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Neufundland, das 8. Weltwunder? (2)

Auf Rei­sen gibt es sel­ten Orte, die mir gar nicht gefal­len. Man­che gefal­len mir gerade so bis zum gebuch­ten Rück­flug. An ande­ren könnte ich gut län­ger blei­ben, an man­chen sogar sehr viel län­ger. Und dann gibt es einige sehr wenige Orte, da könnte ich mir vor­stel­len zu leben. In Neu­fund­land zum Bei­spiel. Warum, erfahrt ihr in Teil 1 von „A whale of a time“ – und natür­lich, wenn ihr jetzt wei­ter­lest.   

Mit gan­zen drei Tagen Son­nen­schein satt hat uns Neu­fund­land begrüßt, aber mehr bekommt es nun wirk­lich nicht auf die Reihe. Der nächste Mor­gen star­tet mit Nebel und Bind­fa­den-Regen. Genau so hatte ich mir Neu­fund­land eigent­lich vorgestellt.

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Auf dem lan­gen Weg zur Süd­spitze der Ava­lon Halb­in­sel erzählt uns Larry, unser neu­fund­län­di­scher Fah­rer, aus sei­nem Leben, das – wie könnte es in Neu­fund­land anders sein – sich immer um den Fisch gedreht hat. Auf­ge­wach­sen sei er in einem Fischer­dorf, und sein Vater sei Fischer gewe­sen. „Dabei hat er mir und mei­nen drei Brü­dern immer gesagt, Fischer sei kein rich­ti­ger Beruf, weil man nie gewin­nen könne und immer Schul­den bei den Händ­lern habe. Die bewer­te­ten unse­ren Fang. War er per­fekt, wurde er nach Spa­nien und in andere euro­päi­sche Län­der ver­kauft, der Schlech­teste ging an die West Indies.“ Zum ers­ten Mal höre ich eine gewisse Trau­rig­keit aus Lar­rys Stimme. Auch er und seine Mut­ter hät­ten dem Vater gehol­fen und den Fisch gesal­zen, damit er län­ger frisch blieb, sowie zum Trock­nen aus­ge­legt. „Wir muss­ten nur auf­pas­sen, dass der Regen das Salz nicht sofort wie­der abwusch.“ In den 1960ern habe die Regie­rung schließ­lich ein Umsied­lungs­pro­gramm ins Leben geru­fen, wonach Fami­lien aus klei­nen Küs­ten­ge­mein­schaf­ten in grö­ßere Städte umge­sie­delt wer­den soll­ten. „Mein Vater bekam 2000 kana­di­sche Dol­lar gebo­ten – so viel Geld hatte er noch nie in sei­nem Leben gese­hen. Also zogen wir nach St. John’s. Aber mein Vater konnte kaum sei­nen eige­nen Namen schrei­ben und tat sich mit dem neuen Leben schwer, er bekam nie einen fes­ten Job.“ Am Ende habe die Fami­lie in ihr Dorf zurück­keh­ren wol­len, aber dafür sei es zu spät gewe­sen, wenn man das Geld ein­mal akzep­tiert habe. Zum Glück sei es den vier Söh­nen um eini­ges bes­ser ergangen.

„Heute wol­len die jun­gen Leute kaum noch Fischer wer­den, vor allem nach der Fische­reik­rise in den 90ern sind viele aus­ge­wan­dert. Aber man will die Jugend­li­chen wie­der ermu­ti­gen, den Beruf des Vaters zu über­neh­men.“ Am bes­ten stün­den noch die Krab­ben­fi­scher da, vor allem die Schnee­krabbe sei ein ech­ter Gewinn­brin­ger. „Manch­mal füh­len wir uns in Neu­fund­land ver­nach­läs­sigt, weil die Regie­rung unsere natür­li­chen Res­sour­cen nicht ver­nünf­tig schützt.“ Dabei sei Neu­fund­land, das lange Zeit ein eigen­stän­di­ges Domi­nion im Bri­ti­schen Empire gewe­sen sei, über­haupt erst 1949 Kanada ange­schlos­sen wor­den – mit 52 Stim­men gegen 48 für die Kon­fö­de­ra­tion. „Damit wurde auch der 1. Juli, Kana­das Natio­nal­fei­er­tag, zum Pro­blem für uns Neu­fund­län­der.“ Denn der 1. Juli sei seit 1917 Memo­rial Day für die Neu­fund­län­der, der Tag, an dem sie über 700 Sol­da­ten des 1. New­found­land Regi­ments gedäch­ten, die im 1. Welt­krieg fie­len. „Mitt­ler­weile hand­ha­ben wir es so, dass wir bis mit­tags an die Toten den­ken, und danach holen wir das Bier raus und feiern.“

Mista­ken Point oder die fie­sen Felsen 

Eigent­lich wol­len wir die bekannte Mista­ken Point Eco­lo­gi­cal Reserve auf der Ava­lon Halb­in­sel besu­chen, doch der Wind peitscht uns den Regen um die Ohren, dass wir schon nach 30 Sekun­den im Freien bis auf die Unter­ho­sen nass sind. Ein Aus­flug zu den Fel­sen, wo 1967 die reich­hal­tigs­ten und best­erhal­te­nen prä­kam­bri­schen Fos­si­lien der Welt gefun­den wur­den, ist undenk­bar. Dafür bekom­men wir im Inter­pre­ta­tion Cen­ter zumin­dest einen klei­nen Ein­blick, was es mit den bedeu­ten­den Fos­si­lien auf sich hat. „Es wur­den 6000 Fos­si­lien auf 9000 Qua­drat­me­tern Ober­flä­che gefun­den“, berich­tet Edwina Warr, die als Guide in dem Museum arbei­tet und Besu­cher auch zu den Fel­sen beglei­tet, wenn kein Welt­un­ter­gangs­wet­ter herrscht. „Nie­man­dem war die Bedeu­tung die­ser Fos­si­lien bewusst, die die ältes­ten mehr­zel­li­gen Fos­si­lien der Welt sind, etwa 575 Mil­lio­nen Jahre alt. Sie leb­ten am Boden des Ozeans.“

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Wahr­schein­lich seien diese Krea­tu­ren unter ande­rem bei Vul­kan­ex­plo­sio­nen gestor­ben. Die Wis­sen­schaft­ler schaff­ten es, mit spe­zi­el­lem Mate­rial Abdrü­cke der Fos­si­lien zu neh­men, die heute auch – für Schlecht­wet­ter­tage – im Inter­pre­ta­tion Cen­ter zu bewun­dern sind. Man­che der Fos­si­lien sehen aus wie Blu­men­ab­drü­cke, und als diese wur­den sie auch lange betrach­tet. Ins­ge­samt soll es 30 ver­schie­dene Gat­tun­gen geben, ver­teilt auf 100 Fels­schich­ten. Erst Juli 2016 wurde Mista­ken Point als Welt­kul­tur­erbe anerkannt.

„Wisst ihr, warum die­ser Ort Mista­ken Point heißt?“, will Edwina wis­sen. Wir haben keine Ahnung. „Viele Schiffe, die bei Nebel hier anka­men, ver­wech­sel­ten die Fel­sen mit Cape Race wei­ter süd­lich. Sie segel­ten nach Nor­den, fuh­ren auf die Klip­pen auf und ken­ter­ten.“ Ins­ge­samt habe es 94 Schiff­wracks in 40 Jah­ren gege­ben, und auch die Tita­nic sei nur 360 Mei­len süd­öst­lich von Cape Race gesun­ken. Edwina erzählt, wie die Män­ner in ihrer Fami­lie oft ver­sucht hät­ten, Schiff­brü­chi­gen zu hel­fen. Natür­lich gebe es auch immer wie­der Leute vor Ort, die Geis­ter­schiffe und Geis­ter zu sehen glaub­ten. „Man steckt den Kin­dern manch­mal ein Stück Brot in die Tasche, um sie vor Feen zu schüt­zen, die sie fort­lo­cken könn­ten. Und auch, wenn man seine Klei­dung falsch herum trägt, kann das vor Geis­tern schüt­zen.“ Viele der Tra­di­tio­nen seien aus Irland über­lie­fert worden.

Im Bus geht es durch den strö­men­den Regen die unebene Stre­cke bis zum Cape Race Leucht­turm wei­ter, dem Ende der Ava­lon Halb­in­sel. Wir fah­ren durch Tun­dra-Land­schaf­ten mit ark­ti­schen alpi­nen Pflan­zen und vol­ler Bee­ren, doch lei­der ver­ste­cken sie sich an die­sem Tag hin­ter der Was­ser- und Nebel­wand. Selbst, als wir vorm Leucht­turm ste­hen, kön­nen wir ihn kaum ausmachen.

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Eher fürchte ich schon, in den feuch­ten Nebel­hän­den den Geist eines toten Matro­sen aus­zu­ma­chen. In Cape Race wurde 1904 die erste Funk­sta­tion Neu­fund­lands errich­tet. Die Nacht, als die Tita­nic sank, kamen hier auch die ers­ten Hil­fe­rufe des Oze­an­rie­sen an und Cape Race spielte eine ent­schei­dende Rolle darin, die Nach­richt an andere Schiffe und an Land wei­ter­zu­lei­ten. 2012 , zum 100. Jubi­läum der Tita­nic, wurde an der­sel­ben Stelle die Mar­coni-Sta­tion als ‚Funk Inter­pre­ta­tion Cen­ter‘ eröffnet.

Bei den toten Männern 

Wei­ter süd­lich erwar­tet uns ein ganz beson­de­rer Abend: In Tre­pas­sey, des­sen Name aus dem Fran­zö­si­schen ‚tré­pas­sés‘ stammt und tote Män­ner bedeu­tet. Wahr­schein­lich wurde dem Ort die­ser unheim­li­che Name dank der vie­len Schiff­un­glü­cke vor der Küste ver­passt. Vom Hafen in Tre­pas­sey aus star­tete auch die ‚Fri­end­ship‘, geflo­gen von Ame­lia Ear­hart, die als erste Frau über den Atlan­tik flog.

Das Wet­ter macht dem Orts­na­men alle Ehre. Der Nebel hängt noch immer so dicht über uns, dass der Ein­gang der Unter­kunft kaum aus­zu­ma­chen ist. Die per­fekte Unter­gangs­stim­mung für ein extra zube­rei­te­tes Tita­nic-Din­ner im Edge of the Ava­lon Inn, das dem Ori­gi­nal­menü am letz­ten Abend des Oze­an­rie­sen nach­ge­kocht wird.

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Auf dem Menü der ers­ten Klasse ste­hen unter ande­rem Cana­pés à l’Amiral, kleine Häpp­chen, auch als ‚amuse-bou­che‘ bekannt, eine Brok­koli-Creme­suppe, pochi­er­ter Lachs mit Mousse­li­ne­soße, Roast­beef und ein Wal­dorf Pud­ding. Dazu gibt es etwas, das wir den armen Rei­chen auf der Tita­nic vor­aus haben: ori­gi­nal neu­fund­län­di­sche Musik von Gene­vieve, ihrem Mann Lau­ren und Sän­ge­rin Judy, die gleich­zei­tig singt, das Akkor­deon spielt und mit an den Schu­hen befes­tig­ten Ras­seln klap­pert. Danach kommt mein neues neu­fund­län­di­sches Lieb­lings­in­stru­ment zum Zuge – der ‚ugly stick‘, häss­li­cher Stock. Und ganz schön häss­lich ist er wirk­lich, mit einem Wisch­mopp als Kopf, impro­vi­sier­tem Gesicht, gel­bem Neu­fund­land-Regen­hut sowie etwa zwölf Dut­zend Kron­kor­ken und einem Gum­mi­stie­fel am unte­ren Ende. Außer­dem braucht man einen soge­nann­ten ‚bea­ter‘, ein Stöck­chen, mit dem man auf den ugly stick ein­schlägt und ihm so eine Art Musik ent­lockt. Gesagt, getan – Gene­vieve ver­haut den ugly stick und rammt ihn dabei in den Boden, dass die Kron­kor­ken nur so klim­pern, ihr Mann über­nimmt das Akkor­deon, Judy stampft auf den Boden und spielt dazu die ‚spoons‘ – zwei gegen­ein­an­der­schla­gende Löf­fel. Und tat­säch­lich: Das Ganze klingt nach Musik!

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Wie ich bald erfahre, gibt es den ugly stick seit etwa 1980. Er war eine Erfin­dung für all die Freunde und Ver­wand­ten, die kein Musik­in­stru­ment spiel­ten und ansons­ten nicht bei musi­ka­li­schen Ein­schü­ben wäh­rend der belieb­ten ‚Kit­chen Par­tys‘ mit­ma­chen konn­ten. Nach der Show pro­bie­ren wir es auch mal – so ein­fach ist es gar nicht, dem Holz­knüp­pel ver­nünf­tige Laute zu entlocken!

Es dau­ert nicht lange, dann sind Fran­ziska und ich dran – denn in Neu­fund­land kann kein gesel­li­ges Zusam­men­sein zwi­schen Ein­hei­mi­schen und Besu­chern zu Ende gehen, ohne dass ‚die Neuen‘ die Chance bekä­men, zu Ehren­bür­gern Neu­fund­lands zu wer­den. Durch die Zere­mo­nie des ‚Screech in‘, die sich wahr­schein­lich in den letz­ten paar Jahr­zehn­ten ent­wi­ckelt hat. Außer uns bei­den hat kei­ner in der Gruppe Lust auf das schräge Pro­ze­dere, das fol­gen­der­ma­ßen funk­tio­niert: Die ‚Scree­chers‘ stel­len sich in Reih und Glied auf, dann fragt uns Lau­ren aus der Musik­gruppe – ein ech­ter Neu­fund­län­der, denn nur ein sol­cher darf als Zere­mo­nien­meis­ter fun­gie­ren – ob wir zu Ehren­neu­fund­län­dern wer­den möch­ten. Wir ant­wor­ten mit „Indeed me is, me ol‘ cock!“ Dann müs­sen wir einen Schwur leis­ten, Neu­fund­land zu lie­ben, endend mit „Long may your big jib draw“. In etwa „Lange möge dich dein gro­ßes Segel vor­an­trei­ben“. Schließ­lich geht’s zur Sache: Wir müs­sen einen Kabel­jau küs­sen. Zum Glück ist er bereits tot, in unse­rem Fall sogar tief­ge­fro­ren. Ich bin als Erste dran und drü­cke unter dem Jauch­zen der Zuschauer meine Lip­pen gegen den eisi­gen Fisch­mund. Zuge­ge­ben – ich habe schon bes­sere Küsse erhal­ten, aber auch durch­aus Schlechtere!

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Die­ser Teil des Brauchs ent­stammt den Fischern, die stets den ers­ten Kabel­jau küss­ten, den sie im Früh­ling fin­gen, denn er bedeu­tete neue Nah­rung für die Fami­lie. Dar­auf­hin folgt Schritt zwei – wir müs­sen in einem Zug ein Glas Screech-Rum lee­ren, der vor etwa 50 Jah­ren erst­mals aus Jamaika impor­tiert wurde und heute aus Neu­fund­land nicht mehr weg­zu­den­ken ist. ‚Screech‘, was über­setzt ‚krei­schen‘ bedeu­tet, kommt laut Larry daher, dass die Ame­ri­ka­ner auf Neu­fund­land den Rum ser­viert beka­men, ihn run­ter­kipp­ten und dar­auf­hin kreisch­ten wie Babys, denn so wirk­lich lecker ist er nicht. Als Nächs­tes erwar­tet uns ein Stück Fleisch­pas­tete, das wir essen müs­sen, gefolgt von einem wan­gen-auf­blä­hen­den Bon­bon. Je nach Region kann die Zere­mo­nie ein wenig abwei­chen, doch wir haben es geschafft und hal­ten Sekun­den spä­ter ein Diplom mit unse­ren Namen dar­auf in den Hän­den. Nach mei­nem Diplom fürs Win­ter­schwim­men im fin­ni­schen Meer, im Februar bei genau 0 Grad, wird dies das zweite Diplom, dass es je an meine Wand schafft.

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Nach unse­rer Ein­bür­ge­rung ist erst mal Party ange­sagt. Lei­der nicht uns zu Ehren, son­dern weil es Som­mer ist und viele Leute von der Stadt nach Tre­pas­sey, ein 350-See­len­dorf, zurück­keh­ren, um ihre Fami­lien zu besu­chen. Also wird gemein­sam gefei­ert – im Kir­chen­ge­bäude schräg gegen­über, das aus einer Well­blech­halle besteht, an der ein schlap­per Jesus am Kreuz hängt.

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„Hier ist im Moment immer was los“, erzählt mir die ältere Dorf­be­woh­ne­rin am Ein­gang, bei der ich meine zehn Dol­lar Ein­tritt zahle. „In den letz­ten Wochen gab es viele Hoch­zei­ten oder Jubi­läen.“ Und wir dür­fen bei der gro­ßen Som­mer­fete dabei sein. In der Halle liegt die Tanz­flä­che noch leer vor uns und wir gön­nen uns erst mal ein Black Horse Bier, bis die Band gemäch­lich an zu spie­len fängt. Schon bald rocken Jung und Alt auf der Tanz­flä­che zu den irisch-neu­fund­län­di­schen Rhyth­men ab, und wir sind mit­ten drin. „Zu sol­cher Musik kann man nur tan­zen, wenn man total betrun­ken ist“, kom­men­tiert eine aus unse­rer Gruppe, doch mir ist das egal – ich kann zu allem tan­zen, solange ich nur glück­lich bin, und wie könnte ich das als frisch geba­ckene Ehren­bür­ge­rin die­ser wun­der­ba­ren Insel nicht sein?

On the road 

Larry sorgt wie immer dafür, dass uns auf der lan­gen Fahrt von Tre­pas­sey in Rich­tung Tri­nity auf der Bona­vista Halb­in­sel nicht lang­wei­lig wird. Von ihm erfah­ren wir viel über einen Ort im Her­zen Neu­fund­lands, der lei­der nicht auf unse­rem Pro­gramm steht: Gan­der. „Von 1936 bis 1938 hatte Gan­der den größ­ten Flug­ha­fen der Welt“, behaup­tet Larry, doch nicht das mache den Ort so beson­ders. „Er wurde 2001 wegen 9/11 welt­be­kannt – weil alle Flüge, die gerade in der Luft waren und die USA anflo­gen, nach Gan­der umge­lei­tet wur­den. Dort lan­de­ten plötz­lich 7000 oder 8000 Men­schen, die Bevöl­ke­rung der Stadt ver­dop­pelte sich.“ Natür­lich habe es mas­sive Unter­kunfts­pro­bleme gege­ben, und viele Ein­hei­mi­sche hät­ten Flug­gäste bei sich auf­ge­nom­men, auch die Schu­len und Kir­chen hät­ten ihre Pfor­ten geöff­net. „Spä­ter rich­te­ten die Ame­ri­ka­ner zum Dank einige Sti­pen­di­en­fonds für die Men­schen in Gan­der ein“, berich­tet Larry zufrie­den. Über den ganz beson­de­ren Tag sei sogar ein Buch geschrie­ben wor­den: ‚The day the world came to town‘.

Mit Larry unter­wegs zu sein macht Spaß. Plötz­lich tritt er auf die Bremse, als Ron „Elch!“ schreit und zum Fens­ter stürzt. Wir het­zen aus dem Bus, als säße uns der Elch im Nacken, und star­ren ins Dickicht. Tat­säch­lich starrt uns von dort ein statt­li­ches Exem­plar ent­ge­gen – jedoch ein jun­ges, des­sen Geweih noch im Wachs­tum ist.

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Der Elch war­tet lange genug, um ein paar von uns Modell zu ste­hen, dann ist ihm die Kli­cke­rei zu blöd, er dreht uns sei­nen Aller­wer­tes­ten zu und macht einen majes­tä­ti­schen Abgang im Wald. Neben dem Elch gibt es am Stra­ßen­rand noch ande­res von Inter­esse, zum Bei­spiel die neu­fund­län­di­sche Pro­vinz­pflanze, ‚pit­cher plant‘, Schlauch­pflanze. Die rote, flei­schige Blume ist rich­tig blut­rüns­tig, frisst sogar Insek­ten. Auch Lupi­nen in rosa und lila rei­hen sich vor gemüt­li­chen Holz­häu­sern anein­an­der und machen die Aus­wahl schwer, wo man lie­ber woh­nen würde.

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„Die Auto­bah­nen hier wur­den erst 1965 fer­tig­ge­stellt“, erzählt uns Larry. „1988 hat man dann den Bahn­ver­kehr ganz ein­ge­stellt, und die Gleise wur­den nicht mehr benö­tigt. Es schien ein­fach prak­ti­scher zu sein, mehr Stra­ßen statt Bahn­stre­cken zu haben.“

Eis­berg zum Ersten 

Natür­lich darf am Tag nach dem Tita­nic-Din­ner auch der Eis­berg nicht feh­len. Mit dem Fischer Bruce Mil­ler geht es von New Bona­ven­ture hin­aus auf den an die­sem Tag beson­ders wil­den Atlan­tik. Bruce hat uns gelbe Gum­mi­ho­sen- und jacken aus­ge­lie­hen, und sehr schnell bin ich dafür dank­bar. Das Boot rei­tet so hef­tig über die Wel­len, dass wir nach jedem Bre­cher hart mit den Hin­tern auf­knal­len und uns das Waser um die Ohren peitscht. Ich schiebe mir eine wei­tere Ret­tungs­weste als Sitz­kis­sen unter.

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Mit einem Affen­zahn hal­ten wir auf Kerley‘s Har­bour zu, eins der klei­nen Fischer­dör­fer, die im Rah­men der Umsied­lung, von der Larry erzählt hatte, voll­kom­men ver­las­sen wur­den. Das einst schmu­cke Kerley’s Har­bour, aus dem Bruce selbst stammt, liegt seit 1963 ver­las­sen da, vom Boot aus sehen wir halb zer­fal­lene Holz­häu­ser. „Die Umsied­lung begann, nach­dem Neu­fund­land 1949 Kanada ange­schlos­sen wurde“, beginnt Bruce mit ver­bit­ter­ter Miene. „Alles sollte zen­tra­li­siert wer­den. Das bedeu­tete, dass Fami­lien wie meine, die hier gebo­ren wur­den, ihr Haus hat­ten, ihren Gemü­se­gar­ten, ihre Fische­rei, die sonn­tags in die Kir­che gin­gen und von allen respek­tiert wur­den, auf ein­mal in Städte wie Cla­ren­ville umzie­hen soll­ten.“ Er schüt­telt trau­rig den Kopf. „Die Men­schen waren dort voll­kom­men aus ihrem Ele­ment geris­sen, viele kamen nie wirk­lich an.“ Er zeigt uns Fotos sei­ner Fami­lie, von Kin­dern, die in den Dör­fern spielten.

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„Das Schlimmste aber, was in Neu­fund­land je pas­siert ist, war der Stopp der Kabel­jau­fi­sche­rei 1992. Das war das Ende für viele von uns.“ Ich muss an den Fischer Billy aus Petty Har­bour den­ken und wie auch er sei­nen Lebens­un­ter­halt mit zusätz­li­chen Tou­ris­ten­tou­ren bestrei­tet. „Des­we­gen hei­ßen meine Boots­tou­ren ‚rug­ged beauty boat tours‘“, scherzt Bruce: „Es ist wirk­lich eine raue Schön­heit, die wir hier haben.“ Ob er damit die Ver­letz­lich­keit die­ser Schön­heit meint? Bemer­kens­wert ist, dass in die­ser Bucht auch meh­rere Filme gedreht wur­den, dar­un­ter ‚Ran­dom Pas­sage‘, wofür die Bar Joe’s Place kurz vor Bruces Hütte errich­tet wurde, ‚The ship­ping news‘ und ‚The grand seduction‘.

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Kaum hat Bruce seine Geschichte been­det, geht es wie­der volle Fahrt vor­aus – gera­de­wegs auf einen Eis­berg zu, der aus der Ferne win­zig erscheint, jedoch beim Näher­kom­men einige Meter Höhe erreicht. Noch nie habe ich einen Eis­berg aus sol­cher Nähe gese­hen und bin hin und weg von der Eis­skulp­tur, die in der Sonne zu schwit­zen scheint. „Noch näher kann ich nicht ran­fah­ren, man weiß nie, was sich unter Was­ser befin­det“, erklärt Bruce in einem Abstand von etwa fünf Metern. Ins­ge­samt sol­len sich an die 90% des Eis­bergs unter Was­ser befin­den, sodass die sicht­bare Spitze nur ein ver­schwin­dend klei­ner Teil ist. Genau wie Erfolg im Leben, im Ver­gleich zu der unend­li­chen Mühe, die man auf­wen­det, um diese Spitze zu erklim­men, denke ich mir.

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In der Regel bleibe ein Eis­berg etwa ein bis zwei Wochen bestehen, je nach­dem, wie schnell sich die Stück­chen von ihm lös­ten. Bei dem Exem­plar vor uns erkennt man an einer Stelle bereits eine feine, hell­blaue Linie, an der die Eis­skulp­tur frü­her oder spä­ter zer­bre­chen wird. Bruce dreht eine Runde nach der ande­ren um den Eis­berg, um den herum das Was­ser tür­kis­far­ben schil­lert. So viel Ele­ganz, so viel natür­li­che Schön­heit. Ein Stück Natur, das so weit gereist ist, nur, um dann inner­halb weni­ger Wochen zu Nichts zu ver­fal­len. Genau wie alles im Leben. Wie wir Men­schen auch.

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Tri­nity, mein Lieblingsdorf

Es gibt Orte, da kommt man an und könnte blei­ben. Für mich ist Tri­nity einer davon. Eine der soge­nann­ten Kul­tur­erbe-Gemein­den mit zahl­rei­chen his­to­ri­schen Gebäu­den, für deren Erhalt sich viele Men­schen über die letz­ten Jahr­zehnte ein­ge­setzt haben und die heute sorg­fäl­tig restau­riert sind. Schon von Wei­tem prä­sen­tiert sich das Dorf mit gerade mal 36 stän­di­gen Ein­woh­nern mit sei­nen bun­ten Holz­häu­sern vor einem Lupi­nen­feld von sei­ner abso­lu­ten Sahneseite.

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Hier ler­nen wir vor dem Arti­san Inn, einer der zahl­rei­chen gemüt­li­chen Unter­künfte, Tineke und ihre Toch­ter Marieke Gow ken­nen. „Mein Mann John und ich kamen Mitte der 70er Jahre erst­mals nach Tri­nity, nach­dem wir nach Neu­fund­land gezo­gen waren“, erzählt uns die gebür­tige Nie­der­län­de­rin Tineke. „Wir haben uns sofort in das Dorf ver­liebt und ein altes Haus gekauft, das wir Gover House nann­ten.“ Damals habe es noch kein flie­ßen­des Was­ser gege­ben und beim Haus auch kei­nen Brun­nen. Als dann Ende der 80er auch das Nach­bar­haus zum Ver­kauf ange­bo­ten wurde, erwar­ben es die Gows wegen sei­nes Brun­nens – und lie­ßen sich von den Ein­hei­mi­schen über­zeu­gen, das Haus, das zu den fünf ältes­ten vor Ort zählte, zu ret­ten. „1992, nach dem Zusam­men­bruch der Kabel­jau­fi­sche­rei, began­nen wir unser Business.“

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Fran­ziska und ich sowie Katja, eine wei­tere Jour­na­lis­tin aus der Gruppe, tei­len uns ein blaues Cot­tage neben dem Arti­san Inn und stel­len uns sofort vor, wir wür­den hier eine WG grün­den. In dem uri­gen Holz­haus mit drei Schlaf­zim­mern, zwei Bädern sowie einer gro­ßen Wohn­kü­che, Ter­rasse und einem rie­si­gen Gar­ten mit See­blick ver­stärkt sich mein Gefühl, dass ich hierhergehöre.

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Im Schein der unter­ge­hen­den Sonne spa­ziere ich allein zum Hafen, wo tief­hän­gende Wol­ken soeben den gegen­über­lie­gen­den Leucht­turm auf einer Insel weich ein­pa­cken. In die­sem Dorf ist ein bun­tes Holz­haus hüb­scher als das Nach­bar­haus, ist ein Gebäude net­ter restau­riert als das Nächste. Oft sagt man, es gäbe keine voll­kom­mene Schön­heit, und schon gar keine von Men­schen­hand geschaf­fene, doch diese hier kommt ver­däch­tig nah an Per­fek­tion heran. Auf einer Holz­treppe vor einem der Häu­ser dösen zwei Kat­zen, mit denen ich sofort tau­schen würde, um hier noch mehr Zeit ver­brin­gen zu können.

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Obwohl ich schon etwas spät zum Abend­essen mit Tineke und Marieke dran bin, zieht mich das weiße Kir­chen­ge­bäude magisch an, vor dem auf Stein­plat­ten die Namen lange Ver­stor­be­ner ste­hen. Die Kir­che, die innen voll­kom­men aus Holz besteht, emp­fängt mich mit einem über­wäl­ti­gen­den Geruch aus altem und neuem Holz – mit einem Geruch nach Heim­kom­men aus der Natur und in die Natur. Hier könnte ich stun­den­lang sit­zen­blei­ben und zuschauen, wir das däm­me­rige Licht hin­term Kir­chen­fens­ter lang­sam verschwindet.

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Mit einem gro­ßen Lächeln auf den Lip­pen komme ich beim ‚Twine Loft‘ Restau­rant an, auf des­sen Ter­rasse ein Pär­chen der Sonne beim Unter­ge­hen zusieht. In dem hübsch als Restau­rant her­ge­rich­te­ten, ehe­ma­li­gen Schup­pen haben die Gows eine lange Tafel mit fri­schen Blu­men für uns berei­tet. „Zuerst wollte ich hier fort und in der Stadt leben“, erzählt Marieke Gow, die neben mir sitzt. „Aber meine Mut­ter bat mich, mit ins Hotel­busi­ness ein­zu­stei­gen, und solange ich mit­helfe, darf ich auch in unse­rem gel­ben Haus woh­nen“, lacht sie. Zu den immer aus­ge­las­se­ner wer­den­den Gesprä­chen genie­ßen wir das beste Abend­essen der Neu­fund­land-Tage, wobei am leckers­ten der Pud­ding mit hei­ßer Screech-Soße schmeckt.

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Nach dem üppi­gen Essen unter­neh­men Fran­ziska, Katja und ich einen Ver­dau­ungs­spa­zier­gang durchs Dorf, an des­sen Holz­häu­sern gelbe Lam­pen  ihren Schein über die ver­las­se­nen Stra­ßen wer­fen. Ich komme mir vor wie in einem Krimi, in dem bald ein gel­len­der Schrei durch die Nacht tönen würde. Die Mädels sagen mir, ich hätte zu viel Fan­ta­sie. Statt bei einer Lei­che lan­den wir im ein­zi­gen Pub des Ortes, Rocky’s Place, wo wir mit Ron ein paar Run­den Bil­li­ard und Darts spie­len. Hier steppt nicht gerade der Bär – wir sind an die­sem Abend die ein­zi­gen Kun­den – doch ich könnte mir kei­nen schö­ne­ren Ort vor­stel­len. Noch lange laufe ich danach durch die Nacht und bleibe vor einem roten Holz­haus mit sechs Lam­pen sit­zen, die sich auf dem Mee­res­was­ser davor spiegeln.

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Es ist still, voll­kom­men still. Ich glaube sogar zu hören, wie sich die Wol­ken vor die Sterne schie­ben. Aber natür­lich spinne ich nur. Noch jetzt, wenn mich der All­tag mit sei­nen klam­mern­den Pro­ble­men wie­der im Griff hat, stelle ich mir oft vor, ich wäre in Tri­nity. Auf einem sei­ner Hügel, den Wind in den Haa­ren, die Sonne auf dem Gesicht und die Schön­heit im Blick.

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Eis­berg zum Zweiten

Der nächste Ort nach Tri­nity im Nor­den ist Ellis­ton, das sich auch ‚Wur­zel­kel­ler-Haupt­stadt‘ nennt. Wur­zel­kel­ler, auf Eng­lisch ‚root cel­lars‘, sind frei­ste­hende Struk­tu­ren über oder unter der Erde, wo im Win­ter Gemüse gela­gert wurde. Zur Haupt­stadt der inter­es­san­ten Struk­tu­ren wurde Ellis­ton im Jahre 2000, als es mit ins­ge­samt 133 doku­men­tier­ten Wur­zel­kel­lern auf­war­ten konnte. Kaum errei­chen wir die Region, erspä­hen wir auch schon die run­den, stei­ni­gen Gewölbe, von Gras über­wach­sen, die aus­se­hen wir über­di­men­sio­nale Maul­wurf­hau­fen mit Holz­tü­ren. In die­sen Kel­lern konnte Gemüse pro­blem­los über­win­tern, ohne zu erfrie­ren oder zu verderben.

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Außer den Wur­zel­kel­lern hat Ellis­ton auch noch eine Insel vol­ler Papa­gei­en­tau­cher zu bie­ten. Dum­mer­weise sind die meis­ten der toll­pat­schi­gen Vögel gerade zum Fisch­fang auf See, als wir um die Mit­tags­zeit ankom­men, und doch ste­cken einige immer wie­der neu­gie­rig die Köpfe aus ihren Höh­len oder set­zen zu Flug­ver­su­chen an. Ich ver­su­che, sie vom Fest­land gegen­über ganz nah vor die Kame­ra­linse zu bekom­men, doch die Tiere sind abso­lut keine geeig­ne­ten Foto­mo­delle. Spä­ter soll ich lange daran sit­zen, die Bil­der von abge­hack­ten Köp­fen, Flü­gel­tei­len, oran­ge­nen Füßen oder Hin­ter­tei­len auszusortieren.

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Der nörd­lichste Stopp ist Bona­vista, Namens­ge­be­rin der Halb­in­sel und ehe­ma­lige Kabel­jau-Haupt­stadt Neu­fund­lands. Heute ist sie bekannt für ihre vie­len, wohl­erhal­te­nen Holz­fach­werk­häu­ser und für die intak­tes­ten his­to­ri­schen Gebäude der Insel, wovon die ältes­ten aus dem frü­hen 17. Jahr­hun­dert stam­men. „Wäh­rend in ande­ren Städ­ten Feuer im 18. und 19. Jahr­hun­dert die alten Gebäude zer­stör­ten, hatte Bona­vista Glück“, erzählt John Nor­man von Bona­vista Living, das sich seit 2010 für den Erhalt und die Restau­ra­tion der jahr­hun­der­te­al­ten Häu­ser ein­setzt. „Ins­ge­samt haben wir hier 1006 regis­trierte his­to­ri­sche Gebäude, von denen man­che auch als Geschäfte genutzt wer­den. Heute kom­men junge Leute aus ver­schie­de­nen Län­dern hier­her, mitt­ler­weile zäh­len wir sogar 22 Nationen.“

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In eini­gen der Häu­ser befin­den sich nun Restau­rants oder Pubs, ein Sei­fen­ge­schäft, ein Hand­ar­beits­la­den und sogar eine Eis­diele, die lecke­res, haus­ge­mach­tes Eis verkauft.

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Da dies eis­tech­nisch natür­lich bei Wei­tem nicht reicht, geht es auf zur nächs­ten Boots­tour. Ich lande mit einer 16-köp­fi­gen kana­di­schen Fami­lie auf dem Unter­deck, neben einer so patrio­ti­schen Kana­die­rin, dass sogar ihre Fuß­nä­gel von der kana­di­schen Flagge geziert wer­den. Sie habe das von einem Profi auf­ma­len las­sen, erzählt sie mir stolz.

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„Ich möchte etwas Eis­ber­geis für mei­nen Gin spä­ter mit­neh­men“, ermahnt sie dar­auf­hin einen der Boots­jun­gen, der ihr ver­spricht, den Wunsch zu erfüllen.

Wir brau­chen nur wenige hun­dert Meter aus dem Hafen raus­zu­fah­ren, und schon befin­den wir uns Auge in Auge mit der ers­ten Eis­skulp­tur, die bereits in drei Ein­zel­teile zer­fal­len ist. Mich fas­zi­nie­ren die abs­trak­ten For­men – kein Eis­berg ist wie der nächste. Das Ein­zige, das sie sich tei­len, ist das um sie herum in der Sonne tür­kis schil­lernde Was­ser – dort, wo die große, gefähr­li­che Masse des Eis­bergs unter Was­ser ver­bor­gen liegt.

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Schon erscheint die nächste Eis­skulp­tur am Hori­zont, auf die wir gera­de­wegs zuhal­ten. Die Kana­die­rin neben mir will noch immer Eis für ihren Gin, der Boots­junge lächelt zuver­sicht­lich. Tat­säch­lich schwimmt uns schon in eini­ger Ent­fer­nung ein Tep­pich aus klei­ne­ren und grö­ße­ren Eis­stü­cken ent­ge­gen, der alle an Bord jubeln lässt. Der Boots­junge schnappt sich ein Fischer­netz und geht angeln. Zurück kommt er mit einem Netz vol­ler fri­scher Eis­stü­cke, an denen wir uns bedie­nen dürfen.

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Glück­lich lut­schen die Pas­sa­giere an dem viel­leicht 25.000 Jahre alten Eis. Es schmeckt so pur wie kein Was­ser oder Eis­wür­fel, die ich zuvor pro­biert habe. Oder bilde ich mir das nur ein?

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Die­ser Eis­berg sieht aus wie die Jacht irgend­ei­nes rei­chen Pin­kels, die er sie sich nur zuge­legt hat, um anzu­ge­ben. Die Reise endet am Bona­vista Dun­geon, einer ein­ge­fal­le­nen See­höhle, ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für die Kraft des Atlan­tik, der jeden Tag, jede Stunde, Minute und Sekunde, auf diese Fel­sen einpeitscht.

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Der Kreis schließt sich 

Das letzte High­light der Pres­se­reise ist der 5,3 Kilo­me­ter lange Sker­wink Trail zwi­schen Tri­nity und Port Rex­ton, ein Rund­weg über die Klip­pen und über wal­dige Pfade, der zu den schöns­ten Wan­der­we­gen Neu­fund­lands zählt.

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Larry hüpft mun­ter voran, zeigt uns immer wie­der ver­schie­dene Pflan­zen und Blu­men, von denen mir beson­ders die soge­nann­ten ‚Lady‘s slip­pers‘, Damen­pan­tof­feln, in Erin­ne­rung blei­ben – eine Art Pant­öf­fel­chen, aber in Rosa.

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Immer wie­der lau­fen wir an Tuck­amore-Bäu­men vor­bei, einem Fich­ten­baum, den es nur an den win­di­gen Küs­ten Neu­fund­lands geben soll. Kaum sind wir einige Meter gegan­gen, blei­ben wir wie ange­wur­zelt ste­hen: Vom Meer aus sprü­hen uns Fon­tä­nen ent­ge­gen, als woll­ten uns die Wale zum Abschied win­ken, so, wie sie uns bei unse­rer Ankunft in Quidi Vidi begrüßt haben. „Hier gibt es beson­ders viel Kape­lan“, erzählt Larry – kein Wun­der also, dass sich min­des­tens sechs Wale vor unse­ren Augen auf die Jagd bege­ben. Ich habe es auf­ge­ge­ben, ihnen mit der Kame­ra­linse zu fol­gen, möchte das ein­ma­lige Schau­spiel lie­ber noch ein­mal mit blo­ßem Auge ver­fol­gen und in mei­nem Kopf spei­chern statt auf mei­nem Computer.

Hier ist jeder Moment etwas Beson­de­res, kein Aus­blick gleicht dem ande­ren. Tief dort unten, vor der zer­klüf­te­ten Küste, rauscht der Atlan­tik, doch das Schäu­men der Wel­len dringt kaum zu uns hoch. Zwi­schen den ver­schie­de­nen Aus­sichts­punk­ten geht es durch Wald, oft vor­bei an einer Art beson­ders fins­te­rer, abge­ma­ger­ter Trau­er­wei­den, die laut Ron „old men’s beard“ hei­ßen. Passt – sie haben wirk­lich etwas von dem Bart eines sehr alten Man­nes. „Einige Bäume wur­den hier zum Boot­bauen geschla­gen“, berich­tet Larry, denn frü­her habe es in jedem Dorf min­des­tens drei oder vier Leute gege­ben, die Boote bauen konnten.

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Manch­mal lasse ich mich zurück­fal­len, atme durch und sauge die Stille in mir auf, für Momente, wenn mich das Geplap­per des täg­li­chen Lebens mal wie­der aus dem Gleich­ge­wicht bringt. Genau dies ist es, was mir viele Rei­sen geben – sie fül­len mei­nen Tank mit Schön­heit, Frie­den und Stille, den ich immer wie­der anzap­fen kann. Ich denke dar­über nach, warum mir Neu­fund­land so gut gefällt, und die Ant­wort ist nicht schwer zu fin­den. Hier habe ich noch das Gefühl, zu leben, statt gelebt zu werden.

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Dies ist der letzte Tag der Pres­se­reise, doch ich habe das Glück, noch vier wei­tere Tage alleine auf der Insel zu blei­ben und an die West­küste zu fah­ren. Manch einen aus der Gruppe werde ich ver­mis­sen, doch ich freue mich auch dar­auf, noch ein paar Tage für mich zu haben, in die­ser immensen Weite, in die­ser Natur, in der ich mich leben­dig fühle. Der Wind säu­selt um die alten Baum­stämme und ich denke an Bryan Adams. Der Sän­ger hatte recht. Neu­fund­land würde schon ein ganz net­tes ach­tes Welt­wun­der abgeben.

Fort­set­zung folgt.

Diese Reise wurde orga­ni­siert und unter­stützt von Desti­na­tion Canada, http://de-keepexploring.canada.travel/

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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

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