It all comes from here

Der Wind pfeift um die Ecken der Back­stein­hal­len, die an Stel­le von Baum­woll­fa­bri­ken mitt­ler­wei­le Second Hand-Läden oder Musik­clubs beher­ber­gen, und zeit­lo­se Neon­re­kla­men spie­geln sich in der regen­nas­sen Stra­ße. Ich drü­cke die Tür auf zu Mackie Mayor und wer­de emp­fan­gen von Stim­men­ge­wirr, dem Geruch von Moz­za­rel­la und Ore­ga­no und dem gemüt­li­chen Licht hip­per Indus­tri­al Style-Hän­ge­lam­pen vor Back­stein­wän­den. Lan­ge Tische ste­hen zwi­schen den ein­zel­nen Stän­den des Street Food-Mark­tes, die Decke wird gestützt von ver­zier­ten Säu­len. Eine Mischung aus Oste­ria und Prenz­lau­er Berg, den­ke ich, und fin­de das sym­pa­thisch. Die Piz­za schmeckt nach fri­schen Zuta­ten und Hand­ar­beit.

Die Geschichte von der Gentrifizierung

Wenn man sich hier so umsieht, könn­te man glatt mei­nen, die Geschich­te des Nor­t­hern Quar­ters wäre schnell erzählt: Ein ehe­ma­li­ges Indus­trie­ge­biet mit ver­fal­le­nen Back­stein­ge­bäu­den und güns­ti­gen Mie­ten lock­te irgend­wann ein­mal Künst­ler und Krea­ti­ve an. Als die Gegend immer krea­ti­ver wur­de, stie­gen in die­ser Geschich­te die Prei­se, und die ehe­mals inno­va­ti­ven und alter­na­ti­ven Geschäf­te und Bars wur­den immer kon­ven­tio­nel­ler, bis es kaum mehr Platz für Eige­nes gab – und nicht nur die ursprüng­li­chen Bewoh­ner, son­dern auch die ehe­ma­li­gen Pio­nie­re ins nächs­te her­un­ter­ge­kom­me­ne Vier­tel zogen.

Die­se Geschich­te ist nichts Neu­es – unter dem Schlag­wort „Gen­tri­fi­zie­rung“ steht sie in jedem Erd­kun­de­buch. Die pas­sen­de Kri­tik gibt’s meis­tens direkt dazu: Sozi­al schwa­che Bewoh­ner wer­den aus häu­fig innen­stadt­na­hen Gebie­ten ver­trie­ben, die Auf­wer­tung für zu Ver­drän­gung und Nor­mie­rung. Das führt dann zu so absur­den Zügen wie den Slo­gans „Hal­te dei­ne Stadt dre­ckig!“ an Neu­köll­ner Haus­wän­den…

Nur, dass sich die Geschich­te des Nor­t­hern Quar­ter nicht ganz so leicht und kli­schee­haft zusam­men­fas­sen lässt.

Klar, auch hier hat sich alter­na­ti­ve Kul­tur da ent­wi­ckelt, wo durch den Weg­fall von Indus­trie Platz für Neu­es ent­stand. Doch zum einen hat sich das Vier­tel bis heu­te so gehal­ten, wie es ist – ein neu­es Hips­ter-Quar­tier ist noch nicht gefun­den. Es ist divers und span­nend geblie­ben, die Prei­se sind hier noch nicht in extre­me Höhen geschos­sen. Zum ande­ren war der Pro­zess, in dem das Nor­t­hern Quar­ter als die Gegend ent­stand, die man heu­te kennt, nicht voll­kom­men spon­tan und selbst­ge­steu­ert. Und zuletzt hat es das Nor­t­hern Quar­ter geschafft, eine Geschich­te kri­ti­scher sozia­ler Pro­tes­te in die Gegen­wart zu füh­ren.

Von Arbeiterelend und Tierhandlungen

Aber fan­gen wir mal am Anfang an: Die Gebäu­de rund um die Old­ham Street ent­stan­den im Zuge der Ent­wick­lung Man­ches­ters hin zu einem Zen­trum für die Ver­ar­bei­tung von Baum­wol­le und ande­ren Tex­til­ma­te­ria­li­en. Die ers­te Baum­woll­spin­ne­rei eröff­ne­te 1783, ab dann ver­lief die Ent­wick­lung rasant – 1816 gab es bereits 86 Spin­ne­rei­en. So wur­de das Nor­t­hern Quar­ter zu einem Zen­trum der für die dama­li­ge Zeit unglaub­li­chen Ent­wick­lun­gen, die erst Eng­land und dann ganz Euro­pa über­roll­ten. Extre­mer Reich­tum war hier genau­so zu fin­den wie extre­me Armut. Die unvor­stell­ba­ren Bedin­gun­gen, unter denen die Arbei­ter hier leb­ten, führ­ten nicht nur zu Auf­stän­den, son­dern waren auch Anlass und Unter­su­chungs­ob­jekt von Fried­rich Engels‘ Buch „Die Lage der arbei­ten­den Klas­se in Eng­land“.

Heu­te fühlt man sich ein biss­chen an Brook­lyn erin­nert, wenn man durch das Nor­t­hern Quar­ter spa­ziert. An den Back­stein­wän­den hän­gen immer noch metal­le­ne Trep­pen und Lei­tern, und das Licht, das aus Schau­fens­tern auf die nas­se Stra­ße fällt und in der Feuch­tig­keit der Luft in wei­chen Wol­ken ste­hen bleibt, ver­strömt einen Hauch von Film Noir. In einer Sei­ten­stra­ße schiebt eine Hei­zung wei­ßen Rauch waa­ge­recht aus der Wand. Kein Wun­der, dass die alten Hal­len ger­ne als Film­ku­lis­se ver­wen­det wer­den, zum Bei­spiel für Cap­tain Ame­ri­ca.

Erin­ne­run­gen an die Geschich­te des Nor­t­hern Quar­ter gibt es aller­dings nicht nur in Form der Fabrik­hal­len: Schrift­art und Far­ben der Stra­ßen­schil­der sind Web­tech­ni­ken aus der Tex­til­in­dus­trie nach­emp­fun­den. Heu­te hel­fen sie vor allem bei der Ori­en­tie­rung: Blaue Buch­sta­ben auf wei­ßem Grund zei­gen Stra­ßen in Nord-Süd-Rich­tung an, ist der Name einer Stra­ße in weiß auf blau­em Grund geschrie­ben, ver­läuft sie von Ost nach West.

Die Lage in den Fabrik­hal­len und Arbei­ter­woh­nun­gen beru­hig­te sich, doch das Nor­t­hern Quar­ter blieb bekannt für poli­ti­sche Kund­ge­bun­gen und Pro­tes­te. Von einem Indus­trie­vier­tel ent­wi­ckel­te es sich jedoch immer mehr zu einem Ein­kaufs- und Ver­gnü­gungs­stadt­teil. Beson­ders für eine Sor­te Läden ist das Vier­tel bis heu­te bekannt: In der Tib Street mie­te­ten sich im Ver­lauf des 19. Jahr­hun­derts jede Men­ge Tier­lä­den ein. In Schau­fens­tern oder auf den Bür­ger­stei­gen vor den Geschäf­ten konn­te man Hun­de, Kat­zen, Hasen oder Papa­gei­en bewun­dern – die letz­ten der pet shops haben erst vor ein paar Jah­ren geschlos­sen.

Auf die Tier­hand­lun­gen neh­men ver­schie­de­ne Kunst­in­stal­la­tio­nen im Nor­t­hern Quar­ter Bezug, zum Bei­spiel die metal­le­nen Papa­gei­en, die in der kur­zen John Street an einer Haus­wand sit­zen. Am bes­ten gefällt mir jedoch ein Mosa­ik, in dem ver­schie­de­ne auf Flie­sen gedruck­te Brie­fe und Anzei­gen aus dem 19. und 20. Jahr­hun­dert ver­ewigt wur­den. Um das zu erken­nen, muss man rich­tig genau hin­se­hen: Auf einer Flie­se wird tat­säch­lich für den Ver­kauf leben­di­ger Tiger gewor­ben, auf einer ande­ren möch­te jemand schrift­lich sei­nen Papa­gei­en rekla­mie­ren, der zwar zum ver­ein­bar­ten Zeit­punkt, aber mit nur einem Auge gelie­fert wur­de. Mir gefällt, dass einen die Geschich­te des Stadt­teils nicht erschlägt – statt­des­sen sind die Hin­wei­se sub­til und teils ein biss­chen iro­nisch, und wer sie erken­nen möch­te, der muss wis­sen, wie es frü­her um das Nor­t­hern Quar­ter stand.

Tanzbeinschwung, Abschwung und Aufschwung

Jugend­kul­tur wur­de Anfang des 20. Jahr­hun­derts zu einem Teil des Nor­t­hern Quar­ter, das man auch zu die­ser Zeit noch nicht unter die­sem Namen kann­te, mit Jazz­clubs sowie Musik und Tanz auf der Stra­ße. Im Ver­lauf der Welt­krie­ge dann der Abschwung – die meis­ten Tex­til­fa­bri­ken schlos­sen in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren. Auch, wenn ein paar Jah­re spä­ter das ers­te moder­ne Wohn­ge­bäu­de im Nor­t­hern Quar­ter gebaut wur­de, ist das Vier­tel auch heu­te kein hip­pes Wohn­ge­biet: In nur weni­ge der ehe­ma­li­gen Fabrik­ge­bäu­de wur­den Woh­nun­gen ein­ge­baut, statt­des­sen blieb der Fokus auf Geschäf­ten, Bars und Restau­rants oder Kul­tur­ein­rich­tun­gen.

Das Nor­t­hern Quar­ter als sol­ches ent­stand schließ­lich in den neun­zi­ger Jah­ren. Vor­her war nicht nur der Name unbe­kannt, son­dern die Gegend um Old­ham und Tib Street wur­de nicht ein­mal als ein eigen­stän­di­ger Stadt­teil wahr­ge­nom­men. Statt­des­sen waren die Stra­ßen ein­fach ein Teil des Stadt­zen­trums von Man­ches­ter. Nach­dem die ers­ten alter­na­ti­ven Geschäf­te, Musik­lä­den oder Clubs von den güns­ti­gen Mie­ten ange­lockt wur­den, kam man auf die Idee, das Nor­t­hern Quar­ter als Shop­ping-Alter­na­ti­ve zum „klas­si­schen“ Stadt­zen­trum rund um Mar­ket Street und das Arn­da­le Cen­ter zu eta­blie­ren.

Man über­leg­te sich einen Namen und leg­te Gren­zen des Vier­tels fest – das Nor­t­hern Quar­ter war gebo­ren.

Als ich durch die Stadt strei­fe, bin ich über­rascht, wie deut­lich die von Stadt­pla­nern kon­stru­ier­te Gren­ze zum Stadt­zen­trum auf­fällt: Biegt man in die Old­ham Street ein, ändern sich nicht nur die Stra­ßen­schil­der. Ganz plötz­lich wird es um eini­ges ruhi­ger, die Glas­fron­ten und bekann­ten Namen inter­na­tio­na­ler Ket­ten machen Plat­ten­lä­den und klei­nen Cafés Platz, vor denen man ent­spannt drau­ßen sit­zen kann. Die Hek­tik eines tru­beli­gen Nach­mit­tags vol­ler Erle­di­gun­gen und Shop­ping­tou­ren bleibt hin­ter mir, an Stel­le der immer­glei­chen Schil­der und Mar­ken weiß ich auf ein­mal gar nicht mehr, wo ich zuerst hin­se­hen soll zwi­schen Kunst, hüb­schen Schau­fens­tern und ästhe­tisch abbrö­ckeln­den alten Laden­fron­ten. Ich fra­ge mich, ob die­se Tren­nung frü­her schon so deut­lich war und durch die Eta­blie­rung des Nor­t­hern Quar­ters nur einen Namen bekam – oder ob die Stra­ßen sich in einer Art selbst­er­fül­len­der Pro­phe­zei­ung seit den neun­zi­ger Jah­ren aus­ein­an­der­ent­wi­ckelt haben.

Kunst im Northern Quarter

Die Ver­bin­dung aus bewuss­ter Pla­nung und spon­ta­nen Grün­dun­gen und Eröff­nun­gen passt auch gut zur Kunst, für die das Nor­t­hern Quar­ter bekannt gewor­den ist: Zum einen fin­den sich hier immer noch die Wer­ke, die in den neun­zi­ger Jah­ren den Stadt­teil auf­wer­ten soll­ten, bei­spiels­wei­se die rie­si­ge Ana­nas, die über einem Haus in der Tho­mas Street thront. Beson­ders gut gefällt mir per­sön­lich ein Mosa­ik auf dem Bür­ger­steig der Tib Street: Ent­lang der gan­zen Stra­ße kann man Poe­sie des bri­ti­schen Künst­lers Lemn Sis­say lesen – wobei es in eini­gen beleb­ten Abschnit­ten schon schwie­rig gewor­den ist, die Buch­sta­ben zu ent­zif­fern.

Zum ande­ren ist das Nor­t­hern Quar­ter ein Zen­trum für Street Art gewor­den. Eini­ge welt­weit bekann­te Künst­ler haben hier ihre Spu­ren hin­ter­las­sen, dar­un­ter sogar der wohl berühm­tes­te Street Artist über­haupt, Bank­sy. Um sein Werk zu schüt­zen, hat die Stadt dar­über eine Ple­xi­glas­schei­be instal­liert – und um zu zei­gen, was sie davon hal­ten, haben loka­le Künst­ler die­se kurz dar­auf bis zur Unkennt­lich­keit mit dunk­len Far­ben ein­ge­sprüht. Über­haupt gibt es hier vie­le Bil­der, die sich mit der Rol­le und der Kom­mer­zia­li­sie­rung von Street Art beschäf­ti­gen. Ein Scha­blo­nen­werk kri­ti­siert im Stil von Bank­sy die Sin­cu­ra Group, ein Unter­neh­men, das wie­der­holt Bank­sy-Bil­der von Wän­den ent­fernt und zu hor­ren­den Prei­sen ver­kauft hat, und um die Ecke wird per iro­ni­schem Pla­kat ein Künst­ler gesucht, „wil­ling to work for free… but think of the expo­sure!“

Street Art im Nor­t­hern Quar­ter ent­steht krea­tiv, unge­steu­ert und teils als poli­ti­sches State­ment – aber genau­so auch geplant und kura­tiert. Im „Cities of Hope“-Festival sind 2016 erst­mals acht Künst­ler aus ver­schie­de­nen Län­dern ein­ge­la­den wor­den, um gro­ße Wand­bil­der zu sozia­len Pro­ble­men in Man­ches­ter und der Welt ent­ste­hen zu las­sen. Das Beson­de­re: Jede Bild­idee wur­de mit der Arbeit einer sozia­len Orga­ni­sa­ti­on ver­knüpft, die in Man­ches­ter tätig oder ansäs­sig ist. Über das Fes­ti­val und die Arbeit der Künst­ler konn­ten Spen­den gesam­melt wer­den, die schließ­lich in die Arbeit der Orga­ni­sa­tio­nen flos­sen. Da das Pro­jekt in Man­ches­ter extrem begeis­tert ange­nom­men wur­de und gan­ze 20.000 Pfund zusam­men kamen, wird es 2018 wie­der­holt und aus­ge­wei­tet: Anstatt nur im Nor­t­hern Quar­ter wer­den die­ses Jahr Bil­der über­all in der Stadt und sogar im gan­zen Bal­lungs­raum ent­ste­hen.

Die „Cities of Hope“-Werke

Das für mich wohl beson­ders­te Bild der „Cities of Hope“ ist „Sisy­phus“ des spa­ni­schen Künst­lers Axel Void. Es fällt bereits von Wei­tem auf, weil es so unglaub­lich düs­ter und den­noch so defi­niert und sicht­bar ist – für mich ein biss­chen wie ein klas­si­sches Gemäl­de aus einem frü­he­ren Jahr­hun­dert. Dar­ge­stellt ist eine Frau, deren Mund von frem­den Hän­den zu einem Lächeln ver­zerrt wird. Zusam­men mit dem Schrift­zug „Sisy­phus“ stellt das Werk das mensch­li­che Stre­ben nach Glück und die Fra­ge nach dem Sinn des Lebens in den Mit­tel­punkt und wirbt damit für die Orga­ni­sa­ti­on Young Iden­ti­ty, die Spo­ken Word- und Poet­ry Slam-Work­shops für Jugend­li­che aus­rich­tet.

Auf­fäl­lig ist auch das rie­si­ge Bild des argen­ti­ni­schen Künst­lers Hyuro, das die Situa­ti­on von Kin­dern in Kriegs­ge­bie­ten the­ma­ti­siert. Beson­ders hübsch fin­de ich die Stadt in der Fla­sche von Phlegm aus Shef­field, die in der Cable Street zu fin­den ist. Und groß­ar­ti­ge, bun­te Por­traits, die sich per­fekt in die roten Back­stein­wän­de des Nor­t­hern Quar­ter ein­fü­gen, hat der Fran­zo­se C215 geschaf­fen. Sein The­ma war Obdach­lo­sig­keit und die umge­setz­ten Bil­der ent­stam­men Fotos von Lee Jef­fries, der sehr inti­me Por­traits von Men­schen auf den Stra­ßen von Man­ches­ter geschos­sen hat.

Neben den neun inter­na­tio­nal bekann­ten Künst­lern haben auch ver­schie­de­ne loka­le Künst­ler Bil­der in den Stra­ßen des Nor­t­hern Quar­ter erschaf­fen. Und das ist auch für 2018 geplant. So ent­ste­hen nicht nur die von Wei­tem sicht­ba­ren, groß­flä­chi­gen und extrem pro­fes­sio­nel­len Kunst­wer­ke, son­dern auch vie­le klei­ne Male­rei­en und Pas­te Ups über­all in der Stadt, die auf sozia­le Pro­ble­me hin­wei­sen. Genaue Ter­mi­ne ste­hen zwar noch nicht fest, aber natür­lich wird im Rah­men des Fes­ti­vals nicht nur gemalt. Es sind Street Art-Tou­ren, Aus­stel­lun­gen, Vor­trä­ge und mehr geplant. Das ers­te Bild ist tat­säch­lich bereits ent­stan­den: Es erin­nert an die Pro­tes­te der Suf­fra­get­ten vor mehr als 100 Jah­ren am Ste­ven­son Squa­re in Man­ches­ter.

Soziale Kunst

Man­ches­ter war immer schon eine poli­ti­sche Stadt, und das Nor­t­hern Quar­ter war das unan­ge­foch­te­ne Zen­trum. Hier sind vor hun­dert Jah­ren Frau­en und Arbei­ter auf­mar­schiert, hier hat Fried­rich Engels recher­chiert und Grund­la­gen für eine der wich­tigs­ten poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen in Euro­pa und der Welt gelegt, hier wur­den wüten­de Reden geschwun­gen und Gewerk­schaf­ten gegrün­det. Heu­te bin ich über­rascht davon, wie auf­merk­sam und sym­pa­thisch die meis­ten Men­schen mit Obdach­lo­sen umge­hen. Wäh­rend es in Deutsch­land nor­mal ist, unab­hän­gig von den Außen­tem­pe­ra­tu­ren ohne einen Blick vor­bei­zu­has­ten, erle­be ich hier mehr­mals am Tag, dass Per­so­nen, die in Haus­ein­gän­gen sit­zen oder lie­gen, ange­spro­chen wer­den und man ihnen Hil­fe anbie­tet.

Wie bekommt ein Stadt­teil eigent­lich die­ses künst­le­risch-alter­na­ti­ve Flair, das auf Besu­cher wie Ein­hei­mi­sche gleich­sam anzie­hend wirkt? Und, vor allem, wie schafft man es, die­ses zu hal­ten und nicht abzu­glei­ten in eines der immer­glei­chen super-hip­pen Hoch­glanz­quar­tie­re? Wahr­schein­lich spielt neben der Kunst auch das Sozia­le eine Rol­le: Wer Pro­ble­me, anstatt sie zu ver­drän­gen, groß an lee­re Wän­de bringt, der schafft viel­leicht Flä­chen, an denen sich tat­säch­lich jeder will­kom­men fühlt – und sorgt gleich­zei­tig dafür, dass auch bei denen, die sich ganz selbst­ver­ständ­lich in Cafés mit einer Aus­wahl aus fünf­zehn ver­schie­de­nen Ara­bica-Boh­nen ver­ab­re­den und ihr Fahr­rad vor vegan-glu­ten­frei­en Restau­rants abstel­len, das Bewusst­sein für Men­schen wächst, die die­sen Lebens­stil nicht tei­len kön­nen.

Street Art ist dabei das per­fek­te Medi­um: Die Bil­der sind nicht nur öffent­lich sicht­bar und teils rie­sen­groß, son­dern nor­ma­ler­wei­se auch ver­gleichs­wei­se gut inter­pre­tier­bar. So ist bei den „Cities of Hope“-Werken die Ver­bin­dung zwi­schen sozia­ler Pro­ble­ma­tik und Motiv recht leicht zu erken­nen. Gleich­zei­tig sind sich Künst­ler, die im öffent­li­chen Raum malen, sozia­len Pro­ble­ma­ti­ken häu­fig bewusst und sie sehen das, was sie tun, als Medi­um, um etwas bewir­ken zu kön­nen.

Die Orga­ni­sa­to­ren des Fes­ti­vals haben in Inter­views erzählt, dass sie die bekann­tes­ten Künst­ler der Welt ange­schrie­ben und um Teil­nah­me gebe­ten haben, und auch, wenn natür­lich nicht jeder nach Man­ches­ter rei­sen konn­te, so beka­men sie zumin­dest von jedem eine Ant­wort – weil Street Artists dar­an glau­ben, dass Kunst auch als Werk­zeug für sozia­le Ver­än­de­run­gen wir­ken kann.

Der Charme des Nor­t­hern Quar­ter baut auf der Geschich­te des Stadt­teils auf, und viel­leicht hat sich das Lebens­ge­fühl aus kri­ti­schem Den­ken und Wider­stand tat­säch­lich über die Jahr­zehn­te und Jahr­hun­der­te bewahrt. Auch, wenn das Vier­tel als Zen­trum der Krea­tiv­sze­ne nicht nur spon­tan ent­stan­den ist, son­dern eini­ges an Pla­nung dar­in steck­te, gehört das Nor­t­hern Quar­ter inzwi­schen haupt­säch­lich den klei­nen, unab­hän­gi­gen Geschäf­ten und bie­tet Platz für ver­schie­de­ne Lebens­rea­li­tä­ten. Und mit die­ser Iden­ti­tät wird das Vier­tel wohl hof­fent­lich auch noch die nächs­ten Jahr­zehn­te einer der span­nends­ten und cools­ten Tei­le von Man­ches­ter blei­ben.

Und wäh­rend ich so durch die Stra­ßen schlen­de­re, mir die mit Lie­be zum Detail ein­ge­rich­te­ten Cafés anse­he und begeis­tert vor den rie­si­gen Kunst­wer­ken ste­hen blei­be, die hier ein­fach so für jeder­mann sicht­bar an die Wän­de gebracht wur­den, kommt mir ein Zitat in den Sinn. Es stammt zwar von einem, vor­sich­tig aus­ge­drückt, eher kon­tro­ver­sen Sohn der Stadt, aber kommt mir hier, in die­sen Stra­ßen, in die­sem Stadt­teil, so unglaub­lich pas­send vor: Die Sache mit Man­ches­ter, hat Noel Gal­lag­her 1998 gesagt, sei, »it all comes from here«. Und dabei hat er auf sein Herz gezeigt.

Mehr Informationen zum Northern Quarter und »Cities of Hope«:

  • Hier fin­det ihr eine Über­sicht ver­schie­de­ner Street Art-Bil­der im Nor­t­hern Quar­ter und wo ihr die­se fin­det – und hier die ver­schie­de­nen Wer­ke, die für »Cities of Hope« ent­stan­den sind. Auch hier gibt es eine Lis­te mit guten Spots.
  • Wenn ihr Lust habt, euch einer Street Art-Tour anzu­schlie­ßen, fin­det ihr hier mehr Infor­ma­tio­nen und Kon­takt­da­ten.
  • Infor­ma­tio­nen zu »Cities of Hope« gibt es auf deren Web­site – und Updates auch über Insta­gram und Twit­ter. Die offi­zi­el­le Kar­te der 2016 ent­stan­de­nen Bil­der gibt es übri­gens hier.
  • Mehr Infos zu »Cities of Hope« fin­det ihr in die­sem und in die­sem Arti­kel.
  • Zum Nor­t­hern Quar­ter gibt es eine eige­ne Web­site, auf der ihr nicht nur gene­rel­le Infos bekommt, son­dern auch erfahrt, was gera­de im Vier­tel so los ist.
  • Mitt­ler­wei­le gibt es in Man­ches­ter teils gro­ßes Inter­es­se dar­an, das Nor­t­hern Quar­ter zu kom­mer­zia­li­sie­ren – was natür­lich von vie­len Stadt­be­woh­nern kri­tisch gese­hen wird. Hier fin­det ihr einen recht aus­führ­li­chen Arti­kel über die aktu­el­le Situa­ti­on.

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Antworten

  1. Avatar von Theresa

    Lie­be Aria­ne, dan­ke für den tol­len Arti­kel.
    Man­ches­ter steht schon lan­ge auf mei­ner Wunsch­lis­te und du hast die Sehn­sucht noch etwas grö­ßer gemacht. Dan­ke dafür. Vie­le Grü­ße, The­re­sa

    1. Avatar von Ariane Kovac

      Das freut mich sehr! Ich kann eine Rei­se wirk­lich nur emp­feh­len 🙂

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