Mein Hausbesuch in den Anden – und das Geheimnis warmer Füße

Der Geruch von fri­schem Minz­tee mischt sich mit der kal­ten, feuch­ten Luft und dem Gega­cker der Hüh­ner, die immer wie­der ver­su­chen, in den klei­nen, dunk­len Raum zu gelan­gen. Ich sit­ze zusam­men mit mei­ner Che­fin und mei­ner Men­to­rin aus dem Kin­der­heim „Hogar Semil­las de Jesús“ dicht gedrängt auf einer klei­nen Stein­mau­er, die mit einer Woll­de­cke abge­deckt ist. Wir befin­den uns mit­ten in der Küche einer Fami­lie in den Anden, umge­ben von der gewal­ti­gen, unend­lich grü­nen Berg­land­schaft Perus.

Die Mut­ter, Bar­ba­ra, hat fünf Kin­der – die bei­den Jüngs­ten sit­zen gera­de mit uns am Feu­er. Herz­lich lädt sie uns zu Tee und fri­schen Kar­tof­feln ein. (Ja, ein­fach frisch gekoch­te Kar­tof­feln – in den Anden wer­den sie oft genau so ser­viert.) Ich lau­sche gespannt dem Gespräch, doch als ich kurz mei­nen Blick auf mei­ne war­me Tas­se Tee sen­ke und dann wie­der auf­se­he, bemer­ke ich aus dem Augen­win­kel, dass die Mut­ter etwas aus einem Eimer her­vor­holt. Der Gegen­stand in ihrer Hand wird immer grö­ßer, je näher sie kommt. Was habe ich bit­te in die­sen 30 Sekun­den ver­passt? Ist das… ein leben­der Fisch? Ich traue mei­nen Augen kaum. Ein ein­zi­ger Gedan­ke geht mir durch den Kopf: Was ist denn immer nur los mit die­sen Fischen? So kuri­os die Situa­ti­on auch ist, ein Schmun­zeln brei­tet sich auf mei­nem Gesicht aus. Gleich­zei­tig über­kommt mich ein Déjà-vu – gab es nicht erst heu­te Mor­gen Thun­fisch zum Früh­stück? Genau jener Thun­fisch, der für mich so viel wäh­rend mei­ner Ankunft in Peru bedeu­te­te.

Wie bin ich eigentlich hier gelandet?

Genau das habe ich mich schon bei mei­nem ers­ten Haus­be­such gefragt. Damals, nach einer vier­stün­di­gen Fahrt und einem ein­ein­halb­stün­di­gen Fuß­marsch durch die kar­ge Anden­land­schaft, war ich sogar auf fast 4.000 Metern unter­wegs. Also, mein zwei­ter Haus­be­such in den Anden – und ich dach­te, ich wüss­te dies­mal, was mich erwar­tet. Falsch gedacht. War­um?

Blick­du­ell in der Höhe: Wer starrt hier eigent­lich wen an?

Eine kleine Zeitreise

Wir haben Ende Okto­ber 2024. Mein Sonn­tag begann früh. Sehr früh. Noch benom­men wische ich den Wecker mei­nes Han­dys aus, sehe auf die Uhr – 3:07 Uhr. Plötz­lich bin ich hell­wach. Es ist soweit. Mei­ne Che­fin hat­te mir zwei Tage zuvor spon­tan von einem geplan­ten Haus­be­such erzählt. „Magst du mit­kom­men?“ hat­te sie gefragt. „Ja, unbe­dingt!“ war mei­ne Ant­wort gewe­sen – ohne wirk­lich zu wis­sen, was mich erwar­ten wür­de. (-Nach zwei Haus­be­su­chen kann ich das immer noch nicht von mir behaup­ten.) Natür­lich woll­te ich mit. Ich hat­te bei mei­ner Ein­füh­rung in den Frei­wil­li­gen­dienst erfah­ren, dass Besu­che bei den Fami­li­en der Kin­der im Hogar Semil­las de Jesús ein wich­ti­ger Bestand­teil der Arbeit sind. Dass ich jedoch schon nach drei Mona­ten dabei sein durf­te, fühl­te sich wie ein klei­nes Wun­der an. Also zog ich mich vol­ler Auf­re­gung an: vier Lagen Klei­dung, mei­ne dicke Win­ter­ja­cke, die mir mei­ne Paten­tan­te noch in Deutsch­land für­sorg­lich mit­ge­ge­ben hat­te und jetzt zum Ein­satz kam. Mit einer Ther­mos­kan­ne Coca-Tee im Ruck­sack war ich bereit.

Und schon fand ich mich gemein­sam mit drei Geschwis­ter­kin­dern aus mei­ner Ein­satz­stel­le auf der Lade­flä­che eines klei­nen, klapp­ri­gen Last­wa­gens wie­der. Zwi­schen Kis­ten vol­ler Obst und Gemü­se dräng­ten wir uns anein­an­der. Der kal­te Wind drang durch die Holz­lat­ten, wäh­rend wir auf holp­ri­gen Schot­ter­pis­ten tie­fer in die Anden fuh­ren. Die jün­ge­ren Kin­der schlie­fen, anein­an­der gelehnt unter Decken, wäh­rend ich durch die schma­len Zwi­schen­räu­me der Kis­ten auf die majes­tä­ti­schen Berg­gip­fel blick­te. Ich fühl­te mich klein – aber auf die schöns­te Art und Wei­se.

Nach vier Stun­den Fahrt ende­te unse­re Rei­se an einer Weg­ga­be­lung. Der Rest? Ein­ein­halb Stun­den Fuß­marsch. „Das wird ein Klacks“, dach­te ich. Ha! Die Höhen­luft belehr­te mich eines Bes­se­ren. Mein Herz poch­te, mei­ne Bei­ne wur­den schwer – doch ich konn­te mei­nen Blick nicht abwen­den. Der zehn­jäh­ri­ge Jun­ge neben mir grins­te: „Dein ers­tes Mal so weit oben in den Ber­gen, oder?“ Ich nick­te außer Atem. Er lächel­te wis­send. Für ihn All­tag – für mich ein klei­nes Wun­der.

Zwei Hausbesuche – zwei Erfahrungen

Nun, mein zwei­ter Haus­be­such im Febru­ar 2025 ver­lief etwas anders. Dies­mal fuh­ren wir mit dem Auto. Bedeu­te­te das weni­ger Stra­pa­zen? Bedingt. Auf der Rück­bank zu fünft – vier Kin­der und ich – war es auf den Schot­ter­pis­ten nicht weni­ger eng oder rucke­lig. Doch wir kamen schnel­ler vor­an und erreich­ten das ers­te Zuhau­se nach nur zwei Stun­den.

Das Leben in den Anden

Zurück zu mei­nem ers­ten Besuch im Okto­ber. Als wir schließ­lich unser Ziel erreich­ten, stand ich stau­nend vor einer ein­fa­chen Stein­hüt­te. Eine nied­ri­ge Tür führ­te in den ein­zi­gen Raum des Hau­ses. Zwei Hun­de spran­gen bel­lend um uns her­um, als die Mut­ter der Kin­der her­aus­kam. In tra­di­tio­nel­ler Anden­klei­dung begrüß­te sie uns herz­lich, ihr Gesicht vom Wet­ter gezeich­net, aber vol­ler Wär­me. Drin­nen war es schlicht: Eine Feu­er­stel­le domi­nier­te den Raum, dar­über hin­gen eini­ge Töp­fe. Am ande­ren Ende stand eine ein­fa­che Bett­kon­struk­ti­on aus Holz und Matrat­zen. Auf dem Lehm­bo­den unter dem Bett lie­fen Meer­schwein­chen her­um – ein unge­wohn­ter, aber hier typi­scher Anblick.

Bei bei­den Besu­chen fiel mir auf, wie eng die Men­schen hier mit ihren Tie­ren leben. Alpa­kas, Lamas, Meer­schwein­chen, Hun­de, Kat­zen, Hüh­ner, Scha­fe, Esel – fast alle die­se Tie­re konn­te man antref­fen. Jedes Mal wur­den wir in der Küche emp­fan­gen, immer mit Tee und gekoch­ten Kar­tof­feln. Mei­ne Che­fin sprach mit den Fami­li­en: „Wie sieht euer All­tag aus? Wann steht ihr auf? Wie ver­sorgt ihr euch? Wie seid ihr ver­netzt?“

Mit mei­nem bes­se­ren Spa­nisch­ver­ständ­nis konn­te ich dies­mal viel mehr von den Gesprä­chen mit­be­kom­men. Doch oft wur­de in Quechua gespro­chen, der indi­ge­nen Spra­che der Anden­re­gi­on. Ich hör­te fas­zi­niert zu, als ein Fami­li­en­va­ter über sei­nen All­tag erzähl­te: Auf­ste­hen um vier Uhr, Tie­re ver­sor­gen, das Kar­tof­fel­feld bestel­len, ein klei­nes Gewächs­haus bewirt­schaf­ten. Gegen zehn oder elf Uhr gibt es eine ers­te war­me Mahl­zeit – oft eine Sup­pe mit min­des­tens zwei Kar­tof­fel­sor­ten und einem hal­ben Hüh­ner­schen­kel. Auch wir durf­ten uns mit die­ser war­men Sup­pe stär­ken.

Was mir sonst noch in Erin­ne­rung geblie­ben ist? Natür­lich die tra­di­tio­nel­le Klei­dung. Selbst­ge­web­te Stof­fe in bun­ten Far­ben zie­ren die Röcke der Müt­ter und die Pon­chos der Väter. Zusam­men­ge­zuckt bin ich jedes Mal, als ich die bar­fü­ßi­gen Füße der Kin­der in den weit ver­brei­te­ten Leder­san­da­len gese­hen habe. Auf die Erklä­rung, dass Socken nur käl­ter sind, muss­te ich erst ein­mal stut­zen. Mit Socken an den Füßen ist es käl­ter? Auf mei­nen wahr­schein­lich etwas rat­lo­sen Blick erklär­te mir mei­ne Men­to­rin dar­auf­hin, dass der Boden gera­de jetzt wäh­rend der Regen­zeit sehr nass ist. Socken wer­den hier also schnell feucht und trock­nen mit dem kal­ten Wind kaum oder gar nicht mehr. Also bedeu­ten kei­ne Socken wär­me­re Füße.

Gedanken, die bleiben

Bei bei­den Besu­chen fühl­te sich der Rück­weg wie eine Ewig­keit an. Äußer­lich ruhig, inner­lich auf­ge­wühlt. Die­se Fami­lie leb­te in einer Rea­li­tät, die so weit von mei­ner ent­fernt war, dass ich sie kaum begrei­fen konn­te. Mein Kopf ist ein Karus­sell aus Gedan­ken und Bil­dern. Noch Tage spä­ter den­ke ich über das nach, was ich gese­hen habe. Ich hat­te Armut gese­hen. Nicht als abs­trak­te Zahl, son­dern als har­te Rea­li­tät des täg­li­chen Über­le­bens. Und doch hat­te ich so viel Stolz erlebt. Jedes Kind führ­te uns vol­ler Freu­de durch sein Zuhau­se, zeig­te uns sei­nen All­tag. Sie kann­ten jeden Stein, jeden Pfad. Sie lie­fen bar­fuß durch den Fluss, als wäre es nichts – wäh­rend ich auf mei­nen wack­li­gen Bei­nen kaum Halt fand. Und ich sehe ich auch die Unter­stüt­zung in mei­ner Ein­satz­stel­le aus einem ganz neu­en Blick­win­kel. Ich kann nun eini­ge Din­ge bes­ser ein­ord­nen.

Nun keh­re ich zurück in mei­ne Ein­satz­stel­le. In mei­ner Hand? Eine Plas­tik­tü­te, mit einem Fisch. Er schwebt neben mir, als wäre er ein stil­ler Beglei­ter mei­ner Rei­se. Mal sehe ich ihn klar, mal ver­schwimmt sei­ne Sil­hou­et­te im Licht. Viel­leicht ist es genau das mit die­sen Fischen – sie tau­chen auf, trei­ben mit mir mit und ver­schwin­den wie­der. Doch irgend­wie sind sie immer da.


PS.: Erst spä­ter begrei­fe ich: Der Fisch, von dem ich dach­te, er wür­de noch leben, war längst tot – ein Geschenk. Er stamm­te aus dem klei­nen Teich, den die Fami­lie selbst ange­legt hat­te, um Fische zu züch­ten und sich damit zu ver­sor­gen. Eine Ges­te der Herz­lich­keit von Men­schen, die selbst so wenig besit­zen und den­noch mit offe­nen Hän­den geben. Ihre Groß­zü­gig­keit berührt mich tief.


Antworten

  1. Avatar von Eleonore Walk(genannt:Ellen)
    Eleonore Walk(genannt:Ellen)

    Lie­be Anto­nia,
    wir haben uns lei­der nur ganz kurz ken­nen­ge­lernt.
    Ich war 1999 mit einer Freun­des­grup­pe unter Lei­tung von Rami­ro Salas Bra­vo und sei­ner perua­ni­schen Frau Pat­ty und der Uren­ke­lin des Nobel­preis­trä­gers Rudolf Virch­ow für 3 Wochen im Süden von Peru incl. Inka Trail und natür­lich Machu Pic­chu, wobei Rami­ro bei den Aus­gra­bun­gen damals dabei war. Da Rami­ro in Wei­mar Archi­tek­tur stu­diert hat, kann er gut Deutsch spre­chen, aber natür­lich auch Spa­nisch und Chechua (?) durch sein frü­he­res Kin­der­mäd­chen. Die­se 3 Wochen waren für uns alle hoch­in­ter­es­sant!

    1. Avatar von Antonia Köglmayr

      Lie­be Ellen,
      was für eine beson­de­re Ver­bin­dung zu Peru! Das muss eine unglaub­li­che Zeit gewe­sen sein. Ich freue mich sehr, dass du hier mit­liest.

  2. Avatar von Viola Rotheneichner
    Viola Rotheneichner

    Hal­lo Anto­nia,
    ich bin eine Arbeits­kol­le­gin dei­ner Mama und ver­fol­ge dei­ne Berich­te mit Begeis­te­rung. Ich habe selbst 1 Jahr in Argen­ti­ni­en am Fuße der Anden gelebt und kann mich so gut in dei­ne anschau­li­chen und inter­es­san­ten Berich­te hin­ein füh­len! Du hast eine rich­ti­ge Bega­bung zu schrei­ben! Ich lese sie mit Begeis­te­rung , du schreibst so leben­dig und inter­es­sant. Ich freu mich sehr ‚noch mehr von dir zu hören!
    Ganz lie­be Grü­ße
    Vio­la

    1. Avatar von Antonia Köglmayr

      Hi Vio­la,
      wow, das freut mich total – dan­ke für dei­ne lie­ben Wor­te! Es ist schön zu hören, dass mei­ne Berich­te dich an dei­ne Zeit in Argen­ti­ni­en zurück­ver­set­zen. Ich kann mir vor­stel­len, dass das Leben dort genau­so span­nend und ein­drucks­voll war :))
      Lie­be Grü­ße aus Peru!

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