S

Spi­ri­tua­li­tät für Ungläu­bige in Indien

Ein wohl­be­kann­ter „Geheim­tipp“ in Nordwest-Indien:

„In Amrit­sar musst Du im gol­de­nen Tem­pel schla­fen!

Den Teu­fel muss ich tun! Ich bin all­er­gisch gegen „Du musst“ und gegen Spi­ri­tua­li­tät. Wegen einer gra­tis Über­nach­tung und kos­ten­freiem Essen schlafe ich nicht in einem Tempel.

goldentemple

Tem­pel­ein­gang

Ein Hei­den­kind im Tempel

Wenn Du im Nord­wes­ten von Indien unter­wegs bist, dann hörst Du unwei­ger­lich vom gol­de­nen Tem­pel in Amrit­sar, Hari­man­dir Sahib. Andere Rei­sende schwär­men von dem berühm­ten Sikh-Hei­lig­tum und lie­gen Dir damit im Ohr unbe­dingt eine Nacht in dem Tem­pel zu verbringen.

Eine Nacht in einem Tem­pel klingt für mich wie ein Alp­traum. Mit Spi­ri­tua­li­tät kann ich nichts anfan­gen. Der Welt irgend­eine Form von Über­na­tür­lich­keit zu unter­stel­len emp­finde ich als über­flüs­sig und weg­lass­bar. Mir reicht die Schön­heit der Welt und der phy­si­ka­li­schen Gesetze.

Ich komme in Amrit­sar an und suche mir ein güns­ti­ges Zimmer.

panorama

Hei­li­ger See

Kon­ver­tiert zur Spiritualität?

Einen Tag spä­ter stehe ich dann doch mit mei­nem Ruck­sack vor dem Schlaf­saal des gol­de­nen Tem­pels. Der Sikh, der hier Wache schiebt, sieht mich kurz an, nickt dann und weist mir wort­los lächelnd den Weg zum Schlaf­saal für Aus­län­der. Ich bekomme ganz selbst­ver­ständ­lich ein Bett und ein Schließ­fach zuge­teilt. Wie­viele Nächte ich blei­ben wolle? Eine oder zwei sage ich. Kein Problem!

Habe ich in nur 24 Stun­den eine spi­ri­tu­elle Ader ent­deckt? Nicht die Bohne. Du musst mit Spi­ri­tua­li­tät nichts am Hut haben um den gol­de­nen Tem­pel als einen wun­der­vol­len Ort zu schät­zen. Es ist mit Wor­ten schwer zu fas­sen, warum ich 2 Tage lang so viele Stun­den in dem Tem­pel ver­bracht habe und mich seit­dem dahin zurück sehne.

https://www.youtube.com/watch?v=DsxmqjsvncE#t=34

Wenn Du gerade die Mög­lich­keit hast Musik zu hören, starte die­ses Musik­vi­deo und lies weiter.

sonnehell2

Tem­pel­fas­sade

Kon­tem­pla­tion ohne Bullshit

Mit das Beste an dem Tem­pel ist, dass ein Besuch zu nichts ver­pflich­tet, es gibt keine obli­ga­to­ri­sche Spende, wie sonst in Indien. Der gol­dene Tem­pel ist auch kein Medi­ta­ti­ons­zen­trum. Hier wird kein Yoga-Kurs ver­kauft und auch keine spi­ri­tu­elle Erwa­chung. Du wirst nicht von „Pries­tern“ gezwun­gen ein „tra­di­tio­nel­les Ritual“ mit­zu­ma­chen und dann um eine Spende erleich­tert: „All cre­dit cards accepted“

Egal ob Du Christ, Hindu, Mus­lim, Sikh, Athe­ist oder Agnos­ti­ker bist, Du darfst Dich ein­fach nur in Ruhe umschauen und die Atmo­sphäre auf­sau­gen – stun­den­lang wenn Du willst! Und Du willst stun­den­lang dort blei­ben, denn der gol­dene Tem­pel lässt Dich nicht los!

turm

Tem­pel­an­la­ger

Ein­fach nur sein

Setze Dich wie die Pil­ger in den Schat­ten als Schutz vor der indi­schen Mit­tags­sonne und genieße ein­fach zu sein. Schaue den Men­schen zu und sieh Dich an der beson­de­ren Sikh Gurd­wara Archi­tek­tur mit ihrer gold-wei­ßen Farb­ge­bung satt. Besu­che anschlie­ßend das innere Hei­lig­tum und laufe ein­mal, zwei­mal um den See. Besich­tige das Museum und erkunde die rie­sige und eben­falls wun­der­schöne Tem­pel­an­lage um die eigent­li­che Gurdwara.

Der gol­dene Tem­pel ist eine will­kom­mene Flucht aus Indien. Es sind zwar zu jeder Tages­zeit Tau­sende Sikh Pil­ger im gol­de­nen Tem­pel, die Du an ihren far­bi­gen Tur­ba­nen und ihrem unge­scho­re­nen Bart­haar erkennst. Aber das Gelände ist so rie­sig, dass keine indi­schen Ver­hält­nisse auf­kom­men. Der Lärm, Gestank, Staub und das Men­schen­ge­dränge Indi­ens könnte genau­so­gut Mil­lio­nen Mei­len ent­fernt sein.

pilger

Pil­ger

Live Musik 24/​7

Die Schön­heit die­ses Ortes wirkt nicht zuletzt durch die Musik, die für eine ein­zig­ar­tige Stim­mung am hei­li­gen See sorgt. Die live Musik namens „Gur­bani Kir­tan“ wird über­all im Tem­pel per Laut­spre­cher über­tra­gen, hält sich aber schön im Hin­ter­grund. 4 Musi­ker sit­zen rund um die Uhr in dem inne­ren Hei­lig­tum, spie­len klas­si­sche Instru­mente und sin­gen dazu Verse aus dem hei­li­gen Buch der Sikh.

Die Musik lullt Dich ein und tut ihr übri­ges, damit die Stun­den ver­flie­gen. Das geht sogar zu Hause, denn Gur­bani Kir­tan gibt es online im Sikh-Radio. Das Sikh-Radio über­trägt die Lob­ge­sänge aus allen wich­ti­gen Sikh Tem­peln (Gurd­waras) welt­weit. Der gol­dene Tem­pel, Hari­man­dir Sahib ist die wich­tigste aller Gurd­waras und der geo­gra­phi­sche und spi­ri­tu­elle Mit­tel­punkt der Sikh.

nacht

22 Stun­den am Tag offen

Für das leib­li­che Wohl ist gesorgt

Ich mache den Tem­pel auch zu mei­nem Mit­tel­punkt und will ihn erst ein­mal nicht mehr ver­las­sen. Dazu besteht auch gar kein Grund, der Tem­pel ist fast 24 Stun­den am Tag geöff­net. An allen 4 Ecken gibt es Trink­was­ser und am süd­öst­li­chen Ende ist eine rie­sige Kan­tine. Das Essen dort ist sehr ein­fach, aber auch Roti, Dal und Joghurt schme­cken dank der ein­zig­ar­ti­gen Gefühls­welt sehr gut.

Unzäh­lige Hel­fer berei­ten rund um die Uhr Essen vor, tei­len es an die Pil­ger aus und spü­len anschlie­ßend das Geschirr. Die Arbeits­auf­tei­lung ist durch­or­ga­ni­siert bis ins Kleinste, sehr unge­wöhn­lich für Indien. Die Sikh sind sehr stolz auf ihre Geschäfts­tüch­tig­keit. Indi­sche Sikh sind im Schnitt wohl­ha­ben­der als andere Inder und es ist ihnen von ihrer Reli­gion aus ver­bo­ten zu betteln.

wache

Frei­wil­li­gen­dienst

Frewil­lige vor, aber nicht alle auf einmal

Das Bereit­stel­len von Essen ist für Sikh etwas Selbst­ver­ständ­li­ches. In jedem Sikh Tem­pel in Indien gibt es eine Essens­aus­gabe. Das Essen wird auf Spen­den­ba­sis bereit­ge­stellt: wer nichts hat, muss nichts zah­len. Die Logik die­ser Groß­zü­gig­keit ist bestechend. Wenn Dein Magen knurrt, hast Du für die Leh­ren der Sikh kein offe­nes Ohr.

Alle Hel­fer im Tem­pel sind Sikh und selbst Pil­ger. Sie leis­ten ihren Dienst im Tem­pel frei­wil­lig und wie es scheint mit gro­ßer Freude. So wie jeder Mus­lim ein­mal im Leben nach Mekka pil­gern soll, soll jeder Sikh ein­mal im Leben eine Woche Dienst im gol­de­nen Tem­pel tun. Bei rund 30 Mil­lio­nen Sikh welt­weit, hat der Tem­pel kei­nen Man­gel an enthu­si­as­ti­schen Freiwilligen.

Sikhs sind offen

Die Sikh behaup­ten offen gegen­über allen Men­schen und Reli­gio­nen zu sein und zumin­dest in ihren Tem­peln scheint das nicht nur ein lee­rer Spruch zu sein. Viel­leicht mag ich die Sikh und ihre Gurd­waras des­we­gen so sehr. In Kir­chen, Moscheen und Tem­peln fühle ich mich als Ungläu­bi­ger immer unwill­kom­men, obwohl Reli­gio­nen eigent­lich eine exo­ti­sche Fas­zi­na­tion für mich haben.

Ich werde von einem Sikh ange­spro­chen, der sehr gut Eng­lisch spricht. Er lebt in New York und will vor sei­nem Heim­flug in 3 Stun­den noch kurz den Tem­pel besu­chen. Ich werde immer wie­der im Lauf des Tages ange­spro­chen. Ein Pil­ger will eng­lisch üben, der andere ist nur neu­gie­rig. Anders als auf der Strasse in Indien macht es mir im Tem­pel nichts aus. Es ist unauf­dring­lich, die Men­schen star­ren zur Abwechs­lung den Tem­pel an, nicht nur mich.

mondnah

Mond­auf­gang

Stolze Män­ner mit Turbanen

Am nächs­ten Mor­gen wache ich im Schlaf­saal des gol­de­nen Tem­pel auf mit, einem guten Gefühl und einer neu­ge­won­ne­nen Wert­schät­zung für die stol­zen Män­ner mit den Tur­ba­nen. Ich ver­lasse den gol­de­nen Tem­pel nach 2 ent­spann­ten Tagen schwe­ren Her­zens. So stelle ich mir Spi­ri­tua­li­tät vor: Gebt mir einen wun­der­schö­nen Ort und meine Ruhe! Ich lasse mich zum Abschied zu einer ordent­li­chen Spende hinreissen.

Der gol­dene Tem­pel war mein dies­jäh­ri­ges Indien High­light, vor allem in Ver­bin­dung mit dem Sol­da­ten­tanz an der nahen Grenze zu Paki­stan. Im inter­na­tio­na­len Schlaf­saal habe ich sogar andere Back­pa­cker ken­nen­ge­lernt, eine Sel­ten­heit in Indien. Neben einem Chi­le­nen aus­ge­rech­net aus Puerto Varas traf ich sogar einen pas­sen­den Rei­se­part­ner für den nächs­ten Stre­cken­ab­schnitt nach Dharamsala.

Warst Du schon ein­mal in Amrit­sar und hast den gol­de­nen Tem­pel gesehen?

Cate­go­riesIndien
  1. Markus says:

    Nächs­ten Monat gehts für mich nach Indien. Bin gespannt wie es auf mich wirkt! Dein Arti­kel gibt auf jeden Fall einen super Ein­druck und bringt wirk­lich die Stim­mung rüber, so wie ich es mir vor­stelle. Danke, dass du sowas festhälst.

  2. Anna says:

    Schöne Worte :)
    Wir waren erst vor ein paar Tagen dort. Der Tem­pel lädt regel­recht zum durch­at­men, reflek­tie­ren ein. Ich war ganz ver­wun­dert wie oft wir uns mit Sikhs in (für indi­sche Ver­hält­nisse) sehr offe­nen Gesprä­chen wie­der­ge­fun­den haben!

    Grüße,
    Anna

  3. Nora says:

    Mehr als sie­ben Jahre ist es her, dass ich den gol­de­nen Tem­pel besucht habe.
    Dank dei­nem Bericht habe ich wie­der das Gefühl, als wäre es ges­tern gewe­sen. Die Wärme der Stein­plat­ten, die Gesänge, die Gerü­che, das Chaos bei der Schuh­ab­gabe.… Die Atmo­sphäre, die Men­schen, die Schön­heit des Tem­pels – alles ein­fach atemberaubend.

    Danke Danke Danke!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert