Unzäh­lige Arti­kel habe ich in den letz­ten Jah­ren auf Fak­ten über­prüft, Lehr­bü­cher und Stu­dien bis ins kleinste Detail durch­fors­tet, abge­gli­chen zwi­schen rich­tig und falsch. Che­cke rest­los alles, bevor ich etwas glaube – oder schreibe. Und nun also nehme ich die Fähre nach Juist. Lande an in einer Welt, in der Pfer­de­kut­schen statt Autos über die weni­gen Stra­ßen rol­len. In der Men­schen leben, die zur Boden­stän­dig­keit erzo­gen wer­den, um mit­ten in der tosen­den Nord­see zu bestehen, genauso wie in ihren beson­de­ren, sozia­len Struk­tu­ren. Und auf die­sem geer­de­ten ost­frie­si­schen Eiland treffe ich Astrid Wit­schorke, die mir in einem uri­gen Insel­café gegen­über­sitzt und von Elfen und Feen, Gno­men und Zwer­gen erzählt, die mir durch ihre rand­lose Brille fest in die Augen schaut und vol­ler Über­zeu­gung sagt: „Das ist die Wahrheit“. 

In rotem Woll­pulli sitzt sie vor mir, die blauen Augen wach und leuch­tend, die Gesichts­züge fein, ihr Lächeln offen. Eine freund­li­che Frau, die weiß, was harte Arbeit bedeu­tet und dass Glück nicht vom Him­mel fällt. Die 46-jäh­rige Insu­la­ne­rin, ursprüng­lich gelernte Fri­seu­rin und Indus­trie­kauf­frau, hat in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren bei Wind und Wet­ter Schau­käs­ten der Insel mit Pla­ka­ten bestückt. Sie hat in einem klei­nen Zim­mer gelebt, unprä­ten­tiös, wie viele der etwa 1700 Insu­la­ner, die um knap­pen Wohn­raum ran­geln. Und genau diese Frau nimmt Wesen wahr, die uns ver­bor­gen blei­ben. Über­all zeig­ten sie sich ihr, doch zuhause seien sie in der Natur, leb­ten in Wäl­dern, tanz­ten im Dünen­gras, seien im Was­ser, in der Luft, auch in der Erde ver­tre­ten. Über­all rund um den Glo­bus. Zu ihnen zäh­len auch Wich­tel und Ein­hör­ner, Nixen und sogar Dra­chen, die, so Wit­schorke, die Erde behü­ten. Urlau­bern ver­mit­telt sie diese Welt auf Wan­de­run­gen zu den Kraft­or­ten der Insel, die in Juists Ver­an­stal­tungs­ka­len­der ange­bo­ten werden. 

Mir ist zwar bewusst, dass wir im Grunde nichts wis­sen, dass man­ches von dem, was ich in mei­nem Stu­dium über Anthro­po­lo­gie gelernt habe, schon nach weni­ger als zwei Deka­den aktua­li­siert wer­den musste. Dass For­schung und Wis­sen­schaft immer nur ein Jetzt-Zustand sein kann. Den­noch: Von Feen und Wich­teln ist das immer noch Licht­jahre ent­fernt. Oder? Immer­hin glau­ben rund 80 Pro­zent aller Islän­der an Elfen und bauen Stra­ßen um hei­lige Stät­ten herum. 

Bei aller Skep­sis und Ratio ist mir mul­mig zumute. Astrid Wit­schorke sieht es mir wohl an. Doch Angst, ver­si­chert sie, sei das letzte, was man vor den Ele­men­tar­we­sen haben müsse. So nennt sie die Wesen­hei­ten, von denen sie so elo­quent wie prä­zise, leben­dig wie lie­be­voll erzählt: Ele­men­tar­we­sen. Unglaub­lich fröh­lich und freund­lich seien sie, lieb und sehr beschei­den. Um sie wahr­zu­neh­men, müss­ten auch wir uns auf eine demü­tige, beschei­dene Ebene bege­ben. Drei Stun­den erzählt Wit­schorke von ihren Erfah­run­gen, von ihrem Weg. Plötz­lich lacht sie: „Da huscht gerade eines an dir vor­bei“, ihr Blick saust mit. „Er ist neu­gie­rig, was du schreibst und beugt sich über dei­nen Block“. Mich durch­fährt ein kur­zer Schauer, Sekun­den­bruch­teile spä­ter bin ich plötz­lich selt­sam berührt. Dann muss ich lachen. 

Es wird eine kurze Nacht, um acht Uhr holt mich Astrid Wit­schorke am nächs­ten Tag mit dem Fahr­rad an mei­ner Unter­kunft ab. Hin­ter dem Deich steigt eine gol­dene Mor­gen­sonne auf, der kühle Ost­wind ver­treibt alle Müdig­keit. Ein blauer Tag liegt vor uns, an dem die Insu­la­ne­rin mich zu den Kraft­or­ten der Insel füh­ren wird. Auf der schma­len Straße radeln wir Rich­tung Ham­mer­see. Die Insel erwacht, erste Kut­schen auf dem Weg zur Fähre kom­men uns mit Huf­ge­klap­per ent­ge­gen. Andere Pferde gra­sen zufrie­den auf Salz­wie­sen in glit­zern­dem Mor­gen­tau. Stre­cken­weise pas­sie­ren wir raschelnde Schilf­gür­tel, die sich im Wind bie­gen. Spä­ter wird Wit­schorke mir erzäh­len, dass auch darin wun­der­bare hei­lige Wesen wohnen. 

Wir stel­len unsere Räder ab und gehen auf eine kleine Düne. Links das Watt, vor uns der See umgarnt von Büschen und Bäu­men – bewohnt von Ele­men­tar­we­sen, wie die Insel­flüs­te­rin ver­rät. Rechts der kilo­me­ter­lange Strand, zu dem wir zunächst hin­un­ter­ge­hen. Ver­ein­zelte Früh­auf­ste­her jog­gen an uns vor­bei, ein Hund wälzt sich im Sand. „Ver­su­che, schweig­sam und acht­sam zu gehen“, weist sie an. Die Nord­see schwappt uns bis vor die Füße. „Ver­su­che, den Blick in die Weite schwei­fen zu las­sen, ohne etwas zu fixie­ren, ohne etwas zu wol­len“, rät sie. Wenig spä­ter hef­tet sich Astrid Wit­schor­kes Blick auf einen Punkt im Meer. Sie sieht eine Nixe und lächelt mich an: „Sie hat ein Geschenk für dich“. Ich ver­su­che, nicht zu den­ken, nichts zu ana­ly­sie­ren und kon­zen­triere mich auf meine Hände, die ich zu einer Schale forme. In ihnen spüre ich nichts, auch sehe ich nichts, doch es gibt einen ganz kur­zen berüh­ren­den Moment, ähn­lich wie im Café am Vor­tag. Spielt mir das Bewusst­sein einen Streich? „Du hast es schon bekom­men“, sagt Wit­schorke, „es ist die Kraft einer Muschel“. Wie diese Nixe denn über­haupt aus­sehe, frage ich. In etwa so, wie wir sie auch zeich­nen, bestä­tigt sie. Ähn­lich ver­hält es sich mit ande­ren Ele­men­tar­we­sen. Elfen hät­ten spitze Ohren, Zwerge trü­gen Zip­fel­müt­zen, es gebe große und kleine, junge und alte Wesen, man­che hun­derte Jahre alt. Wer­den sie jedoch ihrer Natur beraubt, etwa wenn wir Bäume fäl­len, Land­schaf­ten zube­to­nie­ren oder die Umwelt ver­gif­ten, stür­ben sie oder ver­zö­gen sich sogar ins Erd­reich. „Ohne die Natur und ihre Ele­men­tar­we­sen sind auch wir Men­schen ver­lo­ren“, sagt sie.

Zurück am See bit­tet sie um Ein­lass ins „Elfen­reich“. „Die klei­nen Leute mögen dich übri­gens, sie ste­hen gerade um deine Füße herum“, amü­siert sich Wit­schorke. Ich schaue an mir herab und muss wie­der lachen. Ich fühle mich wie Ronja Räu­ber­toch­ter bei den Rum­pel­wich­ten. „Nun steht eine Elfe direkt neben dir, sie fin­det dich gut und nimmt dich an die Hand“, fügt sie hinzu. Ich schlu­cke inner­lich. Auf dem Weg blei­ben wir immer wie­der vor Kraft­plät­zen ste­hen, knor­rig oder ele­gant gewach­se­nen Bäu­men, die beseelt seien mit Feen- und Zwer­gen­fa­mi­lien. Auch vor bestimm­ten Pflan­zen machen wir halt. Wit­schorke erklärt, dass sie leben­dig seien und wie Medi­zin auf uns wir­ken, selbst wenn wir ein­fach neben ihnen ste­hen und uns öff­nen. „Übe das Emp­fan­gen“ sagt sie. Wir alle seien zu sehr auf Akti­vi­tät getrimmt. Diese fein­stoff­li­che Welt aber öffne sich nur, wenn wir auch emp­fan­gen kön­nen, ähn­lich wie beim Medi­tie­ren. Ich solle mich zwi­schen zwei Weiß­dorn­bü­sche stel­len und nach­spü­ren. Die Pflanze beru­hige unser Herz, sagt sie, wäh­rend Schle­hen etwa unsere Sor­gen näh­men. Die meiste Zeit gehen wir schwei­gend. Ich kann mich nicht erin­nern, einen Wald jemals so genau ein­ge­so­gen, seine Far­ben und For­men so inten­siv betrach­tet zu haben. An einer Weg­ga­be­lung blei­ben wir vor einem Tüm­pel ste­hen, über den sich eine alte, auf­ge­fä­cherte Birke neigt, ganz ver­bo­gen vom West­wind. Ihre gold­brau­nen Blät­ter rie­seln ins Was­ser. Dies sei ein Ver­samm­lungs­platz der Elfen, flüs­tert Wit­schorke, ein hei­li­ger Ort. Tat­säch­lich wirkt er magisch. Oder muss man für die­sen Ein­druck nur lang genug hin­ein­se­hen? Immer wie­der über­ho­len uns Insel­gäste, die im Stech­schritt durch den Wald hasten. 

Die Insu­la­ne­rin über­prüft sich immer wie­der selbst. Wenn sie zu abge­lenkt sei, könne auch sie die Ele­men­tar­we­sen nicht mehr wahr­neh­men. Genau dies pas­siert ihr zum Schluss an einem Baum, an dem ein alter, wei­ser Elfe mit sei­ner Frau lebe. Sie konnte ihn nicht sehen, doch es stellt sich her­aus: Er war nur auf Wan­der­schaft, sei nun zurück. Wit­schorke ist erleich­tert. „Du kannst ihm eine Frage stel­len, wenn du möch­test“. Ich schließe die Augen. Es kom­men meh­rere Gedan­ken und auch ein Name ist plötz­lich sehr prä­sent. Den behalte ich für mich. Wit­schorke sieht zu mir her­über „Auch der Elfe möchte dir ein Geschenk rei­chen“. Was Wit­schorke beschreibt, passt. Irgendwie. 

Wir wan­dern zurück zur Straße, ver­ab­schie­den uns aus dem Wäld­chen, radeln zurück in den Ort. Der Wind hat auf West gedreht, Sturm wird auf­kom­men. Ich ver­falle wie­der in den gewohn­ten Akti­ons­mo­dus, zu viel gibt es noch zu erkun­den auf die­ser Zau­ber­insel. Tage spä­ter ver­lasse ich das Eiland etwas ver­än­dert. Mit geschul­te­ren Sin­nen. Werde spä­ter betrach­ten, wie die Baum­rie­sen vor mei­nem Ham­bur­ger Küchen­fens­ter vom Sturm durch­ge­schüt­telt wer­den – und auf Emp­fang stellen. 

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Dörte Nohrden

Reist in Gedanken ständig um die Welt und landet am Ende doch meist in Europa, vor allem im geliebten Andalusien. Liebt Küsten und das Meer. Ist immer wieder berührt und bereichert durch neue Begegnungen, Kulturen und die kleinen, zufällig entdeckten Schätze. Schreibt und fotografiert über ihre Reiseerlebnisse für verschiedene Medien.

  1. Laura says:

    Was für ein schö­ner Arti­kel! Toll, dass du dich so auf diese andere Welt ein­las­sen konn­test. Das ist doch der Zau­ber beim Reisen!

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