotte zer­störte. Jedoch sei die­ses Ereig­nis so sehr von den Zei­len der Hun­gers­not über­schrie­ben wor­den, dass die Nach­richt kaum nach drau­ßen gedrun­gen sei. Außer­dem hät­ten natür­lich auch kleine Fischer zum Fischen eine gewisse Aus­rüs­tung gebraucht – wenn nicht ein Boot, dann zumin­dest eine Angel. Und wer nichts mehr zu essen hatte, ver­kaufte häu­fig selbst die Angelrute.

Durch eine Art große Scheune gelangt man im Museum in einen lan­gen Gang, an dem sich die ver­schie­dens­ten Sze­nen der iri­schen Geschichte vor den Augen der Besu­cher mani­fes­tie­ren – dar­un­ter die berüch­tig­ten Ver­trei­bun­gen, von denen ich bereits in Strokes­town gehört hatte.

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Schon vor der Hun­gers­not sei eine Viel­zahl an Men­schen sehr arm gewe­sen, vor allem auch in Done­gal, so Pat. Im Dorf Gor­t­ahork bei­spiels­weise hät­ten vor der Hun­gers­not 9000 Men­schen gelebt, doch es habe nur zehn Bet­ten und 93 Stühle gege­ben. Wer über­haupt eine Hütte sein Eigen nen­nen konnte, war also schon ganz gut dran. Eine sol­che Hütte ist im Museum aus­ge­stellt: ein reet­ge­deck­tes Häus­chen, vor dem grim­mig drein­schau­ende Ord­nungs­hü­ter-Figu­ren zuse­hen, wie eine Fami­lie mit vier Kin­dern aus dem Haus schleicht – das im Nach­hin­ein mit dem mit­ge­brach­ten Ramm­bock zer­stört wurde, damit auch kei­ner zurück­keh­ren konnte.

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„Viele Leute den­ken immer, sol­che Sze­nen gehö­ren der Ver­gan­gen­heit an“, erzählt die junge Muse­ums­füh­re­rin, die an die­ser Stelle Pat ablöst. „Dabei ist es heute nicht anders – wer seine Miete nicht mehr bezah­len kann, muss gehen. Es inter­es­siert kei­nen, was danach aus den Men­schen wird.“ Ich muss an ein Schild am Ein­gang den­ken, mit den Wor­ten Goerge San­ta­ya­nas „Those who do not remem­ber the past are con­dem­ned to repeat it.“

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Der Kreis schließt sich: Das Car­ri­ck­macross Workhouse

Auf dem Rück­weg nach Dub­lin, wäh­rend eines Stopps im Car­ri­ck­macross Work­house im County Monag­han, füge ich mei­nem ers­ten Ein­blick in das Thema Hun­gers­not noch ein paar bis­her feh­lende Puz­zle­stück­chen hinzu. Hier bekomme ich unter ande­rem die Frage beant­wor­tet, wel­che Mög­lich­kei­ten die Men­schen über­haupt hat­ten, die obdach­los und ohne Nah­rung dastan­den – sofern sie nicht eines schnel­les Todes starben.

Work­hou­ses, das war eine eng­li­sche Insti­tu­tion, die in Irland unge­fähr von 1840 bis 1920 in Betrieb war, also weit über die Jahre der Hun­gers­not hin­aus. Ins­ge­samt gab es 163 Work­hou­ses in ganz Irland, in denen Men­schen, die selbst nicht mehr ihren Lebens­un­ter­halt ver­die­nen konn­ten, Zuflucht fan­den – und Arbeit gegen Essen ‚zahl­ten‘. Dabei muss­ten jeweils ganze Fami­lien zusam­men ins Work­house zie­hen, wo sie fortan wohn­ten – eine bequeme Lösung für die Land­be­sit­zer, nicht zah­lungs­fä­hige Mie­ter los­zu­wer­den. Jedoch wur­den die Fami­lien sofort getrennt nach Män­nern, Frauen und Kin­dern – wer wollte, konnte auch wie­der gehen, doch die Wenigs­ten konn­ten sich dies erlau­ben. Damit man­che frei­wil­lig wie­der ver­schwan­den, wurde den Armen das Leben so schwer wie mög­lich gemacht. Ich komme nicht umhin, an eine etwas abge­schwächte Ver­sion des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers zu denken.

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Heute ist das Car­ri­ck­macross Work­house eins der wenig übrig­ge­blie­be­nen Work­hou­ses, in denen für die Gemeinde nütz­li­che Ein­rich­tun­gen wie eine Kin­der­ta­ges­stätte mit einem Museum zur Erin­ne­rung an die­sen Teil iri­scher Geschichte ver­bun­den wer­den. Bevor ich das Work­house betrete, beglei­tet von Kevin Gart­lan, der das Gebäude gemein­sam mit einem Part­ner in den 1990ern zu restau­rie­ren begann, hatte ich noch nie von den iri­schen Work­hou­ses gehört – die es auch in Eng­land, Schott­land und Wales gab. Neben Kevin lerne ich auch Orlagh Mee­gan Gal­lag­her ken­nen. Die Künst­le­rin macht es sich seit 2013 zur Auf­gabe, all das, was die frei­wil­lige Ein­wei­sung in ein Work­house für die betrof­fe­nen Men­schen bedeu­tete, in Form von Kunst greif­bar zu machen.

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Meine Bewun­de­rung für die junge Frau wächst, wäh­rend sie ihre wohl über­leg­ten Werke erläu­tert: Als Ers­tes springt eine Zeich­nung mit strich­dün­nen Schat­ten­ge­stal­ten ins Auge, die sich auf ein gro­ßes schwar­zes Loch in Form einer Tür zube­we­gen. Die Zeich­nung stellt die ver­zwei­fel­ten, ver­hun­gern­den Men­schen dar, die sich ab 1841 selbst zum Car­ri­ck­macross Work­house bega­ben und am Ein­gang von ihren Lie­ben getrennt wur­den, die sie zum Teil nie­mals wie­der­sa­hen. Die Frauen wur­den häu­fig zu Putz­ar­bei­ten ver­dammt, die Män­ner zum Steineschlagen.

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An der Wand gegen­über hän­gen Kin­der­klei­der – ein dun­kel­ro­tes Mäd­chen­kleid mit schmut­zi­ger wei­ßer Schürze und ein ebenso fle­cki­ges wei­ßes Jun­gen­hemd mit einer löch­ri­gen dunk­len Hose dar­un­ter. Die­ses Mahn­mal läuft unter dem Titel „Die Ver­ges­se­nen“. „Diese kör­per­lose Skulp­tur soll als Erin­ne­rung an all die namen­lo­sen Kin­der die­nen, die hier anka­men und oft­mals Schreck­li­ches erlit­ten hat­ten. Jedes von ihnen war ein Indi­vi­du­al­we­sen, nicht bloß eine Zahl.“ Ins­ge­samt konn­ten im Work­house 400 Kin­der unter­ge­bracht wer­den. Im obe­ren Stock­werk befin­det sich ein Schlaf­saal der Kin­der – ein enorm klei­ner Raum, wenn man sich vor­stellt, dass hier bis zu 200 Kin­der zwi­schen sechs und zwölf Jah­ren zusam­men­ge­pfercht waren.

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In dem ansons­ten fast lee­ren Raum fal­len an der Wand gegen­über drei kleine Holz­kof­fer mit einem düs­te­ren Bild dar­über auf, auf dem ein bang drein­schau­en­des Mäd­chen abge­bil­det ist. Bei genaue­rem Hin­se­hen erkenne ich eine Reihe Namen, die auf den Rah­men geschrie­ben sind. „Zur dama­li­gen Zeit wur­den von Eng­land oft Ver­bre­cher nach Aus­tra­lien geschickt, die dort schwere kör­per­li­che Arbeit ver­rich­te­ten und nach sie­ben Jah­ren zurück nach Eng­land kamen. Doch dann ent­scheid die Krone, aus dem Land eine rich­tige Kolo­nie zu machen, mit Fami­lien, die sich dort ansie­deln wür­den.“ Dafür habe man natür­lich Frauen gebraucht, die mit den Gefan­ge­nen Fami­lien grün­de­ten. Und wo hät­ten sich diese Frauen leich­ter fin­den las­sen, als in den Work­hou­ses? Ihre Recher­chen führ­ten Orlagh zu dem Ergeb­nis, dass aus dem Car­ri­ck­macross Work­house 38 Mäd­chen zwi­schen 14 und 19 Jah­ren 1848 und 1849 nach Aus­tra­lien ver­schifft wor­den seien – aus ganz Irland seien es 4.114 Mäd­chen gewe­sen. Mit ihrem Kunst­werk stellt Orlagh nach, was die Mäd­chen beka­men – jedes einen klei­nen Kof­fer, in dem sich zwei Klei­der, eine Bürste und Näh­zeug befan­den. Objekte, die die armen Mäd­chen, die nie zuvor etwas beses­sen hat­ten, zunächst glück­lich machten.

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„Oft­mals freu­ten sie sich auf ihr neues Leben – und dann lan­de­ten sie für drei oder vier Monate auf einem Schiff, zusam­men mit Jun­gen und Män­nern. Viele Mäd­chen kamen schwan­ger in Aus­tra­lien an und wur­den dort nur noch als Pro­sti­tu­ierte miss­braucht, weil kein Mann sie mehr wollte.“ Die 19 Namen auf dem dunk­len Bil­der­rah­men sind die ein­zi­gen expor­tier­ten Mäd­chen, die nament­lich noch aus­fin­dig gemacht wer­den konn­ten. Im Gang nebenan hän­gen an einer wei­ßen Wand drei Bil­der, auf denen ein düs­te­res Meer mit unheil­ver­kün­den­den Wol­ken dar­über zu sehen ist. „Die meis­ten Mäd­chen kamen aus dem Lan­des­in­ne­ren und hat­ten noch nie das Meer gese­hen. Plötz­lich befan­den sie sich auf offe­ner See, sahen nur noch ein gro­ßes Nichts und wuss­ten, dass sie nie wie­der nach Hause zurück­keh­ren würden.“

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Zurück im Unter­ge­schoss betre­ten wir den Rats­saal, wo sich die Land­be­sit­zer und Work­house-Ver­ant­wort­li­che regel­mä­ßig ver­sam­mel­ten und unter ande­rem über Aus­wei­sun­gen berie­ten. Die Her­ren und ihre Debat­ten wer­den von an der Wand hän­gen­den Hüten sym­bo­li­siert, wobei Orlagh sich für jeden Teil­neh­mer etwas Pas­sen­des aus­ge­dacht hat. Auf einem Hut steht das Zitat eines anschei­nend etwas weit­sich­ti­ge­ren Teil­neh­mers von 1849: „Let them give employ­ment to the peo­ple and then their bur­dens would be ligh­tened. Let the land­lords secure the ten­ant in his impro­ve­ments; let them give farms at pro­per rents and good long lea­ses and then they would find the coun­try in a dif­fe­rent state.”

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Kurz vorm Aus­gang fällt der Blick auf ein far­ben­fro­hes Patch­work-Bild an der Wand, das auf den ers­ten Blick Tiere und schöne Land­schaf­ten dar­stellt, doch bei genaue­rem Hin­se­hen steckt viel mehr dahin­ter. Mit dem Titel „Land of Ple­nty“ bringt Orlagh hier auf einen Blick auf den Punkt, was ich bis­her noch nicht ganz begrif­fen hatte: Das Tex­til stellt die Masse an Nah­rungs­mit­teln dar, die zwi­schen 1845 und 1850 aus Irland expor­tiert wur­den. Die mit hel­len Far­ben dar­ge­stell­ten 36 Fel­der in der Mitte des Bil­des ste­hen für Irlands Frucht­bar­keit und all die Pro­dukte, die wäh­rend der Hun­gers­not tat­säch­lich noch expor­tiert wur­den. Dage­gen sym­bo­li­siert der äußere, düs­tere Rand Ver­fall und die Zer­stö­rung jener Jahre, über die am meis­ten geschrie­ben und gespro­chen wurde. Zu sehen sind unter ande­rem leere Fel­der, ver­nich­tete Kar­tof­feln und zer­störte Wohn­häu­ser. Der beschrif­te­ten Tafel dane­ben zufolge wur­den zwi­schen 1845 und 1850 ganze drei Mil­lio­nen Tiere aus Irland expor­tiert, dar­un­ter Schweine, Schafe, Geflü­gel und Rinder.

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Ich ver­lasse das Work­house sehr nach­denk­lich – und in dem bestimm­ten Gefühl, dass sich Geschichte doch immer und immer wie­der­holt. Unab­hän­gig davon, wo in der Welt, solange es dort Men­schen gibt. Und dass doch ein klei­nes biss­chen Hoff­nung auf eine Ver­än­de­rung zum Posi­ti­ven immer weiterbesteht.

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Diese Indi­vi­du­al­reise wurde unter­stützt von Tou­rism Ire­land, www.ireland.com

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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

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