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Allmählich wird’s hier drinnen unerträglich. Ishan und ich haben uns auf das Podest ganz vorn neben dem Fahrer gequetscht, ich kann mich kaum rühren, die Hose klebt, das T‑Shirt auch, immerhin: Wir sitzen.
Mit dem Bus ins Bergdorf Bandipur
Die Mittagssonne knallt auf Dumre, diesen kleinen Ort mitten in Nepal, in dem wir vor gut einer halben Stunde in den Bus nach Bandipur umgestiegen sind. Bandipur, das ist die Dorfschönheit in den Bergen, die aussieht, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Siedlung prägen gut erhaltene Häuser im Newari-Baustil und Fassaden, an denen Blüten in rot und lila ranken.
Acht Kilometer trennen uns noch von unserem Ziel. Wer weiß, wie viele Stunden von der Weiterfahrt. Uns gegenüber sitzt eine Frau mit ihrem Kind, beiden steht der Schweiß auf der Stirn. Sie naschen zerlaufene Schokoriegel, die Mutter wirft das Papier aus dem Fenster. Ich schaue ihm auf dem Asphalt hinterher.
„Hi!“
Plötzlich sitzt da auch ein Junge und sieht mich mit wachen Augen an.
„What’s your name?“
„My name ist Susanne.“
„It’s a good name! Where are you from?“
„I’m from Germany.“
„It’s a good country! Bye!“
Der Junge, er ist vielleicht zehn Jahre alt, drängelt sich an seinen Platz zurück, dann rumpelt der Bus endlich los. Ich bin gerührt. Ishan muss lachen. In der kommenden Woche beginnen viele unserer Sätze mit „It’s a good …“.
Am Tag darauf sitzen wir auf der Terrasse eines Restaurants in Pokhara, Nepals zweitgrößter Stadt. Wir wollen Dal Bhat essen, das Nationalgericht aus Reis mit Linsen, Curry und Gemüse, das mir noch lange nicht über ist.
Kaum haben wir bestellt, nehmen zwei Sadhus Kurs auf unseren Tisch. Sie tragen Bärte und Turbane, einer hält einen Klingelbeutel, der andere stützt sich auf einen Wanderstock. Minutenlang reden sie auf Ishan ein, in einer wilden Mischung aus Hindi und Nepali, wie er mir später erzählt. Dass er ein gütiger, großzügiger Mensch ist, machen sie meinem nepalesischen Freund wortreich klar. Und wenden sich plötzlich auf Englisch an mich: „You’re a lucky man“, sagt der Sadhu mit dem Stock und schaut ernst. Der andere nickt.
Gut. Abgesehen davon, dass ich kein Mann bin, weiß ich, was die beiden letztlich wollen: Geld. Doch sofort macht sich auch Dankbarkeit in mir breit. Dankbarkeit für diesen skurrilen Moment, der mich mit Ishan verbindet, und den ich erlebe, während ich eigentlich auf etwas anderes warte.
In sieben Stunden von Kathmandu nach Pokhara
In Nepal wird es mir noch öfter so gehen. Man wartet eben häufig. Man wartet vor allem im Straßenverkehr, im Stau auf den staubigen Straßen der Hauptstadt und beim Versuch, über Land von einem Ort zum anderen zu gelangen.
„Wie weit ist es bis ins nächste Dorf?“
„Nicht weit. Bis zum Abend bist du da.“
Das steht, vollkommen unironisch, in dem Nepali-Wörterbuch, das ich mir im „Pilgrims Book House“, Kathmandus berühmter Buchhandlung, gekauft habe. Wer einmal mit dem Bus von Kathmandu nach Pokhara gefahren ist, wundert sich darüber nicht: 200 Kilometer beträgt die Entfernung. Sieben Stunden, mit Essenspausen, die Fahrzeit.
Wenn man gut durchkommt. Auf der Rückfahrt brauchen wir neun Stunden für die Strecke. Die einzige Straße, die die beiden Orte verbindet, ist holprig und schmal und umso voller, je näher wir Kathmandu kommen. Schließlich können nicht mehr beide Spuren gleichzeitig in Bewegung sein, eine Seite muss immer warten.
Ishan ist neben mir eingeschlafen. Ich beobachte die Menschen auf den Rollern, in den LKWs und Autos auf der Gegenspur, als unser Bus sich träge in die Hauptstadt schiebt. Sie halten die Füße aus dem Fenster, sie lesen, sie telefonieren, sie starren Löcher in die Luft, sie diskutieren.
Nachdenken über das Warten
Mir fallen die Worte ein, die ich kürzlich über das Warten gelesen habe: Wir verlieren dabei keine Zeit, wir gewinnen welche. Der reinste Hohn für alle, die hier tagtäglich festhängen. Und doch: Oft genug lohnt ein anderer Blickwinkel. Warten kann Raum schenken für Unvorhergesehenes und Begegnungen, für Gedanken und Gespräche. Warten kann Innehalten sein. Durchatmen. Neusortieren. Das gilt im Kleinen wie im Großen: Wer auf die Liebe wartet, auf einen anderen Menschen, gewinnt wertvolle Zeit mit sich selbst. Ich kenne mich da aus, ich habe selber viel gewartet, oft genug vergeblich. Nicht dieses Mal, denke ich, und nehme Ishans Hand. Die Sadhus – und ging es ihnen auch nur um ihre Spende – hatten recht.
Zwei Monate später beginnt meine nächste Lektion in Geduld.
In das Dach der Röntgenabteilung im Klinikum Dortmund ist eine Scheibe eingefasst. Unablässig ziehen Wolken darüber hinweg. Man hat mich von Station B 43 im Krankenbett hierher geschoben. Es ist frisch auf den Fluren, ich habe mir die Bettdecke bis unters Kinn gezogen. Eine lange geplante OP hat mich hierher geführt, ich habe sie vor einigen Tagen hinter mich gebracht. Sie werden prüfen, ob die Schrauben in meinem Körper richtig sitzen. Ob die Knochen, die sie zusammenhalten, verheilen. Einige Male zieht das kleine Stückchen Himmel über mir zu und klart gleich wieder auf, bis jemand meinen Namen ruft.
In Pokhara sind wir jeden Morgen auf die Dachterrasse unseres Hotels gestiegen, um den Himalaya zu sehen. Nur selten gaben die Wolken den Blick auf den Machapuchare frei. Irgendwann, habe ich mir damals gewünscht, möchte ich die Berge aus der Nähe sehen. Ein Stück an Ishans Seite durch diese Landschaft wandern.
Viel Zeit wird bis dahin vergehen: Sechs Wochen lang darf ich nicht sitzen, viele Monate werde ich an Krücken laufen. Wann ich Ishan wiedersehe? Das weiß ich im Augenblick nicht.
Manchmal ist Warten Verwerfen. Und manchmal ist es Vergewissern.
Antwort
Nach dem Lesen dieses Artikels habe ich ernsthaft nachgedacht. Wirklich, viele Zeit in unserem Leben fuhren wir in Erwartung durch. Das geschieht in verschiedenen Orten: in der Stockung. in Geschaften..
Man muss diese Zeit mit Nutzen verbringen!!! Ich bin dem Autor dieses Artikels dankbar!!!
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