Gleich neben dem Steg liegt ein kaput­tes Schlauch­boot. Ich habe mich fest­ge­guckt daran. Es glänzt in der Sonne, in der Mitte ist es ein­ge­dellt und merk­wür­dig ver­dreht. Unauf­hör­lich schie­ben die Wel­len es auf den Grund und zie­hen es wie­der zurück ins Meer. Dahin­ter, am Ufer, ste­hen Zelte.

Mon­tag, 24. August, 16 Uhr. Ich befinde mich auf Kos – eine der grie­chi­schen Inseln, auf denen seit März jeden Tag im Mor­gen­grauen Flücht­linge stran­den. Vom fünf Kilo­me­ter ent­fern­ten tür­ki­schen Bodrum machen sie sich in Boo­ten wie die­sem auf die lebens­ge­fähr­li­che Reise. Täg­lich kom­men bis zu 500 Men­schen vor allem aus Syrien, Paki­stan, Afgha­ni­stan, dem Irak und den Kri­sen­län­dern Afri­kas. Ich bin hier, um über sie zu berich­ten. Ein Rei­se­ver­an­stal­ter hat die Zeit­schrift, für die ich arbeite, dazu eingeladen.*

Mit der Kame­ra­ta­sche über der Schul­ter laufe ich an der Hafen­pro­me­nade ent­lang. Junge Män­ner sit­zen am Kai und star­ren mit müden Gesich­tern aufs Meer. An der Stadt­mauer steht ein Mann nur in Boxer­shorts vor einer Was­ser­stelle, in der Hand eine Packung Ein­weg­ra­sie­rer. Wasch­räume gibt es für die etwa 3000 Flücht­linge auf der Insel nicht.

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Der Wind zerrt an den Zel­ten. Davor sit­zen Grüpp­chen von Men­schen auf Pap­pen. Drei junge Män­ner schauen auf, als ich vor­über­gehe. Ob sie Eng­lisch spre­chen? Sie beja­hen und win­ken mich zu sich. Ich setze mich zu Emad, Amr und Moham­med, drei Cou­sins aus Syrien, und krame nach mei­nem Stift. „Darf ich?“ sagt Moham­med und deu­tet auf die halb­leere Was­ser­fla­sche, die ich neben mir abge­stellt habe. Beschämt rei­che ich sie ihm und beschließe, spä­ter noch ein­mal mit Geträn­ken und Lebens­mit­teln zurück­zu­kom­men. Erst seit Kur­zem wird eine Fähre für die Regis­trie­rung und Ver­sor­gung von Flücht­lin­gen ein­ge­setzt. Sie ist Syrern vor­be­hal­ten. Und sie ist längst voll. Ansons­ten gibt es auf Kos keine Anlauf­stelle. Keine Essens­aus­gabe. Kein Trink­was­ser. Das Not­wen­digste brin­gen Tou­ris­ten und Ein­hei­mi­sche vorbei.

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Vor drei Tagen sind sie ange­kom­men, erzählt Emad, der Ruhigste der drei, mit mehr als vier­zig wei­te­ren Flücht­lin­gen an Bord. 1250 Dol­lar haben sie Schlep­pern gezahlt. Die drei Syrer sind schon regis­triert. Nun har­ren sie hier drau­ßen aus, bis sie einen Platz auf der Fähre nach Athen bekom­men. „Nachts ist es ein biss­chen kalt. Aber das ist schon ok. Gegen Syrien ist das alles hier die reinste Ent­span­nung“, sagt Moham­med. Die ande­ren bei­den nicken stumm.

„Was habt Ihr erlebt? Im Krieg?“, frage ich und komme mir auf der Stelle plump und unsen­si­bel vor. Amr bricht das Schwei­gen. Zögernd erzählt er von Bom­ben, die direkt vor sei­nem Haus ein­schlu­gen. Und von dem Tag, an dem seine Fami­lie 15 Cou­sins und 20 Freunde ver­lor. Er hef­tet den Blick auf das unru­hige Meer. Und dann auf Emad. „Sein Vater ist ver­schwun­den. Vor drei Jah­ren schon. Da kamen sie und nah­men ihn fest. Wir wis­sen nicht, ob er noch lebt.“ Die Cou­sins sehen sich an. „Ich bin damals in den Jemen geflüch­tet, um mein Stu­dium fort­zu­set­zen. Aber da ist jetzt auch Krieg“, sagt Emad. Er hofft, in Deutsch­land wei­ter­stu­die­ren zu können.

23, denke ich nachts im Hotel­bett. Emad ist 23 und schon zum zwei­ten Mal in sei­nem Leben auf der Flucht. Vor Bom­ben und vor angst­durch­wach­ten Näch­ten. Vor Din­gen, von denen ich nicht ein­mal eine Vor­stel­lung habe. Mit 23 habe ich auch stu­diert. In Eng­land. In Sicher­heit. Ich schalte die Kli­ma­an­lage aus.

Das Fünf-Sterne-Resort, in dem die Teil­neh­mer der Pres­se­reise zwei Nächte schla­fen, liegt zwan­zig Auto­mi­nu­ten außer­halb von Kos Stadt. Gäste bekom­men hier von den Flücht­lin­gen nichts mit. Am nächs­ten Mor­gen bringt ein Bus uns in ihre Welt zurück. Wir fah­ren zum „Cap­tain Elias“, eine  her­un­ter­ge­kom­mene Hotel­ruine, in der pha­sen­weise bis zu ein­tau­send Flücht­linge Unter­schlupf suchen. Sie kom­men aus Paki­stan, Afgha­ni­stan, Kame­run, Nige­ria und dem Kongo. Als das Hotel noch in Betrieb war, ver­brach­ten hier bis zu 200 Urlau­ber ihre Ferien am Pool und im Pal­men­gar­ten. Heute brö­ckelt der Putz von den Wän­den, um das Gebäude herum ste­hen Zelte und Ver­schläge aus Pap­pen, Stoff­fet­zen und Ästen. Auf dem Boden liegt über­all Müll.

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Den lee­ren Pool, an des­sen Grund dicke Gras­bü­schel wach­sen, nut­zen die Bewoh­ner jetzt als Feu­er­stelle. Dahin­ter steht ein Zelt von den „Ärz­ten ohne Gren­zen“. Ein­mal pro Woche kommt ein klei­nes Team vor­bei, um nach den Flücht­lin­gen zu sehen. Bei einem ihrer letz­ten Besu­che haben die Ärzte Aus­hänge neben die Ein­gangs­tür geklebt: eine Anlei­tung zum rich­ti­gen Hän­de­wa­schen. Im „Cap­tain Elias“ ist die Krätze ausgebrochen.

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In der Lobby sit­zen junge Män­ner dicht an dicht auf dre­cki­gen Matrat­zen. Einige ver­su­chen zu schla­fen, sie haben sich dünne Laken über den Kopf gezo­gen. Andere spie­len Kar­ten oder reden. Alle hier war­ten. Anders als Syrer, die wegen des Bür­ger­kriegs sofort als Flücht­linge aner­kannt wer­den und ihre Papiere inner­halb von zwei bis fünf Tagen bekom­men, dau­ert die Regis­trie­rung für Men­schen aus ande­ren Län­dern bis zu einem Monat.

Im heruntergekommenen Hotel "Captain Elias", wo Ende August 2015 bis zu eintausend Flüchtlinge hausen

Ali ist schon seit 22 Tagen hier. Der junge Paki­sta­ner hat sich ganz allein nach Kos durch­ge­schla­gen, Kind und Frau musste er zurück­las­sen. „Das hät­ten wir nie bezah­len kön­nen. Außer­dem ist das alles hier viel zu gefähr­lich für sie.“ Er hat schon wochen­lang nicht mehr mit ihnen spre­chen kön­nen. „Kein Strom. Kein W‑LAN. Und Geld, um mein Handy auf­zu­la­den, habe ich auch nicht.“

Ali aus Paki­stan (Mitte hin­ten) im „Cap­tain Elias“ auf Kos. Als das Foto ent­stand, hatte er schon 22 Tage in der maro­den Zufluchts­stätte verbracht

Aber Hoff­nung hat der 23-Jäh­rige. „Ich will arbei­ten in Europa. Dann kann ich meine Fami­lie unter­stüt­zen.“ Ali will nach Deutsch­land, wie die meis­ten hier. Wäh­rend seine Miene sich auf­hellt, boxt mir der Gedanke an Deutsch­land in den Magen. Plötz­lich habe ich die Bil­der aus Frei­tal und Hei­denau vor Augen. Und die Nach­rich­ten von ges­tern: Wie­der hat eine geplante Unter­kunft in Deutsch­land gebrannt.

Ich habe den Kopf voll mit Gedan­ken, das Herz voll mit Wün­schen, als wir das „Cap­tain Elias“ ver­las­sen. Auf der Rück­fahrt, nachts im Hotel, am nächs­ten Tag im Flug­zeug. Dass Ali seine Fami­lie bald wie­der­sieht. Dass Emads Vater lebt. Dass er stu­die­ren kann in Deutsch­land. Dass Flücht­lin­gen hier und anderswo kein Hass ent­ge­gen­schlägt. Und dass es  auf­hört, das Leid die­ser Men­schen, die alles zurück­ge­las­sen haben, die nichts mehr haben als Hoffnung.

* Im Anschluss an diese Pres­se­reise erschien zunächst ein Bei­trag in der Zeit­schrift LEA (Heft 38 vom 9.9.2015). Herz­li­chen Dank an all­tours für die Einladung.

Cate­go­riesGrie­chen­land Welt
Susanne Helmer

Journalistin aus Hamburg, die es immer wieder in die Welt hinauszieht. Gern auch für etwas länger. Am Ende jeder Reise stand bislang immer dasselbe Fazit: Kaum etwas im Leben euphorisiert und bereichert sie so sehr wie das Anderswosein. Und: Reisen verändert.

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