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Ich lebe jetzt in Nepal

„Wenn ich nach Nepal ziehe, möchte ich kei­ner die­ser Expats wer­den, die in einer Tour über alles meckern.“ Meine Worte. Im Brust­ton der Über­zeu­gung habe ich sie vor ein paar Tagen zu mei­nem Freund gesagt. Er ist Nepa­lese und der Grund dafür, dass ich mei­ner Hei­mat ein­mal mehr den Rücken kehre. Gerade erst bin ich in Nepals Haupt­stadt Kath­mandu gelan­det. Ich habe den Flug­ha­fen noch nicht ein­mal ver­las­sen und meckere in einer Tour.

Landung im Chaos

Völ­lig abge­kämpft bin ich hier ange­kom­men, kein Wun­der bei der tur­bu­len­ten Anreise: Von Luft­loch zu Luft­loch habe ich dem Flie­gen für die nächste Zeit ein biss­chen ent­schlos­se­ner abge­schwo­ren. Als hätte das nicht gereicht, zog sich die Lan­dung in Kath­mandu auf Ner­ven zer­fet­zende Weise in die Länge.

Bis heute Nepals einziger internationaler

Und jetzt gibt mir das Chaos am Trib­hu­van Inter­na­tio­nal Air­port den letz­ten Rest: Seit mehr als einer Stunde warte ich in der Ankunfts­halle am Kof­fer­band auf meine Sachen, schon zwei­mal hat mir jemand sei­nen ver­damm­ten Gepäck­wa­gen in die Hacken gescho­ben, stän­dig drän­gelt sich jemand an mir vor­bei. Die Klappe in der brau­nen Wand spuckt inzwi­schen vor allem aben­teu­er­lich ver­schnürte Pakete und Flach­bild­fern­se­her statt Kof­fer und Taschen aufs Band. Von mei­nem Gepäck fehlt noch immer jede Spur. Von dem vie­ler ande­rer Flug­gäste auch. Wenn ich mich umsehe, schaue ich in rat­lose Gesich­ter und ange­strengt suchende Augen.

„So schlimm wie dies­mal war es noch nie“, tot­tere ich ins Tele­fon, als mein Freund anruft. Er kann mich nicht abho­len, weil er arbei­ten muss. Wäh­rend wir spre­chen, bleibt mein Blick an der Müll­ecke direkt neben dem Kof­fer­band hän­gen – ein impo­san­ter Hau­fen aus Papp­kar­tons und Plas­tik­tü­ten, den man so auch nicht an jedem Flug­ha­fen zu sehen bekommt. Ebenso wenig wie die ver­dreck­ten Toi­let­ten, mit denen Nepal seine Gäste hier emp­fängt, oder die stau­bi­gen Kom­mo­den und zer­schlis­se­nen Ses­sel, die hier, warum auch immer, unnütz in der Gegend rum­ste­hen. „Das ist kein Flug­ha­fen, das ist eine Zumu­tung“, rede ich mich in der lär­men­den Halle in Rage.

Schon bei mei­ner ers­ten Reise nach Nepal hat mich der Trib­hu­van Inter­na­tio­nal Air­port, ein schmuck­lo­ser Kas­ten aus brau­nem Mau­er­werk, an ein Schul­ge­bäude erin­nert. Wie schlimm es um ihn steht, wird mir erst jetzt so rich­tig klar. Wir haben Anfang März, die erste von zwei Reise-Haupt­sai­sons beginnt in die­sen Tagen und der Flug­ha­fen von Kath­mandu ist jetzt schon heil­los über­las­tet. Fast eine Stunde lang ist mein Flug­zeug über Nepals Haupt­stadt umher­ge­kreist, bis die Lan­de­bahn – die ein­zige hier – frei war. Das ist schon län­ger an der Tages­ord­nung, finde ich spä­ter her­aus. Maschi­nen, die zu viele War­te­schlei­fen flie­gen, dre­hen schluss­end­lich auch gern mal nach Delhi ab. Das blieb mir zum Glück erspart.

Von Minute zu Minute bela­gern mehr Men­schen die drei Kof­fer­bän­der, unschlüs­sig, auf wel­chem wohl mit ihrem Gepäck zu rech­nen ist. Über Laut­spre­cher bit­tet ein ner­vös klin­gen­der Mann die frisch ein­ge­trof­fe­nen Pas­sa­giere, die nun auch zur Kof­fer­aus­gabe drän­gen, um Geduld: Für sie ist lei­der noch kein Gepäck­band frei. Nach einer Stunde und fünf­zehn Minu­ten nehme ich mei­nen Kof­fer und meine Rei­se­ta­sche ent­ge­gen und hieve sie über ver­keilte Gepäck­wa­gen hin­weg in Rich­tung Aus­gang. Kurz vom Ziel wird mein Hand­ge­päck durch­leuch­tet, Sinn und Zweck der Kon­trolle erschlie­ßen sich mir nicht. Noch ein­mal anste­hen, noch ein­mal Gedrän­gel, und kaum habe ich mei­nen Ruck­sack wie­der auf­ge­setzt, reden Taxi­fah­rer auf mich ein. Als ich den Flug­ha­fen von Kath­mandu ver­lasse, bin ich einem Schrei­krampf nah.

Leben in Nepal: Hallo, Herausforderung!

So ist mein Leben in Nepal schon am ers­ten Tag das, was ich von ihm erwar­tet und zugleich befürch­tet habe: der größte Schritt hin­aus aus mei­ner Kom­fort­zone, den ich je gegan­gen bin. Eine echte Her­aus­for­de­rung. Eine, an der ich hof­fent­lich wachse, statt an ihr zu verzweifeln.

In den kom­men­den Wochen kann ich täg­lich üben. Von Deutsch­land in eines der ärms­ten Län­der der Welt zu zie­hen, fühlt sich in vie­ler­lei Hin­sicht wie eine Reise in die Ver­gan­gen­heit an. Wir kochen mit Gas und wenn es unbe­dingt sein müsste, wür­den wir auch mit Gas hei­zen. Bevor wir duschen, stel­len wir den Boi­ler an, nicht immer ist das Was­ser danach auch wirk­lich warm. Ein paar Türen in unse­rer schö­nen Woh­nung las­sen sich nicht rich­tig zuzie­hen, bei den dop­pel­ten Fens­tern reicht ein klei­ner Schubs, schon lösen sich die Rie­gel, mit denen man man sie schließt, wie­der aus ihren Hal­te­run­gen. Klo­pa­pier gehört nicht ins Klo, son­dern in den Bad­müll­ei­mer, weil die Rohre sonst verstopfen.

An all diese Dinge muss ich mich gewöh­nen. Genau wie an Strom­aus­fälle von unter­schied­li­cher Dauer, die es meist genau dann gibt, wenn ich gerade die Wasch­ma­schine ange­stellt oder zum Arbei­ten unter der hells­ten Lampe in der Woh­nung Platz genom­men habe. Nicht nur ein­mal rege ich mich dar­über auf und komme mir auf der Stelle ver­wöhnt und igno­rant vor.

Eine Woche lang spielt mein Darm ver­rückt und ich habe auf nichts Appe­tit. So lerne ich, dass ich die Schärfe vie­ler nepa­le­si­scher Gerichte auf Dauer nicht ver­trage und dass ich Frisch­milch grund­sätz­lich erst abko­chen muss. Trink­was­ser auch, wenn’s geht. Ich finde eine Kaker­lake in unse­rer Woh­nung, werde panisch, erzähle Freun­den davon und höre dann von allen Sei­ten, dass sich das hier kaum ver­mei­den lässt.

Kathmandu: Schmale Wege, dicke Luft

Aber nur wenig ver­langt mir so viel ab wie der Ver­kehr. Bra­chial schärft er alle meine Sinne. Es gibt keine Ampeln, an den Kreu­zun­gen ste­hen statt­des­sen Poli­zis­ten. Mit Glück stop­pen sie die her­an­rau­schen­den Autos, Motor­rä­der, Rol­ler und Fahr­rä­der und win­ken einen her­über, wenn man die Stra­ßen­seite wech­seln will. Wenn nicht, war­tet man, bis man sich ande­ren Pas­san­ten anschlie­ßen kann. Will dann ein­fach nie­mand dazu­sto­ßen, heißt es: Arme in Rich­tung der Fahr­zeuge aus­stre­cken und ent­schlos­sen einen Fuß vor den ande­ren auf die Fahr­bahn set­zen. Von Mal zu Mal gelingt mir das besser.

Als Fuß­gän­ge­rin habe ich es in Kath­mandu nicht leicht. Die Bür­ger­steige sind meist schmal, uneben und schlecht beleuch­tet, manch­mal steht ein brei­ter Pfei­ler mit­ten im Weg oder es hän­gen dicke Kabel bis fast zur Erde durch, über die man stei­gen oder denen man aus­wei­chen muss. Manch­mal endet der Geh­weg abrupt mit einer hohen Stufe. Also läuft man auf der Straße, wäh­rend einem per­ma­nent Motor­rä­der ent­ge­gen­bret­tern oder sich von hin­ten, mit Vor­liebe auch direkt neben einem, durch lau­tes Hupen bemerk­bar machen. In den ers­ten Wochen zische ich nicht nur einem Fah­rer deut­sche Schimpf­wör­ter hinterher.

Vier Wochen zie­hen ins Land und all­mäh­lich kos­tet der All­tag mich nicht mehr ganz so viel Energie.

Irgend­wann ist es keine große Sache mehr, meine Atem­schutz­maske zu tra­gen, weil die Luft hier mise­ra­bel ist: Staub fliegt umher, über­all wer­den Müll­hau­fen ver­brannt und Mais­kol­ben gerös­tet. Irgend­wann höre ich auf, mich zu ärgern, dass ich täg­lich von Neuem eine Schicht Dreck von Schu­hen und Hosen­bei­nen bürs­ten muss. Irgend­wann mache ich kei­nen Bogen mehr um Kühe und ihre Käl­ber, die plötz­lich mit­ten im Weg vor mir ste­hen. Irgend­wann filme ich auch nicht mehr jeden Affen, der an Kabeln her­um­turnt, son­dern nur noch jeden zweiten.

Und ganz all­mäh­lich fange ich an, mein neues Leben in Nepal zu genie­ßen. Auf der Dach­ter­rasse unse­rer Woh­nung setze ich mich manch­mal in die Sonne, dort oben haben wir einen groß­ar­ti­gen Aus­blick auf Kath­mandu. Wir kön­nen Swa­yam­bu­nath, den Affen­tem­pel, in der Ferne sehen und an ganz kla­ren Tagen die Gip­fel des Hima­la­yas am Horizont.

So oft wie mög­lich erlaufe ich mir ein Stück­chen mehr von Lalit­pur, der ruhi­ge­ren Stadt süd­lich von Kath­mandu, in der wir leben. Sie grenzt direkt an die Haupt­stadt und nir­gendwo woh­nen mehr Expats als hier. Gleich neben Sanepa, unse­rem Stadt­teil, liegt das Szene-Vier­tel Jahm­sik­hel mit sei­nen begrün­ten Wohn­stra­ßen und sei­nen schi­cken Restau­rants und Cafés, in denen es regel­mä­ßig Live­mu­sik gibt. Viele haben Ter­as­sen – kleine Oasen, in denen jetzt im Früh­ling, da die Luft all­mäh­lich mil­der wird, sogar ver­hal­tene Urlaubs­ge­fühle in mir aufkommen.

 Nepals Hauptstadt ist einzigartig

Inzwi­schen stoße ich jeden Tag auf Dinge, die Kath­mandu ein­zig­ar­tig machen. Schon bei mei­nem ers­ten Besuch haben sie mich fas­zi­niert: die all­ge­gen­wär­ti­gen Tem­pel, von rie­sen­groß bis mini, mit Göt­ter­fi­gu­ren aus Stein vor den Ein­gän­gen, die mit grü­nem, pin­kem und gel­bem Farb­pul­ver beschmiert sind.

Das Klin­geln der Glöck­chen mor­gens und abends, mit denen Hin­dus beim Gebet die Göt­ter wecken. Orange umhüllte Sad­hus mit weiß geschmink­ten Gesich­tern, die einem ab und zu auf der Straße ent­ge­gen­kom­men. Die Bol­ly­wood-Musik, die aus Taxis und Geschäf­ten dudelt. Der Duft von Jas­min in der Luft in ruhi­gen Neben­stra­ßen. Die win­zi­gen Lebens­mit­tel­lä­den mit Gemü­se­aus­lage vor der Tür, die unzäh­li­gen Restau­rants mit allem, was man sich nur wün­schen kann, die ein­fa­chen Buden mit nepa­le­si­scher Küche, in denen die Köchin­nen mit dem Topf zum Tisch kom­men und groß­zü­gig nach­fül­len. Die Schön­heit so vie­ler Haus­fas­sa­den mit ihren auf­wän­dig geschnitz­ten Türen und Fens­ter­rah­men. Die dicken Ket­ten aus orange leuch­ten­den Rin­gel­blu­men, die die Haus­ein­gänge schmü­cken. Die Saris, Kur­tas und Schals der Frauen in Knall­far­ben. Die Gebets­flag­gen, die an den Tem­peln  und über den Stra­ßen im Wind flat­tern. Und jeden Tag weckt Kath­mandu meine Neu­gier noch ein biss­chen mehr.

Stück für Stück richte ich mich ein in mei­nem neuen Leben in Nepal. Und lang­sam wird’s gemüt­lich hier, außer­halb der Komfortzone.


Flughafen Kathmandu: Die Landebahn wird saniert

Zum Schluss eine wis­sens­werte Info für alle Rei­sen­den, die bis Ende Juni 2019 nach Kath­mandu kom­men wol­len: Seit Ende März (unver­ständ­li­cher­weise mit­ten­drin in einer von zwei tou­ris­ti­schen Haupt­sai­sons des Jah­res) und noch bis Ende Juni wird die ein­zige Lan­de­bahn an Nepals ein­zi­gem inter­na­tio­na­len Flug­ha­fen repa­riert – übri­gens zum ers­ten Mal seit 1980. Wegen der Repa­ra­tur­ar­bei­ten ist der Trib­hu­van Inter­na­tio­nal Air­port zur­zeit täg­lich zehn Stun­den täg­lich geschlos­sen, es kann daher zu Ver­zö­ge­run­gen kommen.


Cate­go­riesNepal
  1. John says:

    Hallo Susanne,
    ich bin mehr oder weni­ger zufäl­lig auf diese Seite gesto­ßen und habe ange­fan­gen Dei­nen Bericht zu lesen und musste dann ein­fach bis zum Ende dran blei­ben. Es klingt alles sehr authen­tisch was Du schreibst und ich bin schon sehr gespannt, denn wir, ich und meine Freun­din, sind im Okto­ber für vier Wochen in Nepal unter­wegs. Danke für den tol­len Bericht.
    Ich ver­bleibe mit freund­li­chen Grü­ßen aus der „Kom­fort­zone“ Deutschland
    John

    1. Hallo John, das freut mich, vie­len Dank! Ich habe hier bei den Rei­se­de­pe­schen und auch auf mei­ner eige­nen Seite, http://www.fluegge-blog.de, noch mehr Nepal geschrie­ben. Schau Dich gern um, viel­leicht kannst Du was davon gebrau­chen. Viel Vor­freude wün­sche ich Euch!

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