Die Wolga, ein Mythos, eine Nation. 3.500 Kilo­me­ter, im Jah­res­durch­schnitt über 8 Mil­lio­nen Liter Was­ser, und trotz­dem ver­lässt der größte Fluss Euro­pas nie das Land, in dem er ent­springt. Dass das ein­mal anders war, von den vie­len ver­schie­de­nen Völ­kern, die hier in frü­he­ren Zei­ten leb­ten, davon erzählt die Region Tatar­stan, dort, wo die Wolga so breit wird wie ein rie­si­ger See.

Mythos Wolga

Flüsse sind Bewe­gung und Stre­cke, ich folge ihnen mit den Augen und träume mich in die Ferne. Als ich die Wolga zum ers­ten Mal sehe, ist das anders. Hier ruhen meine Augen, hier denke ich nicht an Quelle oder Mün­dung, son­dern ich bin ein­fach da. Still liegt das Gewäs­ser, scheint sich kei­nen Mil­li­me­ter wei­ter­zu­be­we­gen, son­dern höchs­tens ein paar Wel­len an den Strand zu spü­len. Der Wolga wohnt eine fast magi­sche Ruhe inne.

Es gibt wohl wenige Natio­nen, die ihr Wesen der­art mit einem Fluss ver­bin­den. Die Wolga ist der ägyp­ti­sche Nil, nicht nur ver­gleich­bar in Bezug auf die enorme Was­ser­menge und das rie­sige Ein­zugs­ge­biet, son­dern auch auf den Mythos, das Bild des Flus­ses als Mut­ter der Nation, als Lebens­spen­der und Frucht­bar­keits­sym­bol – und als unbe­re­chen­ba­rer Ver­ur­sa­cher kata­stro­pha­ler Über­schwem­mun­gen oder ver­nich­ten­der Dürren.

Der Mythos Wolga ist ein ver­bli­che­ner. Viele der Städte, die mit der Erschlie­ßung der Fluss­ufer zu Ruhm kamen, sind heute nichts wei­ter als Pro­vinz­städte, die ein­an­der immer stär­ker glei­chen. Anders ist Kasan, acht­größte Stadt Russ­lands und selbst­pro­kla­mierte dritte Haupt­stadt. Dass die Stadt beson­ders ist, merkt man auf den ers­ten Blick – die Region Tatar­stan hat sich bis heute eine starke Eigen­stän­dig­keit bewahrt. Auch, wenn frü­her an den Ufern der Wolga die ver­schie­dens­ten Völ­ker leb­ten, ist kaum eines heute noch der­art prä­sent wie die Tata­ren, die ihre eigene Spra­che spre­chen und über die Hälfte der Ein­woh­ner der Region stel­len. Und sich als wirt­schafts­starke Region selbst­be­wusst gegen­über der rus­si­schen Regie­rung behaupten.

Tatarstan und die Wolga

Kasan war für Russ­land und die Wolga auch in der Ver­gan­gen­heit bedeu­tend: Erst, als Iwan der Schreck­li­che 1552 Kasan erobert hatte, wurde die Wolga wirk­lich zu dem rus­si­schen Fluss. Da das Zaren­reich damals noch lange kei­nen ganz­jäh­rig eis­freien See­ha­fen besit­zen würde, stellte die Wolga lange einen Ersatz für den feh­len­den Meer­zu­gang da. Mit dem Fluss stand der Weg zur Welt offen, die Wolga wurde ein Sym­bol für Reich­tum und Wohlstand.

Doch auch bevor Kasan zur der­art wich­ti­gen Haupt­stadt Tatarstans wurde, sie­delte man schon am Ufer der Wolga. Mau­er­reste und Türme der Burg­an­lage Bol­gar, seit dem 10. Jahr­hun­dert Sitz der Tata­ren, zeu­gen heute noch davon. Hier blickt man von oben auf die Wolga, die dank der ver­schie­de­nen Inseln, die sich breit durch den Fluss zie­hen, eher aus­sieht wie eine große Moor­land­schaft. Ein Motor­boot fährt vor­bei, als es fort ist, kehrt die medi­ta­tive Ruhe der Wolga zurück.

Wäh­rend in ande­ren Kul­tu­ren Flüsse in Mär­chen und Legen­den häu­fig als böse und grau­sam auf­tre­ten, ist das in Russ­land ganz anders: Die Wolga erträgt und hört zu, ist gedul­dig und klug, schenkt Erlö­sung und spen­det Weis­heit. Ich stehe in Bol­gar, bli­cke auf die Was­ser­mas­sen und kann gut ver­ste­hen, warum. Der Blick auf die Wolga scheint sogar den eige­nen Herz­schlag um einen Tick zu verlangsamen.

Ab ins Wasser!

Eines lässt sich an einem der­art son­ni­gen Tag aller­dings schlech­ter ver­ste­hen: Viele Sagen, in denen die Wolga auf­taucht, sind sehr trau­rig – Men­schen kom­men ans Fluss­ufer, um ihr Leid zu kla­gen und Trost zu suchen. Heute sind die meis­ten gekom­men, um sich abzu­küh­len, einer nach dem ande­ren springt über den kur­zen Steg und lan­det kopf­über im Was­ser. Ein Plat­scher nach dem nächs­ten, Kin­der schreien vor Begeis­te­rung, wer nicht dabei ist, ärgert sich wahr­schein­lich, die Bade­hose ver­ges­sen zu haben. Ein Stück ent­fernt brät eine Frau im Schat­ten einer Baum­gruppe Pfann­ku­chen, die sie mit But­ter, Käse und Gemüse füllt, eine Stim­mung irgendwo zwi­schen Wan­der­tag und Hitzefrei.

Auf dem Weg zurück nach Kasan wol­len wir noch ein­mal an der Wolga hal­ten, und wer­den an einer gro­ßen Brü­cke zunächst von einem Sol­da­ten weg­ge­schickt – Foto­gra­fie­ren ver­bo­ten. Mehr Glück haben wir an einer Bade­stelle hin­ter einem klei­nen Wald­stück. Hier ist die Wolga tat­säch­lich so breit auf­ge­staut, dass man das Gefühl hat, an einem Meer zu ste­hen. Die Zehen im Sand ver­gra­ben, sehe ich den sanf­ten Wel­len zu und ver­su­che ver­geb­lich, irgend­et­was am Hori­zont zu erken­nen. Locker 10 Kilo­me­ter sind es bis ans andere Ufer, hier, kurz bevor die Wolga mit der Kama zusam­men­fließt, dem ande­ren Rie­sen in die­sem Flusssystem.

Am nächs­ten Tag geht es vom Ufer mit­ten hin­ein in die Wolga, nach Swi­jaschsk, eine Insel zwi­schen Haupt- und Neben­ar­men, die heute dank Zufahrt eigent­lich nur noch eine Halb­in­sel ist. Wir suchen den Blick von außer­halb auf die Insel und fin­den eine Wiese, am Rand derer Ang­ler sit­zen. Wild­blu­men und Insek­ten­ge­summ, end­lose Weite und Som­mer­na­tur – ich könnte mir gerade kaum eine ent­spann­tere Szene vorstellen.

Die Insel Swijaschsk

Auf der Insel ange­kom­men, gibt es dafür umso mehr Tru­bel. Das dritte UNESCO-Welt­kul­tur­erbe Tatarstans soll heute als sol­ches ein­ge­weiht wer­den. Dafür wird sogar der ehe­ma­lige Prä­si­dent Tatarstans erwar­tet. Min­ti­mer Schai­mi­jew war von 1991 bis 2010 an der Macht und arbei­tet heute noch als Bera­ter des aktu­el­len Prä­si­den­ten. In sei­ner lan­gen Amts­zeit hat er der Region zu sei­ner heu­ti­gen vor­teils­haf­ten und ver­gleichs­weise auto­no­men Posi­tion inner­halb Russ­lands ver­hol­fen – und wird inzwi­schen noch immer von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung verehrt.

Bevor wir ihm begeg­nen, sehen wir aller­dings erst mal sei­nen Hub­schrau­ber – und ein paar sei­ner Body­guards, die gerade ein Bad in der Wolga neh­men und uns bit­ten, keine Fotos von ihnen zu machen. Spä­ter dann der große Emp­fang samt Chor und Men­schen­an­sturm – bei dem ich froh bin, als ich end­lich in ruhi­gere Gefilde der Insel flie­hen darf.

Welt­kul­tur­erbe ist nicht der gesamte Ort, son­dern nur das Klos­ter, das sich direkt am Anfang befin­det. Wer wei­ter­läuft, trifft auf meh­rere Kir­chen und andere his­to­ri­sche Gebäude – und auf viele Kat­zen, die es sich im Schat­ten gemüt­lich gemacht haben. Ganz an der Spitze der Halb­in­sel ste­hen nor­male Wohn­häu­ser, hier, zwi­schen wil­den Gär­ten, bun­ten Fens­ter­lä­den und dem über­all prä­sen­ten Blick auf den Fluss, macht mir das Spa­zie­ren­ge­hen am meis­ten Spaß. Je län­ger ich mich hier zwi­schen den Häu­sern ver­irre und auf ein­mal kei­ner Men­schen­seele mehr begegne, desto mehr bekomme ich das Gefühl, die Zeit wäre hier ste­hen geblie­ben – aber auf eine höchst sym­pa­thi­sche Art und Weise.

Die Wolga, von innen und von oben

Als ich wie­der an der Ver­bin­dung zwi­schen Insel und Fest­land ankomme, ist es auch end­lich soweit: Mein Bad in der Wolga. Nach all den Erleb­nis­sen der ver­gan­ge­nen Tage kommt es mir bei­nahe wie ein ritu­el­ler Akt vor, in das ruhige und ange­nehm kühle Was­ser zu glei­ten. Ich schwimme ein paar Züge, lasse mich trei­ben, schaue mir die Insel vom Was­ser aus an – und fühle mich augen­blick­lich tota­lent­spannt. Da ist sie wie­der, die Magie der Wolga. Es stimmt, zu die­sem Fluss kann man mit all sei­nen Sor­gen kom­men und Erlö­sung finden.

Zurück in Kasan geht gerade die Sonne unter über Wolga und Kasanka, den bei­den Flüs­sen, die sich quer durch die Stadt und an ihr vor­bei­zie­hen. Am Ufer wer­fen Bade­gäste dunkle Sil­hou­et­ten gegen den oran­ge­ro­ten Him­mel, ein per­fek­tes Stillleben.

Wir fah­ren erst eine Runde mit dem Rie­sen­rad, das in einer bei­nahe absurd rie­sig anmu­ten­den Spaßb­ad­land­schaft steht – um ein­zu­stei­gen, müs­sen wir, kom­plett ange­zo­gen, ein­mal quer durch die Mas­sen der Bade­gäste, die hier vor der Kulisse des Kasa­ner Kremls im Pool lie­gen. Kasan von oben, das heißt, Was­ser und Brü­cken von oben, und die unter­ge­hende Sonne, die sich darin spie­gelt. Und dann, end­lich, geht es aufs Boot. Wir flie­gen über das flüs­sige Gold, in das sich der Kasanka-Fluss ver­wan­delt hat, und schau­keln die Wel­len ent­lang zu den bekann­tes­ten Bau­wer­ken der Stadt, zum „Kes­sel“, ent­lang am Kreml.

Doch der Anblick, der mir im Gedächt­nis bleibt, das ist der Fluss, ruhig und sanft, rie­sig und gewal­tig. Viele Land­schaf­ten, viele Flüsse haben ihre Mythen – doch nur bei weni­gen kann man die tat­säch­lich mit Leib und Seele spüren.

Mehr Infor­ma­tio­nen
Kasan ist mit 1,2 Mil­lio­nen Ein­woh­nern die acht­größte Stadt Russ­lands. Geo­gra­phisch gese­hen liegt Kasan ganz im Osten des euro­päi­schen Teil Russ­lands – also immer noch rela­tiv weit im Wes­ten. Mit Aero­flot kann man ent­we­der über Mos­kau flie­gen, oder die zwei Direkt­flüge pro Woche nut­zen, die von Frank­furt aus ange­bo­ten werden.
Russ­land und Kasan 2018 besuchen
Der Visums­be­an­tra­gungs­pro­zess für Russ­land kann ner­ven­auf­rei­bend sein – wer zur WM anreist und ein Spiel sieht, bekommt eine Fan-ID, mit der er ohne ein­rei­sen darf. Zusätz­lich gibt es die Mög­lich­keit, zwi­schen den Aus­tra­gungs­or­ten kos­ten­los per Zug zu fah­ren: Mos­kau, Sankt Peters­burg, Jeka­te­rin­burg, Kali­nin­grad, Nischni Nowo­go­rod, Ros­tow, Samara, Sar­ansk, Sot­schi, Wol­go­grad – und eben Kasan. Wei­ter­le­sen und ‑schauen: bei Puriy oder bei Daily Sports.
Cate­go­riesRuss­land
Ariane Kovac

Hat ihr Herz irgendwo zwischen Lamas und rostigen Kleinbussen in Peru verloren. Seitdem möchte sie so viel wie möglich über andere Länder und Kulturen erfahren - wenn möglich, aus erster Hand.

Wenn sie gerade nicht unterwegs sein kann, verbringt sie viel Zeit damit, den Finger über Landkarten wandern zu lassen und ihre eigene Heimat ein bisschen besser zu erkunden, am liebsten zu Fuß. Immer dabei, ob in Nähe oder Ferne: Kamera und Notizbuch, denn ohne das Schreiben und das Fotografieren wäre das Leben für sie nicht lebenswert.

  1. Eduard Klein says:

    Die Wolga ist wirk­lich ein beein­dru­cken­der Fluss. Auf dei­nen Fotos sieht man ein­fach herr­lich, wel­che schö­nen und auch natür­li­chen Orte Russ­land zu bie­ten hat. Vie­len Dank dafür!

  2. Schwabski says:

    Hallo Ariane, sehr schö­ner Artikel! 

    Ich war selbst zwar noch nie an der Wolga, aber ich kann Deine Gefühle von Ruhe, Sanft­heit aber auch gewal­ti­ger Größe sehr gut nach­voll­zie­hen. So geht es mir immer wenn ich am Bai­kal­see in Sibi­rien bin. Der See strahlt auf mich eine enorme Kraft und gleich­zei­tig diese erha­bene Ruhe aus. Die Wolga werde ich im August in Kasan auch live erle­ben und bin gespannt, ob ich Deine Ein­drü­cke tei­len kann.

    Liebe Grüße Schwabski

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