Wie mich eine Reifenpanne meine Gesichtsbehaarung kostete

An einem typi­schen Tag in Ana­to­li­en wer­de ich von 50 bis 100 Autos grüs­send ange­hupt, bekom­me 3 Ein­la­dun­gen zum Tee­trin­ken und wer­de von einer Fami­lie an einem Rast­platz mit Börek, Lah­ma­cun oder Früch­ten beschenkt. Zwi­schen­durch habe ich gera­de noch Zeit mei­nen Tages­schnitt von 90 bis 100 Kilo­me­tern zu hal­ten und die Fluss­tae­ler, Ber­ge und Step­pen zu bestau­nen, durch die ich fah­re.

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Als Rad­rei­sen­der darf man sich hier zudem füh­len wie ein Star: Super­markt­an­ge­stell­te bit­ten um ein Foto mit mir vor der Gemü­se­ab­la­ge, ein Bae­cker bei dem ich Brot kau­fe foto­gra­phiert mich mit sei­nem klei­nen Sohn und trotz Sprach­bar­rie­re bemüht sich jeder den ich tref­fe mög­lichst viel über mich her­aus­zu­fin­den. Woher? Wohin? Alles mit dem Fahr­rad? Wo schlaefst du? Wie­vie­le Kilo­me­ter am Tag? Ganz allei­ne?

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Freund­li­che Ana­to­lier: Bae­cker, Ira­ni­sche Last­wa­gen­fah­rer und die Eng­lisch­klas­se von Ayşe in Ama­sya vor der ich einen Kurz­auf­tritt hat­te

Schon eini­ge Tage nach­dem ich die bei­den alten osma­ni­schen Staed­te Safranbo­lu und Ama­sya mit ihren schön restau­rier­ten Alt­staed­ten pas­siert hat­te – ich befand mich bereits im gra­du­el­len Anstieg auf die Höhen­la­gen des ost­ana­to­li­schen Pla­teaus – such­te ich eines Abends in einem engen Fluss­tal mit steil auf­ra­gen­den Fels­waen­den nach einem Zelt­platz. Als ich plötz­lich von einem regel­maes­si­gen, dump­fen »bump, bump, bump« vom Hin­ter­rad aus mei­nen Gedan­ken geris­sen wur­de. Sofort war ich mir sicher, dass ich eine ver­bo­ge­ne Fel­ge hat­te. Ich fluch­te laut­stark. Dies war einer der Pan­nen­ty­pen, für deren Repa­ra­tur ich mich unter­qua­li­fi­ziert fühl­te und die naechs­te Stadt lag 80 Kilo­me­ter ent­fernt hin­ter einem Pass. Dabei war es so ein schö­ner Abend gewe­sen. Ich stieg vom Rad um die Fel­ge zu ent­las­ten, stell­te bei der naechs­ten halb­wegs pas­sen­den Gele­gen­heit mein Zelt für die Nacht auf und beschloss das Pro­blem am naechs­ten Mor­gen in Angriff zu neh­men. Ziel muss­te es sein die Fel­ge durch Aen­de­rung der Spei­chen­span­nung so wie­der hin­zu­bie­gen, dass ich es noch bis nach Erzin­can schaff­te, wo ich hoff­te die Fel­ge aus­tau­schen zu kön­nen. Also stu­dier­te ich am Abend mein klei­nes Pan­nen­büch­lein für unter­wegs. Ich war schon des­halb unsi­cher was die­se Repa­ra­tur betraf, weil ich sie bis dahin nur ein­mal durch­ge­führt hat­te und die alte Fel­ge die ich sei­ner­zeit zu Übungs­zwe­cken genutzt hat­te einer Bre­zel anschlies­send nicht unaehn­lich war. Aber man waechst ja mit sei­nen Auf­ga­ben und tat­saech­lich bekam ich die Sache gut genug hin, dass ich mir ein­bil­de­te, nur noch ein mini­ma­les Ruckeln zu spü­ren.

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 Impro­vi­sier­tes Zen­trier­ge­stell gemaess mei­nes Pan­nen­büch­leins

 So schaff­te ich es über den 2100 Meter hohen Sakal­tu­tan Geçi­di nach Erzin­can. In der 95000-Ein­woh­ner Stadt, die in einem wei­ten Tal zwi­schen hohen, teils schnee­be­deck­ten Ber­gen lag, fand ich auch schnell einen Fahr­rad­la­den.

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Um die Fel­ge zu inspi­zie­ren und gege­be­nen­falls zu repa­rie­ren muss­ten natür­lich mei­ne fünf Taschen abge­nom­men und das Fahr­rad umge­dreht wer­den. Das Gan­ze fand auf der klei­nen Stras­se vor dem Laden statt und eine schnell grös­ser wer­den­de Zuschau­er­men­ge liess sich das Spek­ta­kel nicht ent­ge­hen. Der Fahr­rad­me­cha­ni­ker ver­stand sein Hand­werk und sah auf den ers­ten Blick was mir ent­gan­gen war: nicht der leich­te Ach­ter in der Fel­ge war das Pro­blem, son­dern eine Beschae­di­gung des Man­tels. Lan­ger Rede kur­zer Sinn war, dass ledig­lich der Man­tel aus­ge­tauscht wer­den musst und alles war gut.

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 Gut aus­ge­stat­te­ter Rad­la­den in Erzin­can

Dies soll uns nun aber gar nicht wei­ter inter­es­sie­ren. Wir wen­den uns einem Hand­lungs­strang zu, der begann als mir waeh­rend der Rad­in­spek­ti­on durch den Mecha­ni­ker ein Han­dy gereicht wur­de. Am ande­ren Ende war Emrah, der mir in gutem Eng­lisch anbot mich heu­te Nacht zu »hos­ten«, falls ich noch kei­ne Unter­kunft in Erzin­can hat­te. Hat­te ich natür­lich nicht, wes­halb ich das Ange­bot ger­ne annahm.

IMG_6569 Erzin­can

So lern­te ich Emrah ken­nen, einen 28-jaeh­ri­gen Dok­to­ran­den der Rechts­phi­lo­so­phie, der über einen beein­dru­cken­den, an den Sei­ten kur­zen und spitz nach unten zulau­fen­den, brau­nen Serj-Tan­ki­an-Voll­bart und eine ange­nehm ruhi­ge Stim­me ver­füg­te. Ich blieb für zwei Naech­te in sei­ner klei­nen Woh­nung in Erzin­can und wur­de waeh­rend mei­nes Auf­ent­halts in die Rad­fah­rer­sze­ne der Stadt ein­ge­führt: mit Emrahs Fahr­rad­club unter­nahm ich am naechs­ten Tag eine regen- und çay-rei­che Tour zu einem Was­ser­fall.

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IMG_6539 Unter­wegs mit den Jungs vom Erzin­can Fahr­rad­club (unten: Tür­ki­scher Çay)

Als ich dann am Abend mit Emrah durch Erzin­can lief, kam ihm die Idee mich zu einer tür­ki­schen Bar­t­ra­sur beim Kua­för sei­nes Ver­trau­ens zu über­re­den. Ich zöger­te zunaechst, weil ich um mei­nen coo­len Aben­teu­rer­look fürch­te­te, den mir mein sechs Wochen alter Voll­bart ver­lieh. Doch Emrah über­zeug­te mich, dass eine tür­ki­sche Rasur etwas Beson­de­res sei und ich es mir nicht ent­ge­hen las­sen dür­fe. Und so kam es, dass ich wenig spae­ter mit dem Gesicht vol­ler Schaum vor einem gros­sen Spie­gel sass, waeh­rend eine Rasier­klin­ge vor mei­nen Augen abge­flammt wur­de. Dem eigent­li­chen Haupt­teil, der Rasur, folg­ten meh­re­re uner­war­te­te und kurio­se Ele­men­te: Mit einem lan­gen, zahn­sei­de­ar­ti­gen Faden wur­den zunaechst auf eben­so wun­der­sa­me wie schmerz­haf­te Wei­se die klei­nen Haer­chen auf den Wan­gen ent­fernt, die der Rasier­klin­ge ent­kom­men waren.

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Rela­tiv bekannt ist das Abflam­men der Ohr­haer­chen mit einem Feu­er­zeug. Mehr über­rascht hat mich die Gesichts‑, Kopf- und Nacken­mas­sa­ge sowie das abschlies­sen­de Hair­sty­ling auf BWL-Stu­den­ten­look. Zuge­ge­ben, es war ein wei­ter Weg von der Rei­fen­pan­ne zur Bar­t­ra­sur, aber die Kau­sa­li­tae­ten­ket­te laesst sich nicht ver­leug­nen.

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Die Schoen­heit der ana­to­li­schen Hoch­ebe­ne


Antworten

  1. […] Sebas­ti­an sei­nen Bart kos­te­te. Die kom­plet­te Sto­ry der auf­re­gen­den Fahr­rad­tour könnt ihr auf Rei­se­de­pe­schen […]

  2. Avatar von Sebastian Haas

    Ich fand es auch unglaub­lich – ich bin ganz unbe­darft und ohne Erwar­tun­gen in die Tuer­kei gefah­ren und wur­de von der Land­schaft (und den Leu­ten und der Kul­tur) glatt umge­hau­en. Mitt­ler­wei­le bin ich bis Chi­na gefah­ren, doch die Tuer­kei ist immer noch mei­ne Ant­wort auf die Fra­ge: »Which was your favo­ri­te coun­try?«

  3. Avatar von Maria

    Wahn­sinns Land­schafts­bil­der und Hut ab für die Bewäl­ti­gung einer sol­chen Stre­cke 😉

  4. Avatar von Andreas Moser

    Land­schaf­ten wie gemacht für »Herr der Rin­ge« oder Fil­me über Mon­go­len­her­den. Wun­der­schön!

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