Näher am Paradies

Wie genau ich hier her gekom­men bin, das ist eine ande­re Geschich­te. Viel­leicht war es Vor­se­hung: Pro­vi­denz. Man­che Bewoh­ner der Insel sind der Auf­fas­sung, dass nur Aus­er­wähl­te hier her kom­men. Old Pro­vi­dence ist nicht ein­fach zu fin­den. Noch viel schwe­rer ist es, sie wie­der zu ver­las­sen. Sie sei »mas cer­ca del parai­so« – näher am Para­dies, sagen eini­ge. Ande­re mei­nen, die­ses Para­dies gibt es nicht. Aber nun der Rei­he nach.

»San Andrés is not my Home, Pro­vi­dence is my Home«

So lau­tet der Refrain des tra­di­tio­nel­len Lie­des »Hel­lo Pro­vi­dence«. San Andrés ist eine wun­der­vol­le Insel, kei­ne Fra­ge. Sie hat län­ge­re Strän­de, eine blaue Lagu­ne und dazu die klei­ne Nach­bar­insel John­ny Cay, mit dem wei­ßes­ten Sand und Bacar­di Fee­ling. Die Form der Insel erin­nert vage an ein See­pferd­chen. San Andrés liegt im Kari­bi­schen Meer 800 km nörd­lich der kolum­bia­ni­schen Küs­te, jedoch nur etwa 200 km vor der Küs­te Nica­ra­gu­as und hat rund 70.000 Ein­woh­ner. Pro­vi­den­cia dage­gen hat kaum 5.000 Ein­woh­nern und liegt etwa 80 km nörd­lich von San Andrés.

Der Name des Flug­ha­fens von Old Pro­vi­dence macht stut­zig, »El Embru­jo«: Der Ver­hex­te! Schon beim ankom­men spürt man, wie beschau­lich es hier zugeht. Das Flug­ha­fen­ge­bäu­de ist bunt bemalt mit Moti­ven aus dem Meer: Fische, Muscheln und Koral­len… Vor Pro­vi­den­cia lie­gen eini­ge der schöns­ten Tauch­re­vie­re der Kari­bik. Für sat­te drei Mona­te kom­me ich auf die Insel. Ein Prak­ti­kum bei dem Gua­hi­ro India­ner Juan Perez will ich machen, ein »Work-Exch­an­ge«. Zur Beloh­nung für mei­ne Arbeit will er mir einen Tauch­schein schen­ken. Und zwei­tens soll ich als »Pro­fes­sor de Yoga« in sei­nem Hotel arbei­ten. Das ist jeden­falls der Plan.

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Ers­ter Monat: buckeln wie ein Kamel

Das Hotel Siri­us gehört zu einem der 11 Orte, die sich wie auf einer Per­len­ket­te an der ein­zi­gen Haupt­stra­ße auf­rei­hen, wel­che die Insel ein­mal umrun­det. Der Ort, an dem ich die nächs­ten drei Mona­te haupt­säch­lich ver­brin­gen wer­de, liegt im Süd­wes­ten der Insel an der Bahia Sur Oes­te.

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Juan Perez hat Arbeit für mich: das Hotel soll kom­plett neu gestri­chen wer­den, innen und aus­sen, inklu­si­ve dem Häus­chen der Tauch­ba­sis und deren Ummaue­rung. Das beschäf­tigt uns rund einen Monat lang. Ein paar Tage woh­ne ich im höchs­ten Bun­ga­low mit­ten im grü­nen, auf einem Hügel mit fan­tas­ti­schem Blick über die Hotel­an­la­ge auf’s Meer. Nach etwa einer Woche zie­he ich um und woh­ne nun über dem Restau­rant in der Spit­ze einer pyra­mi­den­för­mi­gen Holz­kon­struk­ti­on. Schaue ich aus mei­nem Fens­ter, wäh­ne ich mich tat­säch­lich dem Para­dies ganz nah: die Insel atmet Leben aus allen Poren, viel Grün rund­her­um. Die Vögel tönen in exo­ti­schen Klän­gen. Die Bäu­me tra­gen Früch­te. Unzäh­li­ge Man­gos wer­den bald reif. Die schöns­te Zeit mei­nes Lebens liegt vor mir.

Ja, es gefällt mir außer­or­dent­lich gut hier. Die War­nun­gen vor dem Hotel­be­sit­zer habe ich in den Wind geschla­gen. Er sei ein Aus­beu­ter und hät­te etwas mit dunk­ler Magie am Hut. Doch genau das fas­zi­niert mich: ein Scha­ma­ne mit dem schöns­ten Hotel, das ich mir vor­stel­len kann. Nicht unbe­dingt Luxus­klas­se, aber mit so vie­len lie­be­vol­len Details, dass ich mei­ne, die­ser Mensch kann nicht so ver­kehrt sein. Und so wer­de ich zu sei­nem Kamel.

Juan Perez ist ein India­ner vom kolum­bia­ni­schen Fest­land und gehört zum Stamm der Wayuu, die nach der Halb­in­sel La Gua­ji­ra im äußers­ten Nord­os­ten auch als Gua­ji­ros bezeich­net wer­den. Die­se sind bekannt für ihre Medi­zin­män­ner und Frau­en, Geis­ter­be­schwö­rer und Hei­ler. Eine ein­zel­ne Berg­spit­ze auf der Halb­in­sel, am Cabo de la Vela, stellt nach ihrem Glau­ben eine Ver­bin­dung zum mythi­schen Land der See­len her. Juan Perez hat Humor, noch viel lie­ber aber spielt er den fins­te­ren und Ehr­furcht gebie­ten­den Bru­jo, den Hexer, den Gua­ji­ro, der im Restau­rant nicht die Spei­se­kar­te, son­dern das Küchen­mes­ser bestellt, um dar­an zu rie­chen und dann die fri­sches­ten Spei­sen zu bestel­len, die damit geschnit­ten wur­den.

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Er lässt mich spü­ren, dass ihm nicht alles an mir passt und for­dert mich schroff auf, mich zu ändern. Wenn er dann Wit­ze macht, wirkt es so, als woll­te er sei­ne rück­sichts­lo­se Här­te mas­kie­ren. Oft lässt er mich Arbei­ten ver­rich­ten, die mich an mei­ne Gren­zen brin­gen. Er ist gut in Form, sein Alter ver­rät er mir aller­dings nicht. Als ich ihn danach fra­ge, ant­wor­tet er nur lapi­dar: „unend­lich!“

Juan Perez hält mich einen Monat an einer kur­zen Lei­ne. Es ist ihm nicht recht, wenn ich mich zu weit vom Hotel ent­fer­ne. Er will mir ein­re­den, es sei gefähr­lich. Bis heu­te weiß ich nicht, was an den Gerüch­ten über ihn dran ist. Ein­mal wird er rich­tig wütend, als ich ihn ganz harm­los danach fra­ge. Wer mir das gesagt habe, fragt er scharf! Ein Nach­bar hat mir erzählt, er sei in sei­nem Hotel prak­tisch gefan­gen und dür­fe die Insel nicht ver­las­sen. Am nächs­ten Tag geht er zu dem Nach­barn in Rich­tung Agua Dul­ce, und staucht ihn nach Strich und Faden zusam­men. Der Nach­bar erzählt mir spä­ter, dass er danach am gan­zen Leib gezit­tert habe.

Zu den klei­nen Ver­gnü­gun­gen und Abwechs­lun­gen gehört es, den Hund des Fischers, der ein paar hun­dert Meter wei­ter wohnt, zurück zu brin­gen. Ein freund­li­cher Hund mit Appe­tit, ein­fach nicht zu ver­scheu­chen und sehr anhäng­lich. Zuerst wird die Sitz­bank des Motor­rol­lers hoch geklappt und dann das Fell­knäu­el auf vier Pfo­ten kur­zer­hand hin­ein­ge­stopft, das den Stau­raum fast kom­plett aus­füllt. So wird er, als im wahrs­ten Sin­ne blin­der Pas­sa­gier wie­der zurück gebracht. Eve­lyn, die klei­ne Toch­ter des Fischers freut sich unbän­dig, wenn sie sieht, wie der etwas ver­wirr­te Vier­bei­ner ihrer Fami­lie nach Ori­en­tie­rung suchend, aus dem dunk­len Loch des Rol­lers her­aus kommt. Sie hat es mir beson­ders ange­tan. Ihre Lebens­freu­de ist ein­fach über­schäu­mend. Braun­ge­brannt und hell­häu­ti­ger als die meis­ten der Insel­be­woh­ner, dazu blon­des Haar und blaue Augen! Ja, tat­säch­lich, es gibt nicht sehr vie­le davon, aber ver­ein­zelt sind auf der Insel auch blon­de Män­ner mit blau­en Augen zu sehen.

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Die stum­me Bevölke­rung der Insel

Unse­re Reno­vie­rungs­ar­bei­ten am Hotel wer­den von klei­nen Aus­flü­gen unter­bro­chen. Ein­mal fah­ren wir zu zweit auf dem Rol­ler in Rich­tung Casa Baja (Bot­tom House), um das Tauch­boot zu besich­ti­gen, das eben­falls reno­viert wur­de und einen neu­en Anstrich bekam. Mit­ten auf der ein­zig nen­nens­wer­ten Stra­ßen­kreu­zung in Sur­oes­te steht ein ver­wirrt wir­ken­der Mann mit einem Brief in der Hand, mit den Armen ges­ti­ku­lie­rend. Wir neh­men den Brief in Emp­fang und ich ver­mu­te, dass wir ihn auf die Post brin­gen sol­len. Doch Juan meint, ich sol­le den Brief ein­ste­cken. Auf der Rück­fahrt will ich ihn an den Brief erin­nern, doch er weist mich scharf zurecht, ich sol­le nicht so unge­dul­dig sein (bin ich doch gar nicht), er wer­de mir spä­ter erklä­ren, was es mit dem Brief auf sich hat! Zurück im Hotel, erzählt er mir (end­lich) die selt­sa­me Geschich­te von dem Mann, der uns den Brief gege­ben hat. Er gehört zu einer Fami­lie von Gehör­lo­sen im Ort und hat­te mal was mit einer Frau, die die Insel dann aber ver­las­sen hat und nach San Andrés ging. Und dort ver­liert sich ihre Spur. Man erzähl­te ihm, in Zei­chen­spra­che, dass sie viel­leicht Kin­der von ihm bekom­men hat: eine Kur­ve mit den Hän­den vor der Brust, die einen Busen mar­kiert, das steht für »Frau«. Eine wei­te­re Kur­ve mit den Hän­den vor dem Bauch und schon ist die Frau schwan­ger.

Die­ser Gehör­lo­se hat das so weit ver­in­ner­licht, dass er mit sei­nen angeb­li­chen Kin­dern und deren Mut­ter Brief­kon­takt pfle­gen möch­te. Das kurio­se dabei: er kann gar nicht schrei­ben! So befin­den sich auf dem Brief nur ein paar unles­ba­re Zei­len, immer­hin erin­nert das an eine Adres­se. Brief­mar­ken sind nicht drauf. Juan meint, ich sol­le den Brief öff­nen, manch­mal sei sogar Geld drin. Ich öff­ne den Brief und dar­in befin­den sich zwei Blät­ter. Alles unles­bar, nur Gekrit­zel, Zei­le für Zei­le, kein ein­zi­ger Buch­sta­be ist zu ent­zif­fern. Juan meint, ich sol­le doch mei­ne yogi­schen Sid­dhis (magi­sche Fähig­kei­ten) ein­set­zen, um über die Hie­ro­gly­phen des Stum­men sei­ne Gedan­ken zu lesen und zu erah­nen, was er schrei­ben woll­te… Kei­ne Chan­ce, aber ich hebe den »Brief« erst­mal auf, viel­leicht schu­le ich mei­ne Intui­ti­on dar­an spä­ter…

Die meis­ten Ein­woh­ner der Insel ken­nen eini­ge die­ser Geschich­ten von der gehör­lo­sen Fami­lie, die aus etwa 20 Fami­li­en­mit­glie­dern besteht. Ihre sehr ein­fa­che Zei­chen­spra­che wird auf der Insel »Pro­vis­le« genannt. Ein biss­chen Pro­vis­le kann jeder…

 

 

Die Lage spitzt sich zu

Das Ver­hält­nis zwi­schen mir und Juan Perez ver­schlech­tert sich gegen Ende des ers­ten Monats. Ein­mal pas­siert mir ein ver­ba­ler Aus­rut­scher. Jeden­falls scheint er mir etwas übel zu neh­men, so sagt er völ­lig uner­war­tet plötz­lich »ver­piss dich« zu mir. Hab ich ver­ges­sen zu erwäh­nen, dass Mr. Perez per­fekt deutsch spricht?! Er war sogar ein­mal in mei­ner Hei­mat­stadt, sagt er, und erzählt mir eine Anek­do­te davon. Auf dem Vik­tua­li­en­markt in Mün­chen kauf­te er sich für eine »Acht­sam­keits­übung« zwei rohe Eier, die man ihm ein­pa­cken woll­te. Er nahm jedoch kei­ne Ver­pa­ckung, son­dern steck­te sich die rohen Eier in die Hosen­ta­schen, eine links, eine rechts. Spä­ter, so sagt er, begeg­ne­te er einem frem­den Mann. Sie unter­hiel­ten sich eine Wei­le, und als sie wie­der aus­ein­an­der gin­gen, frag­te der Frem­de, ob er ihm zum Dank für das anre­gen­de Gespräch 100 DM geben darf, ein­fach so, ohne wei­te­re Gegen­leis­tung. Juan Perez nahm das Geld ger­ne an und frag­te den Mann, ob er ihm eben­falls etwas geben darf, ein­fach so. Der Mann bejah­te das und Juan Perez gab ihm die zwei Eier.

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Für mehr als ein Paar Eier bie­tet Juan mir sein altes Motor­boot zum Ver­kauf an. Damit könn­te ich Aus­flü­ge für Tou­ris­ten machen und Geld ver­die­nen. Das gan­ze scheint mir sehr gewagt, wenn ich beden­ke, wie wenig Urlau­ber bis­her hier waren. In den Weih­nachts­fe­ri­en kom­men vie­le Tou­ris­ten, sagt er. Wie dem auch sei, ich traue ihm nicht. Lang­sam wird es mir zu viel, was und wie er es ver­langt. Das Hotel und die Zim­mer sind fer­tig gestri­chen, innen und außen. Eines Tages habe ich genug. Als ich gera­de zusam­men mit der Putz­frau wei­ße Farb­sprit­zer vom Boden abkrat­ze, platzt mir der Kra­gen. Genug ist genug. Ich schnap­pe mir ein Kanu und fah­re zur Ent­span­nung eine Run­de durch die Gegend. Danach geht es mir bes­ser, doch ich sage Juan, dass ich jetzt mehr als genug für ihn gebu­ckelt habe.

 

Klei­ne Eska­pa­den

Stän­dig bit­ten mich Freun­de aus der Nach­bar­schaft, die ich inzwi­schen längst habe, mei­ne Gitar­re mit zu brin­gen. Wir spie­len Beach Vol­ley Ball oder trin­ken abends ein Bier zusam­men. Immer öfter esse ich von nun an auch aus­wärts. Da ist Vic­tor McLean, den sie Baba nen­nen, weil man sich bei ihm die Haa­re schnei­den las­sen kann, und sein Cou­sin Fred­dy. Die McLe­ans sind eine Musi­ker­fa­mi­lie. Der Vater spielt die Man­do­li­ne. Dass sie bereits CDs pro­du­ziert haben ist ein gro­ßes Ding, weil es hier kaum tech­ni­sches Equip­ment gibt. Am liebs­ten höre ich Baba und Fred­dy zu, wenn sie ihre Songs spie­len.

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Juan beginnt mich ver­stärkt zu kon­trol­lie­ren. Eines Abends, als Albert, genannt Oli­bird mit sei­ner Band an der Man­z­a­nil­lo Beach spie­len, kann ich nicht mit, weil Juan mir wie­der irgend­ei­ne Auf­ga­be gege­ben hat. Als ich mei­nen Freun­den mit­tei­le, dass ich nicht »frei habe«, spot­ten sie: »He’s in pri­son!«: Er ist gefan­gen! Lang­sam mer­ke ich, dass es so nicht wei­ter geht. Die Frei­heit ruft. Jedes Mal wenn ich das Hotel ver­las­se ist es ein klei­nes Aben­teu­er. Immer wer­de ich ange­spro­chen, jede Begeg­nung eine Berei­che­rung.

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In unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft zum Hotel Siri­us befin­det sich Miss Marys Hotel mit einem Restau­rant. Sie haben dort einen die­ser klei­nen Chi­hua­hua Hun­de. Ein Stück wei­ter nörd­lich am »Pun­ta Negra« befin­det sich Ricar­dos Reg­gae Kiosk, eine uri­ge mit Stroh bedeck­te Hüt­te. Hier tei­len sich Land und Meer in zwei sanft geschwun­ge­ne Buch­ten, ein süd­li­cher und ein nörd­li­cher Mee­res­bu­sen, wenn auch mit fla­chen »Brüs­ten«.

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Am Ende des nörd­li­chen Strand­ab­schnitts ist die Bar von Albert »Oli­bird«, aus der eben­falls fast immer Reg­gae Music tönt. Hin­ter den bei­den Reg­gae Bars von Richard und Oli­bird wach­sen dich­te Man­gro­ven. Man­gro­ven haben etwas fas­zi­nie­ren­des. Die Luft­wur­zeln erin­nern mich an Syn­ap­sen, Ner­ven­enden im Gehirn, die nach neu­en Ver­bin­dun­gen suchen, sich nach Nah­rung tas­tend ins Salz­was­ser gra­ben. Auch ich stre­cke mei­ne »Füh­ler« aus, einer Par­tie Beach­vol­ley­ball nie abge­neigt, etwas Small­talk und die Spra­che der Ein­hei­mi­schen ver­ste­hen ler­nen: »Wah­goa« – wie bit­te, was soll das hei­ßen – »Wah­goa?« Ein schlam­pig aus­ge­spro­che­nes »What’s going on?« Hey, was geht, was ist los…? Und immer wie­der: »Wo ist dei­ne Gitar­re?«

 

Der Bruch

Direkt Süd­lich vom Siri­us Hotel befin­det sich ein Bas­ket­ball Platz. Aus dem nahen Ghet­to an der beschö­ni­gend Sou­thwest Bou­le­vard genann­ten klei­nen Stra­ße klingt Musik. »Mama Afri­ca« von Peter Tosh, oder Bob Mar­ley singt: »Sun is shi­ning, the wea­ther is sweet. To the res­cue, here I am!«

All das ver­lockt mich, das Hotel zu ver­las­sen.

Eines Abends, es ist schon dun­kel, gehe ich an den Strand und übe etwas Gitar­re vor dem Hotel. Schon bin ich umringt von den übli­chen Ver­däch­ti­gen und es wird Mari­hua­na geraucht, das scheint hier auf der Insel sehr ver­brei­tet zu sein. Sie rau­chen es pur, ohne Tabak, dar­auf wird Wert gelegt, denn »Ciga­ret­te smo­king is dan­ge­rous«. Bevor ich pro­tes­tie­ren kann, wirft einer, ich weiß nicht mehr wer, ein Päck­chen Gan­ja durch das Schall­loch in mei­ne Gitar­re und meint: »Dann haben wir immer was zu rau­chen.«

Wenig spä­ter fah­ren zwei Uni­for­mier­te auf einem klei­nen Motor­rad über den schma­len Weg zwi­schen Hotel und Strand an uns vor­bei, einer mit Maschi­nen­pis­to­le. Das ist hier ein ganz nor­ma­ler Vor­gang, kein Grund zur Beun­ru­hi­gung, sie fah­ren Patrouil­le. Das rau­chen von Mari­hua­na ist hier zwar nicht erlaubt, aber es wird in der Regel gedul­det. Nun geschieht jedoch etwas unge­wöhn­li­ches. Einer aus unse­rer Grup­pe macht ein spe­zi­el­les Geräusch, etwa so, wie man einer schö­nen Frau hin­ter­her pfeift, und ruft »Sascha!« Ich den­ke mir nichts dabei, bis die zwei auf dem Motor­rad umkeh­ren, abstei­gen, auto­ri­tär auf­tre­ten und laut: »Todos los manos a la pared!« rufen. Als ich mer­ke, dass es hier unge­müt­lich wird, packe ich mei­ne Gitar­re und mache mich aus dem Staub. Als ich so davon gehe, klingt es in mei­nem Kopf nach: »…los manos a la pared,« und jetzt ver­ste­he ich erst, was sie gesagt haben: »Alle Hän­de an die Wand!« Upps, da bin ich ja grad noch­mal so davon gekom­men. »Alle Hän­de…?« mei­ne Feh­len!

Zur Erklä­rung: die zwei Poli­zis­ten haben sich durch den spe­zi­el­len Ruf, der wie ein Pfiff von Mann zu Frau klingt, in Ver­bin­dung mit dem Wort »Sascha« pro­vo­ziert gefühlt. Es bedeu­tet soviel wie: »Schwu­ler!« Und das geht für kolum­bia­ni­sche Machos gar nicht. Min­des­tens eine Stun­de lang geben die Poli­zis­ten kei­ne Ruhe und wol­len wis­sen, wer das war. Die Luft brennt. Aus irgend­ei­nem uner­klär­li­chen Grund kochen die Gemü­ter direkt an die­sem »Hot­spot« vor dem Hotel völ­lig unver­hält­nis­mä­ßig hoch. Ich ver­ste­he zunächst gar nicht, was da los ist. Es kommt sogar noch poli­zei­li­che Ver­stär­kung. Irgend­je­mand meint, Jony Perez hät­te die Poli­zei geru­fen. Ich ver­su­che mich zu beru­hi­gen und schrei­be Tage­buch. Da bemer­ke ich etwas außer­ge­wöhn­li­ches: als wären die Mos­ki­tos von den mensch­li­chen, all­zu mensch­li­chen Emo­tio­nen ange­steckt, sind sie völ­lig aggres­siv. Nor­ma­ler­wei­se genügt ein Boden­ven­ti­la­tor, um sie fern zu hal­ten, denn sie mögen kei­nen Wind. Jetzt brau­che ich alle drei gro­ßen Ven­ti­la­to­ren links, rechts und vor mir, und sie ste­chen trotz­dem! So kann ich mich kaum auf das Schrei­ben kon­zen­trie­ren. Ich gehe wie­der zum »Hot­spot« wo sich die Gemü­ter inzwi­schen etwas beru­hi­gen. Aller­dings fährt mich jetzt Juan Perez an, war­um ich behaup­tet hät­te, er habe die Poli­zei geru­fen! Dabei stößt er mich sogar pro­vo­ka­tiv vor die Brust. Ich ver­su­che cool zu blei­ben und will ihm klar machen, dass ich das nicht behaup­tet habe, doch er ist außer sich. An die­sem Abend hat sich irgend­ein emo­tio­na­les Gewit­ter ent­la­den. Doch es war nicht der letz­te Tro­pen­sturm.

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Juan erfährt von dem Gan­ja in mei­ner Gitar­re. Irgend­je­mand erzähl­te es ihm, denn es ist ja auch ein »Witz«: die­se Jungs vom Strand haben wirk­lich so gut wie immer was zum rau­chen dabei, doch als sie an dem »Hot­spot« gründ­lich unter­sucht wur­den, wur­de bei kei­nem ein­zi­gen was gefun­den! Das war so als hät­ten noto­ri­sche »Schwarz­fah­rer« bei der Kon­trol­le zufäl­lig eine Fahr­kar­te. Und ich hat­te fet­tes Glück, denn in mei­ner Gitar­re hät­ten sie etwas gefun­den! An die­sem Abend glau­be ich, hat sich ein Blatt gewen­det, und zwi­schen mir und Juan Perez begann das Letz­te Kapi­tel.

Der Chef der Poli­zei­dien­stel­le ist manch­mal im Hotel zu Besuch. Als wir auf die Sache mit dem Mari­hua­na in mei­ner Gitar­re zu spre­chen kom­men, die sich wohl her­um­ge­spro­chen hat, meint er, dass es hier auf der Insel, anders als am Fest­land libe­ral gehand­habt wird, mit den soge­nann­ten »natür­li­chen Dro­gen«. Am Fest­land wird Dro­gen­be­sitz stren­ger bestraft. Hier auf der Insel wird »Gras« (Mari­hua­na) mehr oder weni­ger gedul­det, da es zur Kul­tur eini­ger Insel­be­woh­ner gehört, die sich der Ras­ta­fa­ri Tra­di­ti­on aus Jamai­ka ver­bun­den füh­len. Mit Koka­in­be­sitz sei aller­dings nicht zu scher­zen. Eine der Haupt­auf­ga­ben der Poli­zei hier auf der Insel ist es, den Koka­in­han­del zu ver­fol­gen. Des­halb befin­det sich auch eine klei­ne Mili­tä­ri­sche Basis auf dem Hügel, am süd­li­chen Ende der Sou­thwest Beach.

Eines Tages bin ich am Strand und ein­hei­mi­sche Kin­der haben die­sen wun­der­schö­nen rie­sig gro­ßen durch­sich­ti­gen und doch bun­ten Was­ser­ball dabei, der das Was­ser nur ganz leicht berührt. Plötz­lich kommt Wind auf, der Ball beschreibt eine Para­bel auf dem Was­ser und mit unfass­ba­rer Geschwin­dig­keit nimmt ihn die Böe mit, weit raus auf’s offe­ne Meer. Kei­ne Chan­ce ihn schwim­mend ein­zu­ho­len. Nur mit einem Motor­boot könn­te man ihn noch zurück holen. Ich lau­fe ins Hotel und rufe: »Der gro­ße Ball ist weit draus­sen auf dem Was­ser! Lasst ihn uns mit dem Motor­boot holen.« Wir holen den Ball zusam­men mit zwei Hotel­gäs­ten, die gera­de in der Lob­by waren. Spä­ter stellt sich her­aus, dass sie dach­ten ein gro­ßer Wal wäre draus­sen auf dem Meer. Sie hat­ten Wal statt Ball ver­stan­den. Wenn Wale oder Del­phi­ne in Sicht sind, fah­ren die Gäs­te ger­ne raus auf’s Meer, um sie sich näher anzu­se­hen. Juan Perez lächelt einer­seits ver­ständ­nis­voll, ande­rer­seits schüt­telt er den Kopf, als woll­te er sagen: »Ach, herr­je!«

Etwas lag schon län­ger in der Luft, aber ich hät­te nicht erwar­tet, dass es so plötz­lich geschieht. Mit­te Dezem­ber, eine Woche vor Weih­nach­ten, sage ich höf­lich guten Mor­gen zu Mr. Perez, wor­auf er nur ant­wor­tet: »Pack dei­ne Sachen und geh – bis 12 Uhr Mit­tags bist du draus­sen!« Mir war schon klar, dass er in letz­ter Zeit schlech­te Lau­ne hat­te und dass ich was damit zu tun hat­te. Dass es aber so schnell geht, und dass er mir eine so kur­ze Frist setzt, das hät­te ich nicht erwar­tet. Schliess­lich bin ich poli­zei­lich bei ihm gemel­det und habe ein Arbeits­vi­sum. Caro­li­na, die jun­ge Freun­din von Juan Perez‹ rech­ter Hand Pau­li­no (Hotel Mana­ger) schreit, das kön­ne er doch nicht machen! Wo soll er denn hin, kurz vor Weih­nach­ten?! Sie weint sogar. Auch sie hat­te mas­si­ve Pro­ble­me mit dem Hotel­be­sit­zer. Der Raus­wurf kam plötz­lich, aber nicht ganz uner­war­tet. Ich begin­ne mei­ne Sachen zu packen, ohne zu wis­sen wo es hin geht.

 

Zwei­ter Monat: wie ein Löwe im gelob­ten Land

Fred­dy McLean bie­tet mir an, bei ihm unter zu kom­men, bei sei­ner Fami­lie. Ich sehe es mir an und bin dank­bar für das Ange­bot, kann mir aber nicht vor­stel­len dort zu woh­nen. Dar­auf­hin führt Fred­dy mich zum Maroon Hill, ober­halb dem Stu­dio Café an der Ring­stra­ße. Der Fischer Elvis wohnt dort mit sei­ner Frau, zwei Söh­nen und der blon­den Toch­ter Eve­lyn. Etwas abseits auf ihrem Grund­stück mit­ten im Grü­nen steht mei­ne neue Behau­sung. Ich bin sofort begeis­tert. Eine ein­fa­che Hüt­te mit Blech­dach, Küche, Dusche, Veran­da und einem Gäs­te­zim­mer. Was will man mehr! Von nun an woh­ne ich »like a lion in zion.« Der Him­mel, das Para­dies (Zion) ist nicht fern. Wie die Lotos­blu­me und die See­ro­se, die über den Sumpf hin­aus wach­sen, so wer­de ich mich im Schlamm die­ser schwie­ri­gen Welt (Baby­lon) behaup­ten: Füße am Boden, Kopf im Him­mel.

Beim Umzug gibt es eine Über­ra­schung. Der Poli­zei­chef ist gera­de zu Besuch und bie­tet mir an, mich mit­zu­neh­men. So fah­re ich hin­ten auf dem Pick-up vom Dienst­wa­gen des Poli­zei­chefs mit. Was für eine Scho­se. Als mei­ne neue Gast­ge­be­rin sieht, dass ich mit der Poli­zei kom­me, erschrickt sie zuerst. Der Poli­zei­chef beru­higt sie und ver­si­chert ihr, dass ich nichts »aus­ge­fres­sen« habe, und meint, wir könn­ten jetzt Yoga am Maroon Hill machen. Mei­ne Ver­mie­te­rin ist begeis­tert, denn sie möch­te etwas gegen ihre Rücken­schmer­zen tun. Bevor sich der Poli­zei­chef ver­ab­schie­det, lädt er mich ein, ihn zu besu­chen, ich könn­te auf dem Sport­platz der Poli­zei Yoga Kur­se anlei­ten. Ich kann es kaum fas­sen, wie schnell sich alles ver­än­dert hat!

Dadurch, dass ich etwas mit der Poli­zei zu tun habe, han­de­le ich mir in Sur­oes­te teil­wei­se den Ruf eines Infor­man­ten ein. Die Bezeich­nung »Infor­mer« (Spit­zel) ist zumeist aller­dings – hof­fent­lich – nur scherz­haft gemeint. Ande­rer­seits ver­schaff es mir eine gute Por­ti­on Respekt.

Die Tage und Wochen im zwei­ten und drit­ten Monat mei­nes Auf­ent­halts auf der Insel ver­lau­fen von nun an in einer ste­tig nach oben anstei­gen­den Kur­ve in Rich­tung Zufrie­den­heit. Mei­ne Ver­mie­te­rin erweist sich als die bes­te Köchin an der Bahia Sur­oes­te und ich ver­tie­fe mei­ne Freund­schaf­ten zu den Ein­hei­mi­schen in die­ser Ecke der Insel. Zu den schöns­ten Erleb­nis­sen zählt es, nachts am Lager­feu­er zu sit­zen und Musik zu machen. Fred­dy und Vic­tor McLean spie­len abwech­selnd Gitar­re und sin­gen »Redemt­pi­on Songs« von Bob Mar­ley oder impro­vi­sie­ren ande­re Lie­der. Oft kom­men wei­te­re Musi­ker dazu. Am liebs­ten sit­ze ich dabei und zup­fe den Bass, den sie in der Kari­bik »Tub« nen­nen. Ein pri­mi­ti­ves Instru­ment das aus weni­gen Mate­ria­li­en besteht: ein Wasch­zu­ber aus Blech wird auf den Kopf gestellt, am Boden wird in der Mit­te eine Schrau­be befes­tigt, dar­an eine dicke Schnur, an der Schnur ein Stock. Der Stock wird am Boden­rand des Wasch­zu­bers auf­ge­stellt und dient zum span­nen der Schnur. Je nach­dem, wie stark die Span­nung ist, umso tie­fer oder höher der Ton der beim Zup­fen ent­steht.

Ein uraltes Instru­ment der Kari­bik ist der »Hor­se Jaw­bo­ne«: Das Gebiss eines Pfer­des, oder auch von einem Esel! Mit die­sem kön­nen unter­schied­li­che Töne erzeugt wer­den: fährt man mit einem Stock über die Zäh­ne, die noch locker im Gebiss sit­zen, ent­steht ein Klang wie von einem Wasch­brett oder einer Rat­sche. Der zwei­te Klang ist das »Klir­ren« der Zäh­ne durch einen Schlag mit dem Hand­bal­len auf den Kno­chen, der drit­te Klang ent­steht durch schüt­teln, wie eine Rum­ba Ras­sel und der vier­te Klang ist ein rhyth­mi­sches schla­gen mit dem Stock auf den Kie­fer.

Manch­mal, wenn ich mit John Jairo’s Klein­kraft­rad durch den Ort düse, johlt mir irgend­ein Bekann­ter mit die­sem spe­zi­el­len Drei­klang hin­ter­her (hoher Ton, dann ein tie­fe­rer Ton gefolgt von einem ganz hohen Ton) und ruft »Sascha« – wor­auf­hin wir bei­de lachen müs­sen. Doch nicht jeder ver­steht die­sen Spass. Auf Pro­vi­den­cia ist der Hete­ro ein Macho. Das mer­ke ich, als ich eine fal­sche Bemer­kung gegen­über Stan­ley mache, den ich bereits seit mei­nem letz­ten Besuch hier sehr schät­ze. Er ist, abge­se­hen von mir und den Tou­ris­ten vom Fest­land, der Ein­zi­ge hell­häu­ti­ge in unse­rer Cli­que, sofern man bei die­ser tie­fen Bräu­ne von hel­ler Haut spre­chen kann. Jeden­falls hat er sicher weni­ger ver­sklav­te Afri­ka­ner als Vor­fah­ren. Eher, so stel­le ich mir vor, könn­te er ein Nach­fah­re des berühmt berüch­tig­ten Cap­tain Mor­gan sein, der 1670 die Insel in Besitz nahm, um von hier aus sei­ne Beu­te­zü­ge durch­zu­füh­ren. Nach­dem ich Stan­ley ein­mal auf dem Motor­rad zur »Town« mit­neh­me, fra­ge ich ihn, dort ange­kom­men, wo es ihm am bes­ten gefällt auf der Insel. Er meint, dass es ihm hier in der »Town«, wie der Haupt­ort San­ta Isa­bel genannt wird, gut gefällt. Dar­auf­hin fra­ge ich, ob ich ihn noch irgend­wo auf einen Kaf­fee ein­la­den darf, er könn­te sei­nem Freund doch einen Lieb­lings­platz im Ort zei­gen und stub­se ihn keck oder neckisch an. Er inter­pre­tiert das als homo­se­xu­el­le Anma­che und macht sich flucht­ar­tig aus dem Staub. Es dau­er­te eini­ge Zeit, bis er wie­der ansprech­bar war.

 

Drit­ter Monat: unbe­schwert leben wie ein Kind

Wie­der geht eine Pha­se zu Ende und eine neue beginnt. Kenn­zeich­nend dafür ist mein Umzug von der Hüt­te mit dem Blech­dach in eine neue Unter­kunft gleich neben­an: ein Traum! Die Bäu­me ste­hen so nah, dass man sich oben im ers­ten Stock wie in einem Baum­haus fühlt. Auf das Blech­dach mei­ner »Löwen­höh­le« pras­sel­te der Tro­pen­re­gen noch mit höl­li­schem Krach. Hier ist das Geräusch des Regens wesent­lich sanf­ter, so als säßen wir unter einem Blät­ter­dach. Mein häu­figs­ter Besu­cher ist Vic­tor McLean aka Baba, der sich mei­ne Gitar­re ent­we­der aus­leiht, oder zurück bringt, oder zum spie­len kommt. Schon als ich zum ers­ten Mal sah, dass die­ses Haus ver­mie­tet wur­de, woll­te ich dar­in woh­nen. Es war wie eine Sehn­sucht, ein biss­chen wie Neid: da möch­te ich auch woh­nen! Jetzt ist es frei gewor­den.

»Him is hard ears,« sagt mei­ne Ver­mie­te­rin über ihren jüngs­ten Sohn. Wie, er hat »har­te Ohren?« Nein, natür­lich nicht – er hört schlecht, also: er folgt nicht, kla­ro! Hier kön­nen die Kin­der den gan­zen Tag im Frei­en her­um lau­fen. Ein rie­si­ger Spiel­platz.

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Der christ­li­che Glau­be bil­det nicht weni­ge Anhän­ger auf Pro­vi­den­cia und neue »Scha­fe« sind will­kom­men. Als ich eines Abends auf dem Heim­weg an der »New Life Taber­na­cle« Kir­che der Bap­tis­ten vor­bei kom­me, ist da Licht. Draus­sen vor der Türe, im Gebüsch, bewegt sich was. Die all­ge­gen­wär­ti­gen Land­krab­ben, Ech­sen? Nein, ein hal­bes Dut­zend Pfer­de ste­hen dort fast laut­los »geparkt,« als wür­den sie der Pre­digt lau­schen. Ich hal­te inne und höre den Vor­tra­gen­den: »Who is the Rede­emer?« Schwei­gen. Und noch­mal fragt er: »Wer ist der Erlö­ser?« Stil­le. Mit etwas Nach­druck wie­der­holt er sei­ne Fra­ge: »Wer ist der Erlö­ser!« Eine zag­haf­te Stim­me ist zu ver­neh­men: »Jesus?« Erleich­tert wie­der­holt der Pre­di­ger: »Yes me son, Jesus is the Rede­emer.« Und jetzt sagen sie es noch ein­mal alle zusam­men… Als ich wei­ter gehe, kann ich mir ein Schmun­zeln nicht ver­knei­fen. Scheint ein Ein­füh­rungs­kurs für Anfän­ger zu sein.

Bemer­kens­wert ist, dass sich nur weni­ge hier im wil­den Süd­wes­ten einen eige­nen fahr­ba­ren Unter­satz leis­ten. Der Bus (das ›colec­tivo‹) fährt rund um die Insel und ist eine wun­der­ba­re Gele­gen­heit sich haut­nah von den »posi­ti­ve vibra­ti­ons« der Insu­la­ner anste­cken zu las­sen.

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Zum höchs­ten der Gefüh­le in Punk­to Fort­be­we­gung gehört der Rücken eines Pfer­des. Ein Aus­ritt mit Howard bleibt mir unver­gess­lich. Zum Glück war mein Schutz­en­gel dabei. Auf dem Rück­weg, wie­der auf der geteer­ten Stra­ße, riss im Galopp der Gurt mei­nes rech­ten Steig­bü­gels! Ich rutsch­te gefähr­lich weit rechts run­ter und es sah bestimmt nicht so gut aus, wie bei den Reit­künst­lern, die sich kurz mal run­ter und wie­der rauf schwin­gen. Um Haa­res­brei­te wäre ich bei dem Tem­po auf den Teer gefal­len. Glück­lich ohne Schram­men davon­ge­kom­men zu sein, rei­te ich mit Howard den Sun­set Bou­le­vard run­ter und kom­me mir wie ein über­le­ben­der Held vor. Wir kau­fen Geträn­ke am Kiosk. Eine Bewoh­ne­rin des Ghet­tos steht vor mir und fragt, ob ich ihr das Klo­pa­pier bezah­le. Okay, Klei­nig­keit. Dann, ganz ohne Vor­war­nung, meint sie, dass sie bereit ist, wenn ich ein Kind von ihr haben will. Uff, bis gera­de eben fand ich sie noch attrak­tiv, aber das ist mir dann doch etwas zu unro­man­tisch.

Wer die eige­nen »Hufe« schwingt, kann von Bot­tom House (Casa Baja) den land­schaft­lich reiz­vol­len Weg zur höchs­ten Erhe­bung der Insel gehen, wo der »El Pico« auf 360 m Höhe thront. Von dort oben gibt es einen wun­der­ba­ren Blick über die Insel. An den bes­ten Aus­sichts­punk­ten wan­dert das Auge über den Flug­ha­fen zu den »Drei Brü­der« (Tres Her­ma­nos) genann­ten Fels­in­seln vor der Küs­te, und wei­ter bis hin­über zur Insel Crab Key (Caya Can­g­re­jo).

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Eine eben­falls sehr schö­ne Wan­de­rung führt von der Sou­thwest Beach hin­über zur abge­schie­de­nen Man­z­a­nil­lo Beach und zurück. Die­sen Weg sind wir vie­le Male gegan­gen. Oft spielt Vic­tor bei unse­ren Wan­de­run­gen neben­bei läs­sig auf der Gitar­re. Wir neh­men uns in Acht vor den Büschen mit Dor­nen, die paar­wei­se auf­tre­ten und wie zwei Hör­ner aus­se­hen. Berührt man sie, kom­men sofort Amei­sen zum Angriff her­vor. Jeden­falls dann, wenn die horn­för­mi­gen Dor­nen klei­ne Löcher haben, was sehr oft der Fall ist. Dann sind Amei­sen drin. Aber wer sieht schon vor­her nach, ob die Dor­nen klei­ne Löcher haben! Die Amei­sen­säu­re ist schmerz­haft, soll aber gesund sein, heißt es.

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An der Man­z­a­nil­lo Beach ange­kom­men gibt es zur Erfri­schung und Ent­span­nung das Meer und Rolan­dos Bar mit Roots Rock Reg­gae Sound und Dröh­nung (wer’s mag). Hier gibt es zumeist ein lecke­res Fisch­ge­richt oder den tra­di­tio­nel­len Ron­don, ein typisch kari­bi­scher Ein­topf, haupt­säch­lich mit Fisch und Mee­res­früch­ten, Kokos­milch und dazu Mani­ok, Taro, Koch­ba­na­ne, Kar­tof­feln, Zwie­beln, Knob­lauch, Pfef­fer, Basi­li­kum… Ron­don kommt von »rundown«: also all das, was man da so »rein wirft«.

Dazu ein Kolum­bia­ni­sches Bier der Mar­ke »Bava­ria«. Der aus Offen­bach am Main stam­men­de Aus­wan­de­rer Leo S. Kopp („Don Leo“) grün­de­te 1889 „Kopp’s Deut­sche Braue­rei Bava­ria“ in Bogo­tá und wird von eini­gen dort als Hei­li­ger ver­ehrt! Sein Grab im Zen­tral­fried­hof von Bogo­tá wird ger­ne zum Für­bit­ten und beten besucht. Don Leo hat in Kolum­bi­en einen lupen­rei­nen Ruf als Wohl­tä­ter und soll selbst noch vom Jen­seits aus wir­ken!

Die Braue­rei in Bogo­tá hat heu­te über 16.000 Mit­ar­bei­ter.

 

Besuch bei Pablo Esco­bar – er war zum Glück nicht da!

Einen ganz ande­ren Ruf als der gute deut­sche Bier­brau­er hat der Dro­gen­ba­ron Pablo Esco­bar, des­sen ver­fal­le­ne Vil­la wir auf San­ta Cata­li­na besu­chen. 1,5 Mil­lio­nen US-Dol­lar am Tag soll der »Patrón« in sei­nen bes­ten Jah­ren ver­dient haben. 1989 war er einer der reichs­ten Män­ner der Welt.

So lan­ge ist das noch gar nicht her, die 90er Jah­re, und doch ist die Esco­bar Vil­la im Zen­trum der grü­nen Insel San­ta Cata­li­na heu­te bereits völ­lig ver­fal­len. Lan­des­weit ste­hen auch ande­re Rui­nen des skru­pel­lo­sen Dro­gen­händ­lers für ein Schei­tern des schnel­len, kri­mi­nel­len Gel­des. Pablo Esco­bar wur­de einen Tag nach sei­nem 44. Geburts­tag bei einer Raz­zia in Medel­lin erschos­sen.

Die klei­ne Insel San­ta Cata­li­na mit einer Flä­che von 1,5 qkm hat immer­hin rund 200 Ein­woh­ner, obwohl es kei­ne befes­tig­ten Stra­ßen gibt, nur eine Pro­me­na­de links und rechts der 150 m lan­gen »Lovers Bridge« (Puen­te de los Ena­mo­ra­dos), die San­ta Cata­li­na mit Pro­vi­den­cia ver­bin­det. Am Süd­ende der Insel ist ein ver­fal­le­nes Fort mit Kano­nen und eine Bucht mit einem klei­nen Strand.

Ganz im Süd-Wes­ten von San­ta Cata­li­na befin­det sich eine Fels­for­ma­ti­on, vom Rest der Insel etwas abge­setzt, die von bei­den Sei­ten aus gese­hen tat­säch­lich an einen Kopf erin­nert. Das ist der »Mor­gans Head« (Cabe­ça de Mor­gan). Immer wie­der höre ich von Schät­zen, die hier und anders­wo gefun­den wor­den sind. Was da genau dran ist, schwer zu sagen. Irgend­wo müs­sen die Reich­tü­mer, wel­che der Pirat Hen­ry Mor­gen mit sei­ner Crew zuhauf erbeu­tet hat, geblie­ben sein.

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Die ver­ei­nig­ten Frei­beu­ter von Ame­ri­ka

1670 nahm der in Wales gebür­ti­ge Cap­tain Hen­ry »Har­ry« Mor­gan die Inseln PROVIDENCIA UND SANTA CATALINA in Besitz, um von dort aus sei­ne Über­fäl­le gegen spa­ni­sche Schif­fe in der Kari­bik zu star­ten! 1671 gelang Mor­gan der größ­te Coup sei­ner Lauf­bahn: die Erobe­rung Pana­mas, zu jener Zeit die größ­te und reichs­te Nie­der­las­sung Spa­nisch-Ame­ri­kas. Als selbst­er­nann­ter „Chef­ad­mi­ral aller Buka­niers­flot­ten und der ver­ei­nig­ten Frei­beu­ter von Ame­ri­ka“ konn­te er für die­ses Unter­neh­men rund 1.800 Mann auf 36 Schif­fen auf­brin­gen.

Am Ende ver­däch­tig­ten die Frei­beu­ter Mor­gan jedoch, sie betro­gen und einen gro­ßen Teil der Schät­ze Pana­mas für sich selbst abge­zweigt zu haben, wes­we­gen Mor­gan sich nach Been­di­gung des Pana­ma-Raub­zu­ges und der Ver­tei­lung der Beu­te klamm­heim­lich aus dem Staub mach­te.

Fest steht, dass Hen­ry Mor­gan offen­bar nicht der geschick­tes­te See­mann war. Wäh­rend sei­ner Frei­beu­ter­un­ter­neh­mun­gen lie­fen mehr­mals gro­ße Fracht­schif­fe durch Navi­ga­ti­ons­feh­ler auf Grund und ein wei­te­res ging wäh­rend eines aus­gie­bi­gen Zech­ge­la­ges durch eine Explo­si­on im Pul­ver­ma­ga­zin ver­lo­ren. (Wiki­pe­dia)

 

Über und unter Was­ser

Unse­re Rund­fahrt mit einem klei­nen Motor­boot um die geschätz­ten 20 km Küs­ten­li­nie von Pro­vi­den­cia beginnt Rich­tung San­ta Cata­li­na. Zwei Tauch­gän­ge sind inklu­si­ve. Da ich mei­nen Tauch­schein nicht voll­endet habe, geht es nur ein paar Meter in die Tie­fe. Ers­ter Tauch­gang nahe Mor­gans Head, ent­lang einer Fels­wand. Wer schon­mal in tro­pi­schen Gewäs­sern tau­chen oder schnor­cheln war, kennt das Gefühl: eine ande­re Welt. Ein kur­zer Sprung ins Was­ser, die Auf­he­bung der Erd­an­zie­hungs­kraft trotz schwe­rer Sau­er­stoff­fla­sche, der eige­ne Atem, laut, künst­lich. Die meis­ten Fische schei­nen sich über­haupt nicht an den blub­bern­den und mas­kier­ten Ein­dring­lin­gen zu stö­ren. Über­all, wo sich was bewegt, wo leben ist, wo Fische und Koral­len sind, hat die Schöp­fung nicht an Far­be gespart. Ewi­ges Leben, ewi­ger Früh­ling, nein Som­mer. Zurück an Bord: ver­gleich­bar mit dem ver­las­sen eines Kinos, eines Licht­spiel­thea­ters.

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Ein klei­nes Stück­chen Fahrt wei­ter. Wir las­sen »Mor­gans Schä­del« hin­ter uns. Vor uns tau­chen sei­ne Arsch­ba­cken (»Las Nal­gas«) auf, wie die Fel­sen am Hori­zont scherz­haft genannt wer­den. Kur­zer Stopp an der Puen­te de los Ena­mo­ra­dos (»Lovers Bridge“), dann geht es über und gleich wie­der unter Was­ser wei­ter. Vom nörd­lichs­ten Punkt unse­rer Tages­fahrt ist es ein Kat­zen­sprung in ein klei­nes Para­dies: Die Insel Crab Cay (Caja Can­g­re­jo).

Hier gibt es nur einen Steg mit Stroh­dach. Null Ein­woh­ner (Homo Sapi­ens). Und es gibt nichts wei­ter zu tun, aus­ser: chil­len und schnor­cheln. Der Fisch­reich­tum im seich­ten Gewäs­ser am Steg ist fas­zi­nie­rend. Ein klei­ner Rochen, der sich im Sand ver­gra­ben hat, fühlt sich gestört, wir­belt etwas Sand auf und »fliegt« davon. Ob der wohl einen Sta­chel hat? Wie ich spä­ter erfah­re, ver­mut­lich schon: Brad und Miri­am, auf Hoch­zeits­rei­se, haben eben­falls einen Rochen gese­hen. Miri­am berühr­te den Rochen am »Flü­gel«, was er sich gefal­len ließ. Doch als Brad am Schwanz des Tie­res zog, bekam er den Sta­chel auf den Hand­rü­cken gepeitscht. Dar­auf­hin ging es ihm gar nicht gut. Die Hand war geschwol­len und er muss­te sich über­ge­ben. Es ging ihm ein paar Stun­den sehr schlecht. Rochen grei­fen aller­dings nie­mals von sich aus an.

Next Stop: Tres Her­ma­nos. Unser zwei­ter Tauch­gang, dies­mal zwi­schen den »Drei Brü­der« genann­ten Fel­sen vor der Küs­te, wo der Flug­ha­fen ist. John Jai­ro nimmt wie­der die Har­pu­ne mit. Waf­fen flö­ßen mir immer Respekt ein. Mit dem Pfeil einer Har­pu­ne möch­te ich lie­ber kei­ne Bekannt­schaft machen. Fas­zi­niert betrach­te ich zwei Tin­ten­fi­sche, die mich schein­bar eben­so neu­gie­rig beob­ach­ten. Selt­sa­me Gesel­len. Ich weiß, dass ich sicher nicht auf ihrem Spei­se­plan ste­he. Sie wis­sen jedoch nicht, dass sie auf unse­rem ste­hen. »Zack« löst sich John Jai­ros Har­pu­ne, und »wusch« sind die zwei komi­schen Krea­tu­ren ver­schwun­den und hin­ter­las­sen nur noch eine dunk­le Wol­ke ihrer Tin­te. Schluss mit lus­tig. Dane­ben geschos­sen. Klingt viel­leicht etwas weich­ge­spült, aber ich hof­fe sehr, dass es den Bei­den gut geht. Wäre doch zu trau­rig, wenn einer der zwei Cala­ma­re ver­letzt ist. Einen Schre­cken haben sie alle­mal bekom­men. Und ich auch! Mir ist »Herz­ki­no« mit Hap­py End lie­ber als Tat­ort.

Letz­ter Pro­gramm­punkt unse­rer Tages­tour ist das Abend­essen an der Man­z­a­nil­lo Beach. Rolan­do berei­tet die har­pu­nier­ten Fische zu. To live and let die. Kaum zu glau­ben, dass die mal so bunt waren. Scha­de, bei­des zusam­men geht nicht: den Fisch im Was­ser zu sehen UND in der Pfan­ne…

Bei der anschlie­ßen­den Sies­ta im Sand mache ich zum ers­ten Mal Bekannt­schaft mit den Sand­flö­hen. Schon vor­her hat­te ich gehört, wie sich eini­ge über ihre Sti­che beschwer­ten, doch mich hat­ten sie bis­her ver­schont (ver­schmäht?). Und sie sta­chen mir zum ken­nen ler­nen erst­mal gleich in den Aller­wer­tes­ten. Von da an sah ich sie immer schon fidel im Sand hüp­fen und mit mei­nen Füßen flir­ten. War­um sie mich bis­her in Ruhe gelas­sen hat­ten und jetzt plötz­lich Geschmack an mir gefun­den haben ist mir ein Rät­sel.

Vie­le Besu­cher der Insel sah ich kom­men und wie­der gehen. Einer warf sym­bo­lisch als Ges­te eine Muschel zurück ins Meer und rief pathe­tisch, den Trä­nen nah: »Adi­os, ich kom­me wie­der, ich ver­spre­che es!!!« Bald wer­de auch ich mich ver­ab­schie­den.

 

Alles hat ein Ende

Am Tag vor dem Abflug sage ich, dass ich glück­lich ster­be, falls mein Flie­ger abstür­zen soll­te. Und das Ein­zi­ge, das ich nicht ver­mis­sen wer­de, sei­en die Mos­ki­tos. »Pass auf,« sagt John Jai­ro, »du wirst dich noch nach einem Stich seh­nen.« Viel­leicht hat er Recht, wen’s juckt, der lebt. Ja, und tat­säch­lich, ich glau­be ich ver­mis­se die Bies­ter.

Mein Flie­ger stürz­te nicht ab – so kehr­te ich ver­wan­delt zurück. Vom folg­sa­men Kamel zum rebel­lie­ren­den Löwen, und vom Löwen zum unbe­schol­te­nen Kind, womit das Spiel wie­der von vor­ne beginnt. Jen­seits von Eden.

 

Von den drei Ver­wand­lun­gen

 

»Drei Ver­wand­lun­gen nann­te ich euch des Geis­tes: wie der Geist zum Kamel ward,

und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kin­de.«

(Also sprach Zara­thus­tra)

 

Yes­ter­day is histo­ry. Tomor­row is a mys­tery.

Today is a gift. That’s why it’s cal­led the pre­sent.

Ayer es his­to­ria. Maña­na es un mis­te­rio.

Hoy es un rega­lo. Por eso se llama el pre­sen­te.

 

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Antworten

  1. Avatar von Ute Vollmann
    Ute Vollmann

    Packend ! Sehr schön : )

  2. Avatar von Anita Nesdam
    Anita Nesdam

    Eine der schwie­ri­gen Din­ge am Rei­sen ist, dass man nicht alles auf Anhieb ver­steht, was einem so pas­siert. Man möch­te blei­ben, bis man ver­steht, und muss doch oft wei­ter­zie­hen Und oft erschließt sich einem der Sinn erst am Ende der Rei­se. Ein schö­ner und ehr­li­cher Bericht über Erwar­tun­gen, Illu­sio­nen und das ein­fa­che Schau­en.

  3. Avatar von karin lochner

    was für ein aben­teu­er! ich habe beim lesen rich­tig mit­ge­fie­bert, was man als pro­fes­sor de yoga alles auf­re­gen­des erle­ben kann.

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