Wie wird es sein, wieder zu reisen?

Ich bin dann mal weg. Nicht in einer frem­den Stadt, in kei­nem weit ent­fern­ten Land oder zumin­dest gera­de auf dem Weg zum Flug­ha­fen. Ich bin im Park um die Ecke. Son­ne tan­ken, auf einer Bank sit­zen, den Vögeln lau­schen. Das ist jetzt alles, was geht, das höchs­te der Gefüh­le. Nie klan­gen Wor­te wie Amal­fi­ta­na, Mar­ra­kesch und Sula­we­si so fremd und ent­rückt. Und so klang­voll-schön. Mir fehlt etwas.

Wir kön­nen nicht mehr hin­aus in die Welt. Nein, wir kön­nen nicht ein­mal mehr ins Lokal um die Ecke. Social Distancing, #sta­ya­thome: Fast alles fährt run­ter, unse­re Welt endet im nächs­ten Super­markt vor Rega­len mit Mehl und Flüs­sig­sei­fe. Was tun in die­ser Zeit der ver­schwin­den­den Hori­zon­te?

Am Anfang war Aktio­nis­mus: Die Tex­te, die ich schon lan­ge im Kopf hat­te, soll­ten end­lich hin­aus aufs Papier. Die Spra­che, die ich ler­nen woll­te, soll­te end­lich hin­ein in den Kopf. Natür­lich auch jeden Tag Sport, viel mehr lesen, mal neue Gerich­te aus­pro­bie­ren. Als die Zeit sich plötz­lich merk­wür­dig aus­dehn­te, woll­te ich an der Beschleu­ni­gung fest­hal­ten, noch ein­mal aufs Gas drü­cken. Aber nach zwei Wochen gab ich alle neu­en Rou­ti­nen schritt­wei­se auf. Wie­so? Sie schie­nen nir­gend­wo hin zu füh­ren. Mir war die Vor­freu­de abhan­den gekom­men.

Die Tref­fen mit Fami­lie und Freun­den, das eine Glas Wein zu viel in guter Gesell­schaft, die rau­schen­den Par­tys und natür­lich – frem­de Orte sehen: Alles, was in nor­ma­len Zei­ten die Gleich­för­mig­keit der Tage auf­bricht, war nicht mehr mög­lich. Alles schien selt­sam belie­big. Es heißt, man soll sich an den klei­nen Din­gen erfreu­en, und das ist zwei­fel­los rich­tig: Wer das Schö­ne im Klei­nen nicht sieht, ist auch blind für die gro­ße Poe­sie des Lebens. Trotz­dem lebt der Mensch davon, Plä­ne zu machen, die über den Tag hin­aus­ge­hen und als bedeu­tend erach­tet wer­den. Der Mor­gen­kaf­fee oder ein Spa­zier­gang in der Son­ne sind auf Dau­er dürf­ti­ge Platz­hal­ter.

Nun gab es nichts mehr zu pla­nen: kein Tirol, New York, Mon­te­ne­gro, Äthio­pi­en. Ich saß manch­mal ein­fach auf dem Sofa und schau­te minu­ten­lang durch den Raum, das hat­te ich Jah­re nicht mehr getan. Ich merk­te, wie ich mir für alles wie­der mehr Zeit nahm: auf eine Nach­richt ant­wor­ten, tele­fo­nie­ren, nach­den­ken. Ich muss­te nichts Gro­ßes voll­brin­gen. Die Coro­na-Kri­se war kein Selbst­op­ti­mie­rungs-Retre­at. Eher eine Gele­gen­heit, mal die Prio­ri­tä­ten zu hin­ter­fra­gen.

Es war ja erstaun­lich, wie schnell die Pus­te aus­ging. Flug­zeu­ge, die schein­bar so natür­lich wie Vögel ihre Bah­nen am Him­mel gezo­gen hat­ten, stan­den am Boden. Gigan­ten der Rei­se­bran­che brauch­ten bin­nen weni­ger Wochen soge­nann­te liqui­de Mit­tel. Man sah, wie unfass­bar viel Geld und Arbeits­plät­ze hin­ter dem Bedürf­nis steck­ten, einen ande­ren Ort der Welt auf­zu­su­chen für ein biss­chen Abwechs­lung, um sich dort zu ver­lie­ren oder selbst zu fin­den – oder ein­fach Fün­fe gera­de sein zu las­sen.

Natür­lich, Tou­ris­ten sind immer die ande­ren. Man selbst ist Rei­sen­der. Aber man war trotz­dem dabei gewe­sen, beim gro­ßen Dau­er­rei­se-Boom der letz­ten Jah­re, hat an die­sem Bil­lig­flie­ger-Hedo­nis­mus lust­voll par­ti­zi­piert, auch wenn der Kof­fer in Tegel manch­mal erst am nächs­ten Tag ankam – was war das für eine Zumu­tung, nicht wahr? Immer mehr ging immer güns­ti­ger: Wochen­end-Trips nach Riga, fünf Tage Marok­ko, eine Woche Anda­lu­si­en mit dem Miet­wa­gen. Gefühlt muss­te auch jeder mal nach Bali und Süd­afri­ka. Rei­sen als Sta­tus­sym­bol und Sinn­stif­ter.

Was machen wir nun, da wir nicht mehr rei­sen kön­nen? Ein Luxus­pro­blem, völ­lig klar. Vie­le Men­schen haben auch ohne Kurz­ar­beit und Auf­trags­flau­te nicht das Geld, in den Urlaub zu fah­ren. Nun sind Exis­ten­zen bedroht. Angst­wort Rezes­si­on. In Kran­ken­häu­sern und Pfle­ge­hei­men schuf­ten unter­be­zahl­te Frau­en und Män­ner bis an die Gren­zen ihrer Kraft, weil wir geglaubt haben, auch das Gesund­heits­sys­tem las­se sich nach markt­wirt­schaft­li­chen Regeln am bes­ten orga­ni­sie­ren.

Gibt es nichts Wich­ti­ge­res, als über die Zukunft des Rei­sens zu reden? Abso­lut, einer­seits. Ande­rer­seits: Wie wir rei­sen und war­um, zeigt schon auch sehr gut, wer wir sind, wie wir leben, wer wir sein wol­len. Zeit für ein paar Fra­gen also:

  • War­um muss im Urlaub immer alles toll sein?
  • Muss man wirk­lich für zehn Tage nach Thai­land?
  • War­um nicht mal für eine gan­ze Woche nach Bar­ce­lo­na, Rom oder Buda­pest statt nur für zwei­ein­halb Tage?
  • Heißt immer mehr sehen wirk­lich mehr sehen?
  • War­um wird uns so furcht­bar schnell lang­wei­lig?
  • Für wen sind all die Sel­fies?
  • Woll­ten wir auch dann noch in die USA oder nach Asi­en, wenn das Flug­ti­cket das Dop­pel­te oder Drei­fa­che kos­ten wür­de, weil die exter­nen Kos­ten der Kli­ma­be­las­tung ange­mes­sen ein­ge­preist wur­den?
  • Sind acht Stun­den Zug­fahrt nicht erha­be­ner als zwei Stun­den flie­gen?
  • Ist es womög­lich wich­ti­ger, wie wir rei­sen statt wohin?
  • Hat­te Hans Magnus Enzens­ber­ger viel­leicht Recht?
  • Mein Haus, mein Auto – mei­ne Rei­se?
  • Wie kön­nen wir einem Rei­se­ziel gerecht wer­den, wenn ein Schiff uns irgend­wo für weni­ge Stun­den absetzt, damit wir eilig zur bekann­tes­ten Sehens­wür­dig­keit has­ten, wäh­rend Bil­lig­löh­ner an Bord mona­te­lang im Schicht­be­trieb ackern, weil sonst das Geschäfts­mo­dell kol­la­biert, was wir mit dem Argu­ment abtun, dass die­se Men­schen in ihren Hei­mat­län­dern ja sonst gar nichts hät­ten?
  • Soll­ten wir die Eis­bä­ren nicht ein­fach in Frie­den las­sen?
  • Gibt’s da auch eine inha­ber­ge­führ­te Pen­si­on statt ein Rie­sen-Resort?
  • Was sagt es über uns aus, wenn wir das „wil­de Afri­ka“ suchen oder Erleb­nis­se „wie aus 1001 Nacht“ (O‑Ton Rei­se­ka­ta­lo­ge)?
  • Was bedeu­tet Tou­ris­mus auf Augen­hö­he?
  • Was möch­te ich aus der Fer­ne mit nach Hau­se neh­men?
  • Wor­um geht‘s mir eigent­lich?

Das sind selbst­ver­ständ­lich Fra­gen, die jeder für sich selbst beant­wor­ten muss. Ich wage auch kein Pro­gno­se, wie es mit der Tou­ris­mus­bran­che wei­ter­geht, wenn die Coro­na-Pan­de­mie ein­mal aus­ge­stan­den ist. Lang­wei­li­ge The­se: Es wird nicht alles anders, aber es wird auch nicht alles so blei­ben, wie es war.

Eine Fra­ge fehlt noch: Wann kön­nen wir bit­te end­lich wie­der los?

Nicht, dass hier Miss­ver­ständ­nis­se auf­kom­men. Gera­de ist ja die Zeit der Klein­geis­ter, die schon immer gewusst haben wol­len, dass die gan­ze Rei­se­rei Unsinn ist. Ich will kei­nes­wegs denen das Wort reden, die die Welt da drau­ßen ohne­hin nie inter­es­siert hat, die sich hin­ter ein­fäl­ti­gen Mei­nun­gen ver­bar­ri­ka­diert haben und sich ein ande­res Dasein als ihr eige­nes nicht vor­stel­len kön­nen und möch­ten, weil das ihre Vor­ur­tei­le erschüt­tern könn­te. Nein, für sie ist die­ser Text nicht geschrie­ben.

Wenn ich eine Pro­gno­se für die Zeit nach Coro­na machen müss­te, dann wäre es die­se: Das Rei­sen wird so schön sein wie nie­mals zuvor! Wir wer­den es viel­leicht wie­der als das Pri­vi­leg anse­hen, das es ist. Viel­leicht wer­den wir uns dar­an erin­nern, was das Rei­sen auch sein kann abseits von Erho­lung, Zer­streu­ung und auf­re­gen­den Erleb­nis­sen: eine Mög­lich­keit, den eige­nen Hori­zont zu ver­schie­ben und sich wirk­lich mit der Welt in Ver­bin­dung zu set­zen. Schau­en, was man noch den­ken und füh­len könn­te. Wenn aus dem Glück des Rei­sens erst ein­mal wie­der das Glück zu rei­sen wird, dann wer­den wir erken­nen, was es uns wirk­lich bedeu­tet – und war­um wir es über­haupt tun. Sehn­sucht nach dem Tun, nicht nach dem Getan-Haben.

Wie wird es sich anfüh­len, wie­der einen exo­ti­schen Geschmack auf der Zun­ge zu haben, wäh­rend drum her­um das Leben einer Mil­lio­nen­me­tro­po­le unab­läs­sig vibriert? Wie wird es sein, wie­der aus den Tälern in die Ber­ge zu stei­gen, wäh­rend der Mor­gen­tau in den Wie­sen hängt? Wie wird der Sound der Wel­len in den Ohren klin­gen, wenn die Son­ne im Meer ver­sinkt? Ich kann es kaum erwar­ten. Bis es soweit ist, gehe ich noch eine Run­de in den Park, den Vögel lau­schen.

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Antworten

  1. Avatar von Finja Petersen

    Hal­lo Phil­ipp,

    das ist ein ganz tol­ler Arti­kel. DANKE, dass Du uns an Dei­nen Gedan­ken und Hin­ter­fra­gun­gen teil­ha­ben lässt. Für mich ist Rei­sen defi­ni­tiv auch mehr als Kon­sum. Ich lie­be mein Zuhau­se und auch über den Tel­ler­rand zu schau­en. Rei­sen ist für mich immer ein klei­nes Aben­teu­er und eine pure Freu­de. Irgend­wann wer­den wir wie­der rei­sen kön­nen. Die Vor­freu­de ist groß. Alles Gute für Euch!

    Gruß, Fin­ja

  2. Avatar von Katharina Schlangenotto

    Hal­lo Phil­ipp, vie­len Dank für die­sen klu­gen Arti­kel. Ja, mir gehen die­se Gedan­ken und Fra­gen auch durch den Kopf, immer schon, ich habe mal Tou­ris­mus stu­diert, weil ich raus in die Welt woll­te. Ich bin 45, als ich 20 war, gab es das ein­fa­che Rei­sen, wie es heu­te Gang und Gäbe ist, noch nicht. Und immer schon hat­te ich ein Pro­blem mit Mas­se. Wenn etwas zu All­ge­mein­gut wird, kann es gefähr­lich wer­den für Desti­na­tio­nen und Orte, die man ein­mal besucht hat, weil sie einem ein Gefühl ver­mit­telt haben, etwas wie Ruhe, Zuver­sicht, Ver­trau­en, ein­fach »peace of mind«.
    Ich wür­de Dei­nen Satz »Ich rei­se, also bin ich« noch um »…bin ich WER« erwei­tern. Mir scheint es schon so, dass wir uns auch über die Zie­le defi­nie­ren, die wir schon bereist haben. Frei nach dem Kon­sum-Mot­to: je mehr, je bes­ser. Wie, das warst Du noch nie?! Frü­her haben wir über die Japa­ner geschmun­zelt, doch Prä-Coro­na haben wir uns kein biss­chen anders ver­hal­ten. Und ver­mut­lich noch nicht ein­mal dar­über nach­ge­dacht.
    Ich wün­sche mir sehr, dass die­se Zeit etwas mit uns macht, auch mit mir selbst im Übri­gen, ich ertap­pe mich ja selbst dabei. Etwas macht nicht im Sin­ne von »frü­her war alles bes­ser«, son­dern zurück zu einem ver­hält­nis­mä­ßi­gen Umgang mit Din­gen, Orten und Men­schen, dem eige­nen Ver­hal­ten. Ommmmm. 🙂

  3. Avatar von Sabrina

    »Ande­rer­seits zeigt mir Coro­na, dass Rei­sen für mich defi­ni­tiv mehr ist als Kon­sum.« – Ja, das unter­schrei­be ich 100%. Mich macht es trau­rig, fest­zu­sit­zen auf mei­nem nicht so gern sit­zen­den Hin­tern (wie mei­ne Mama immer sagt). Jeden Tag die sel­be öde Stadt sehen, in der ich nur woh­ne, weil mei­ne Fami­lie und Freun­de hier sind. Rei­sen bedeu­tet für mich schon die Frei­heit, dem faden All­tag zu ent­flie­hen, auch wenn ich auch da ver­su­che, mir die Umge­bung daheim so schön zu machen wie irgend­wie mög­lich. Und sei es nur an einem Tag in die Ber­ge, aber nicht mal das ist aktu­ell erlaubt (ist es glück­li­cher­wei­se bald wie­der).
    Jeder soll sein Glück dort fin­den, wo er es eben fin­det – blöd ist es halt aktu­ell, wenn das per­sön­li­che Glück auf Rei­sen liegt. Kei­ne Fra­ge, ich bin nicht unglück­lich mit mei­nem Leben, aber einen gro­ßen Teil mei­nes inne­ren Frie­dens machen eben Rei­sen oder Wan­de­run­gen aus und da bin ich nicht die ein­zi­ge.

  4. Avatar von Beate Ziehres

    Hal­lo Phil­ipp,
    ich lie­be Dei­nen Gedan­ken, dass das Rei­sen uns Mög­lich­keit gibt, den eige­nen Hori­zont zu ver­schie­ben und zu erwei­tern! Genau so sehe ich es auch: mal erfah­ren, wel­che Prio­ri­tä­ten in ande­ren Län­dern und Kul­tu­ren gesetzt wer­den und was die Leu­te woan­ders bewegt. Und ich den­ke, dass ver­ant­wor­tungs­vol­les Rei­sen eine Mög­lich­keit ist, Men­schen in weit­aus ärme­ren Län­dern an unse­rem rela­ti­ven mate­ri­el­len Reich­tum teil­ha­ben zu las­sen. Mein Gar­ten mag noch so schön und der Him­mel noch so blau sein – ich kann es nicht erwar­ten, wie­der los zu kom­men und freue mich schon rie­sig dar­auf!
    Gruß, Bea­te

  5. Avatar von Jenny

    Ver­dammt, genau die­se Idee für einen Arti­kel geht mir auch seit Tagen im Kopf her­um: Ist das Rei­sen, das wir gera­de so schmerz­lich ver­mis­sen, nicht auch ein­fach eine Aus­prä­gung des mate­ria­lis­ti­schen und ego­is­ti­schen Kon­sums, den wir Pau­schal­ur­lau­bern und Influen­cern gern arro­gant unter­stel­len? Auf die Zukunft des Rei­sens bin ich wirk­lich gespannt. Und den Arti­kel muss ich ja nun nicht mehr schrei­ben, yay, Zeit gespart. 😉

    Lie­be Grü­ße
    Jen­ny

    1. Avatar von Philipp Laage

      Man hat so ein biss­chen den Ein­druck: Ich rei­se, also bin ich. Ande­rer­seits zeigt mir Coro­na, dass Rei­sen für mich defi­ni­tiv mehr ist als Kon­sum.

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