Nur noch eine letzte Fahrt mit dem Nacht­bus trennte mich noch von den Strän­den Goas. Dort würde meine Reise vor­läu­fig enden. Ich hatte mir in der Ein­sam­keit und Beklem­mung in den Ber­gen Kasch­mirs geschwo­ren, an Weih­nach­ten im Kreis mei­ner Fami­lie zu sein und meine Freunde zu besu­chen, bevor ich meine Reise fortsetzte.

Auf der Fahrt fie­len mir schwere Steine vom Her­zen; eine wahre Odys­see lag hin­ter mir. Meine Reise hatte nicht gerade unter beson­ders güns­ti­gen Ster­nen gestan­den: Wald­brände und Bom­ben­an­schlag in Athen, schwere Über­schwem­mun­gen in Istan­bul, Para­noia in den Ber­gen von Kasch­mir, win­dige Mafiosi in Raja­sthan, Zyklon über Bom­bay. Die hek­ti­sche Stadt hatte ich am Rande des Ner­ven­zu­sam­men­bruchs erlebt. Es schien mir fast, als wolle mich Bom­bay mit Haut und Haa­ren ver­schlu­cken. Nun sehnte ich das Errei­chen der letz­ten Sta­tion mei­ner Indi­en­reise her­bei. Ich war davon­ge­kom­men und trug zugleich viele Ent­de­ckun­gen in mei­nem Her­zen. Es fühlte sich an, als hätte ich eine schwere Prü­fung bestanden.

Unter­wegs kam ich in den zwei­fel­haf­ten Genuss, mir ein 80 Zen­ti­me­ter brei­tes Dop­pel­bett mit einem Unbe­kann­ten zu tei­len. Der ange­hende indi­sche Geschäfts­mann, der zu mei­nem unfrei­wil­li­gen Gefähr­ten gewor­den war, blickte mich ent­setzt an, als er sein Dilemma erkannte. Er befand sich auf dem Weg zu sei­nem neuen Arbeits­platz in Goa und konnte sich offen­sicht­lich Bes­se­res vor­stel­len, als sein Bett mit einem bär­ti­gen Hip­pie zu tei­len. Stam­melnd fragte er mich, ob ich schwul sei. Doch ich wollte ihm keine fal­schen Hoff­nun­gen machen.

Nach lan­ger Fahrt erreichte ich einen beleb­ten Strand im Süden Goas. Der Bun­des­staat zieht sich über 100 Kilo­me­ter in einem schma­len Strei­fen am Ara­bi­schen Meer ent­lang. Ich blickte über eine sichel­för­mige Bucht, die an bei­den Enden von Fel­sen ein­ge­rahmt war. Pal­men, Holz­hüt­ten, Bars, Restau­rants und kleine Läden säum­ten die Strand­pro­me­nade. Ich setzte mich in den Sand, lauschte dem beru­hi­gen­den Rau­schen des Mee­res, sog den Salz­ge­ruch tief in mich auf, igno­rierte die Schlep­per und wollte bleiben.

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Eine halbe Stunde spä­ter bezog ich die erste Kokos­hütte mei­nes Lebens. Es war das erste Mal seit Istan­bul, dass ich mich wie­der am Meer befand. Seit­dem hatte ich 3000 Kilo­me­ter in Indien zurück­ge­legt. Den ers­ten Voll­mond sah ich im Hima­laja, den zwei­ten in der Wüste, beim drit­ten lag ich im Ozean.

Am Anfang fiel es mir schwer, Kon­takte zu knüp­fen und die Ein­sam­keit zu durch­bre­chen, die meine Reise oft geprägt hatte. Zunächst beschränkte ich mich auf ein­same Wan­de­run­gen an den Strän­den der Umge­bung. Ich hatte kaum Zeit zum Luft­ho­len gefun­den, wenige Häfen, in denen ich zur Ruhe kam. Eigent­lich war ich auf­ge­bro­chen, um mich von den anstren­gen­den Jah­ren, die hin­ter mir lagen, zu erho­len. Statt­des­sen war meine Reise zu einer Tor­tur ver­kom­men. Statt zu rela­xen, hatte ich mich mit immer neuen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert und mich mit einer beacht­li­chen Ziel­si­cher­heit in unan­ge­nehme Situa­tio­nen gebracht. Auf der ande­ren Seite war mein Kopf voll von Ein­drü­cken und ich war ein wenig stolz, dass ich trotz aller Wid­rig­kei­ten nicht auf­ge­ge­ben und es bis hier­hin geschafft hatte. In einer der weni­gen ruhi­gen Minu­ten in mei­ner Zelle in Bom­bay hatte ich noch ein­mal die Indi­en­karte zur Hand genom­men und meine Route nach­voll­zo­gen. Erst da war mir rich­tig klar­ge­wor­den, welch rie­sige Stre­cken ich in Win­des­eile zurück­ge­legt hatte. Nun wollte ich zur Ruhe kommen.

Und es war an der Zeit mich wie­der FÜR etwas zu ent­schei­den. Und so folgte ich der Ein­la­dung zu einem „Eas­tern/­Wes­tern-Kon­zert“. Ich hoffte an dem Abend Kon­takte zu knüp­fen. Als ich ankam, blieb mir jedoch zu mei­ner Ent­täu­schung nur ein ein­sa­mer Tisch direkt vor dem Musik­ensem­ble. So ver­tiefte ich mich ganz in die Musik und nach kur­zer Zeit war meine Schwer­mut weg­ge­bla­sen. Die Sän­ge­rin vor mir hatte eine phan­tas­ti­sche Stimme, sang auf Fran­zö­sisch, Eng­lisch und Hindi; sie war sinn­lich, strahlte Ener­gie und Hin­gabe aus und wurde von einem indi­schen Tabla­spie­ler und einem Quer­flö­ten­spie­ler beglei­tet, der sei­nem Instru­ment Jazz ent­lockte. Das Trio har­mo­nierte perfekt.

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Auch die Texte spra­chen mich an. The war­rior walks alone schien ein Sinn­bild für meine Reise zu sein. It doesn’t really mat­ter, where we go sang sie – ent­schei­dend war die innere Hal­tung. Bald setzt sich Tho­mas zu mir, ein lang­haa­ri­ger, auf­ge­kratz­ter, mus­ku­lö­ser Typ. Durch seine mit­rei­ßende und offene Art fühlte ich mich sofort mit ihm ver­bun­den und wir teil­ten mein letz­tes Char­ras aus Manali. Ihm gefiel die Odys­see des lang­bär­ti­gen Rei­sen­den, der sei­nen Weg in Bus­sen und Bah­nen von Kasch­mir über Hima­yal Pra­desh, Raja­sthan, Guja­rat und Bom­bay hier­her gemacht hatte und es war ihm ein Spaß, mich den Ande­ren als posi­tiv-ver­rück­ten Ein­zel­kämp­fer vor­zu­stel­len. Bald bezog ich einer der Strandhütten.

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Am Vor­mit­tag hör­ten wir nepa­le­si­sche Musik und genos­sen die Ruhe, bevor die ers­ten Gäste von außer­halb ein­tru­del­ten. Dann waren meist ein paar inter­es­sante Typen ange­kom­men, mit denen es sich lohnte, Geschich­ten auszutauschen.

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Die natür­li­che Mee­res­bucht in der unser Domi­zil lag, erin­nerte an eine Lagune. Sie ist von einem Fel­sen geprägt, der die Bucht in zwei Berei­che teilt. Von sei­ner Spitze hat man ein wun­der­vol­les Pan­orama über die ganze Bucht. Rechts vom Fel­sen blickt man auf die Fischer­boote der Ein­hei­mi­schen. Gerne betrach­tete ich von dort oben aus den magi­schen Son­nen­un­ter­gang und die gol­dene Welle, die sich bei Flut im letz­ten Glanz der Abend­sonne in der Bucht bricht.

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Die Bucht ist der ein­zige Ort in der nähe­ren Umge­bung, an dem die Ein­hei­mi­schen noch nicht voll­stän­dig vom Strand ver­drängt wor­den sind. Viele ver­mie­ten ihre Häu­ser an Lang­zeit­gäste und schla­fen selbst auf den Veran­den der Häu­ser. Nach wie vor gibt es auch Fischer, doch viele Boots­be­sit­zer sind dazu über­ge­gan­gen, ihre Boote für Tou­ren zu ver­steck­ten Buch­ten oder für die Besich­ti­gung von Del­phi­nen anzubieten.

Die Lagune liegt zwi­schen zwei belieb­ten Strän­den und hat doch eine ganz eigene Atmo­sphäre. Es ist erstaun­lich, dass sich ver­hält­nis­mä­ßig wenige Tou­ris­ten hier­her ver­ir­ren. In die Bucht zieht es vor allem Men­schen, die sich län­ger nie­der­las­sen wollen.

Wich­ti­ger als die pure Schön­heit der Lagune war für mich die Besat­zung mei­nes klei­nen Paradieses:

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Noah war der Chef des Restau­rants. Seine natür­li­che Herz­lich­keit sprang sofort auf mich über und ich schloss ihn auf Anhieb in mein Herz. Er stammt aus Nepal und war schon als Jugend­li­cher in den Hotel­be­trieb sei­nes Vaters in Kath­mandu ein­ge­stie­gen. Er hatte früh gelernt, sich auf die Bedürf­nisse von aus­län­di­schen Gäs­ten ein­zu­stel­len, deren indi­vi­du­elle Sicht­weise sich grund­le­gend von der asia­ti­schen unter­schei­det, die sich viel stär­ker auf das Fami­li­en­sys­tem oder das Kol­lek­tiv bezieht. Gerade voll­jäh­rig, hatte es ihn nach Süd­in­dien gezo­gen. Zunächst war er ein ein­fa­cher Ange­stell­ter in einem klei­nen Resort. Dabei erwies er sich als so geschickt, geschäfts­tüch­tig und krea­tiv, dass er bereits im zwei­ten Jahr zum Part­ner eines Eng­län­ders in einem Restau­rant mit Strand­hüt­ten auf­stieg. Nach­dem der sich ein Jahr spä­ter voll­stän­dig aus dem Geschäft zurück­zog, über­nahm er den Laden und machte ihn schnell zu einer belieb­ten Adresse am zuneh­mend umkämpf­ten Hauptstrand.

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Dort hatte er Axelle ken­nen gelernt. Sie war jene Sän­ge­rin, deren Per­for­mance mir die Magie des Ortes eröff­net hatte. Der künst­le­ri­sche Aus­druck war ein zen­tra­les Ele­ment in ihrem Leben. Sie stu­dierte seit Jah­ren indi­sche Musik. Ihre künst­le­ri­sche Ader bewirkte, dass sich viele andere Krea­tive ange­zo­gen fühl­ten. Das war von Anfang an Teil des Kon­zepts – einen Ort zu schaf­fen, an dem Raum für Inspi­ra­tion und Begeg­nung von Künst­lern ent­stand. Sie hatte klare Vor­stel­lun­gen von ihrem Leben, doch eines war ihr noch wich­ti­ger: dass sie immer einen offe­nen Raum vor sich fand, den sie gestal­ten konnte.

Nach der Geburt ihrer gemein­sa­men Toch­ter June hat­ten sie gemein­sam das neue Restau­rant in der ruhi­ge­ren Bucht auf­ge­baut. June ist ein unglaub­lich fröh­li­ches Kind mit einer unbän­di­gen Kraft und einer Aus­strah­lung, die jedem ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

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Tho­mas managte die sechs Hüt­ten neben dem Restau­rant. Wer seine kräf­tige Sta­tur und sein jugend­li­ches Wesen erlebte, glaubte kaum, dass er bald 50 wer­den würde. Seit eini­gen Jah­ren zog es ihn für die Hälfte des Jah­res nach Goa. Er ließ sich durch nichts ver­bie­gen, beschritt kon­se­quent sei­nen eige­nen Weg und lebte seine Träume. Für mich war er der „high-powered mutant too weird to live, to rare to die – ausFear and Loathing in Las Vegas, ein High­tech-Hip­pie, Musik­pro­du­zent, ein Lebe­mann im Hier und Jetzt. Er hatte seine Schlach­ten auf Jamaika, in San Fran­cisco, Paris, Goa und ande­ren Orten geschla­gen. Ich stand noch am Anfang mei­ner asia­ti­schen Jahre.

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Wir erleb­ten gran­diose Abende, doch im Gegen­satz zu mir saß er nach einer durch­zech­ten Nacht wie eine Eins am Früh­stücks­tisch und ver­brei­tete schon wie­der gute Stim­mung. Frauen zog er magisch an. Gerne prä­sen­tierte er mir neue weib­li­che Gäste mit den Wor­ten „it is a pre­sent for you!“ Er war gerne ein Spaß­vo­gel, aber nie­mals ein Leicht­ge­wicht. Wenn es drauf ankam stand er wie ein Fels. Er bespielte auch die Bar und bis heute erklin­gen Per­len von die­sem Erbe aus mei­nen Boxen.

Beson­ders viel Frei­heit emp­fand ich durch meine Erkun­dungs­fahr­ten mit dem Scoo­ter. Es waren meine ers­ten Erfah­run­gen mit einem fahr­ba­ren Unter­satz, seit ich füh­rer­schein­los einen gepark­ten Mazda gerammt hatte. Am Anfang war ich etwas unsi­cher, schließ­lich hatte ich keine Fahr­er­fah­rung und der indi­sche Ver­kehr ist gewöh­nungs­be­dürf­tig: Man kommt nicht umhin, sich die Stra­ßen mit ver­rück­ten Ver­kehrs­teil­neh­mern, törich­ten Hun­den und den sto­isch vor sich hin trot­ten­den Kühen zu tei­len, die sich durch nichts beein­dru­cken las­sen. Man sollte eine Kol­li­sion mit den ehren­wer­ten Tie­ren in jedem Fall ver­mei­den, wenn man es nicht dar­auf anlegt, von einem wüten­den Mob nie­der­ge­knüp­pelt zu wer­den. Dazu kamen die Busse, die ohne Rück­sicht auf Ver­luste durch die Gegend rasen. Die Stra­ßen sind zum Teil sehr gut, andere Abschnitte prä­sen­tie­ren sich in kata­stro­pha­lem Zustand und vol­ler Schlag­lö­cher. Nachts kann man in Erfah­rung brin­gen, dass viele Scoo­ter ent­we­der aus­schließ­lich Fern- oder gar kein Licht besit­zen. Man muss immer auf der Hut sein. Doch schnell fand ich Sicher­heit und genoss die Fahr­ten durch phan­tas­ti­sche Dschun­gel­land­schaf­ten, an den weni­gen abge­le­ge­nen Strän­den ent­lang und durch kleine Dör­fer hin­durch. Wilde Fel­sen, raue Bran­dung, das Rau­schen der Wel­len, gol­dene Sonne, die Weite des ara­bi­schen Meers, ver­steckte Buch­ten. Frei­heit pur!

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Mein Lieb­lings­platz war einer der letz­ten ein­sa­men Strände im Süden. Er wurde zu mei­nem per­sön­li­chen Kraft­ort. Steile Klip­pen über­ra­gen den per­fek­ten Palmenstrand.

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Abge­se­hen von Wel­len­gang und Wind war es dort voll­kom­men still. Nach einem aus­ge­dehn­ten Bad stand ich wie­der auf den Fel­sen und blickte über eine kilo­me­ter­lange Bucht, sah dem Far­ben­spiel des Son­nen­un­ter­gangs zu, bis ich in voll­kom­me­ner Dun­kel­heit die Rück­fahrt antrat. Ein Ort, an den ich fuhr, wann immer ich auf­tan­ken wollte.

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Eine Abwechs­lung waren die sel­te­nen Aus­flüge ins Lan­des­in­nere. Das hüge­lige Hin­ter­land ist mit Bam­bus und Far­nen bewach­sen, und in Lagen von über 500 Metern erstre­cken sich immer­grüne Feuchtwälder.

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Das Tief­land ist stär­ker vom Acker­bau geprägt.

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Gerne fuhr ich auch an den Man­gro­ven­wäl­dern der Flussmndun­gen und an kaum besuch­ten Strän­den zu Joseph, dem immer lächeln­den Chef einer Strand­bar. Hier lock­ten Wel­len, Hän­ge­mat­ten und fri­sche See­früchte aller Art.

Noah, Jun­kerry und Tho­mas waren ein ein­ge­spiel­tes Team und so gelang es ihnen fast spie­le­risch eine Atmo­sphäre zu schaf­fen, in der ich mich sofort wohl­fühlte. Es war für sie ein Zuhause, das spürte ich auf Anhieb. Auch andere Aus­stei­ger wur­den von die­sem Ort magisch ange­zo­gen. Die Begeg­nun­gen mit denen, die sich wie ich auf die Suche nach einem ande­ren Leben gemacht hat­ten, berei­cher­ten mich enorm. Man­che hat­ten die­ses Leben schon gefun­den. Sie folg­ten ihrer Intui­tion, einer inne­ren Über­zeu­gung, die zur Bestim­mung gewor­den war. Sie hat­ten auf­ge­hört, ihre Ziele zu stark zu hin­ter­fra­gen. Eines ergab sich aus dem ande­ren. Das wollte auch ich ler­nen. Meis­tens waren es sehr ein­fühl­same Men­schen, die für andere ein offe­nes Ohr hat­ten. Es war für sie eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die Ein­hei­mi­schen mit dem gebo­te­nen Respekt zu behan­deln. Seit Lan­gem hatte ich wie­der das Gefühl, zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort zu sein. Das war mein Tribe.

Natür­lich muss­ten die Drei mit ihrem Geschäft genug ver­die­nen, um im Som­mer in Europa über die Run­den zu kom­men. Frei­tags zur Live-Music war es wich­tig, dass der Laden voll war. Es war der Höhe­punkt der Woche und ich wurde nie müde den ver­trau­ten Lie­dern zu lau­schen, Bekannt­schaf­ten auf­zu­fri­schen und mich an „Wodka Melon“ zu laben. Alles war gut, solange ich mich nicht an dem „Old Monk“ ver­griff, einem heim­tü­cki­schen indi­schen Rum, vom goani­schen „Feni“ ganz zu schwei­gen. Am bes­ten gefiel mir, wenn der Strom aus­fiel und nur Ker­zen das Restau­rant beleuch­te­ten. Manch­mal zele­brierte einer der Nepali eine Feu­er­show am win­zi­gen Sand­strand vor dem Felsen.

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Im Wesent­li­chen stan­den aber eine relaxte, ange­nehme Atmo­sphäre und per­sön­li­cher Kon­takt im Vor­der­grund. Die rich­ti­gen Men­schen fan­den auto­ma­tisch hier­her und ver­brei­te­ten über Mund­pro­pa­ganda das Wort. Sicher gab es auch die, die ihre Indi­vi­dua­li­tät so stark aus­leb­ten, dass sie ande­ren den Raum nah­men. Es kam durch­aus vor, dass sol­che Gäste freund­lich gebe­ten wur­den, sich nach einer ande­ren Unter­kunft umzusehen.

Noah wählte jedes Jahr in Nepal die Ange­stell­ten für die Sai­son aus und brachte ihnen alles bei, was sie über das Geschäft wis­sen muss­ten. Über meh­rere Sai­sons hin­weg konnte ich beob­ach­ten, wie inner­halb kur­zer Zeit aus schüch­ter­nen Jungs gestan­dene Män­ner wur­den, die genau wuss­ten, wor­auf es ankam. Sie leg­ten gro­ßen Arbeits­ei­fer in der Küche und im Ser­vice an den Tag. Es war ihre Chance, Fuß im Tou­ris­mus zu fas­sen, und sie gaben alles dafür. Welt­klasse, wie sie mit beschei­de­nen Mit­teln phan­tas­ti­sche Spei­sen auf den Tisch zau­ber­ten. Im Gegen­satz zu vie­len Restau­rants am Strand war das Ziel nicht, alle Küchen der Welt anzu­bie­ten und davon nur einen Bruch­teil zu beherr­schen; alles, was auf der Menü­karte stand, war eine Köst­lich­keit. Es gab Momos und auf­wen­dige Thali-Vari­an­ten, frisch gefan­ge­nen Fisch, Krebse und Gar­ne­len und aller­lei andere Deli­ka­tes­sen. Gerne gesellte ich mich zu ihnen, um zu plau­dern, mir von Nepal erzäh­len zu las­sen oder ihnen bei der Arbeit zuzusehen.

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Zwei­mal am Tag konn­ten wir das Spiel von Ebbe und Flut beob­ach­ten. Der Was­ser­stand vari­iert um gut einen Meter, was den Blick auf die Bucht fort­wäh­rend verändert.

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Bei Voll­mond strömt das Meer bis vor die neben dem Restau­rant gele­ge­nen Hüt­ten. Vom gemüt­li­chen Chill-Out-Bereich inmit­ten des Restau­rants, unse­rem Wohn­zim­mer, hat­ten wir die Bucht direkt vor Augen. Ich ruhte immer stär­ker in mir selbst, zugleich fühlte ich mich, als würde ich ein wenig schwe­ben. Es erleich­terte mich sehr, dass ich meine Reise doch noch zu so einem run­den Ende brin­gen konnte.

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Mög­li­cher­weise waren es gerade die schwie­ri­gen Pha­sen mei­ner Reise, die mich hier­her geführt hat­ten. Hier hatte ich end­lich die rich­ti­gen Men­schen um mich herum ent­deckt und ich genoss es sehr, die letz­ten Wochen mei­ner Reise gemein­schaft­lich mit ihnen zu teilen.

 

Goa war meine erste rich­tige Begeg­nung mit dem Hip­pie-Trail. In den 60er- und 70er-Jah­ren waren die Hip­pies von Istan­bul aus über den Iran und Afgha­ni­stan bis nach Indien, Nepal, Cey­lon (Sri Lanka) oder Thai­land gereist. Goa war einer der Sehn­suchtsorte ihrer lan­gen Reise, die in Nord­ame­rika und Europa begon­nen hatte. Sie fan­den ein Para­dies vor. Sie stie­ßen auf kleine Fischer­dör­fer und ein­same Strände. Der Tou­ris­mus spielte eine Neben­rolle und öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel fuh­ren sel­ten. Die Aus­stei­ger flüch­te­ten vor den zuneh­mend anony­men, kar­riere- und geld­ori­en­tier­ten west­li­chen Gesell­schaf­ten und waren vol­ler Hoff­nung im mys­tisch auf­ge­la­de­nen Osten nach ihren Vor­stel­lun­gen leben zu kön­nen. Mit­hilfe von Yoga, Medi­ta­tion und Dro­gen­er­fah­run­gen ver­such­ten sie, den Ver­stand als Werk­zeug ein­zu­set­zen und nicht mehr von ihm beherrscht zu wer­den, frei nach Timo­thy Lea­rys Slo­gan „turn on, tune in, drop out“. Sie such­ten nach krea­ti­vem Aus­druck, Magie und einem neuen Lebens­sinn. Für viele war Goa nicht in ers­ter Linie ein phy­si­ka­li­scher Ort, son­dern ein state of mind. Viele Hip­pies über­nach­te­ten drau­ßen unter dem Ster­nen­him­mel. Sie leb­ten oft in klei­nen Grup­pen, wie in selbst­ge­wähl­ten Fami­lien. Viele Kin­der wur­den in Goa gebo­ren. Die Dro­pouts blie­ben für Monate oder Jahre. Man­che fühl­ten sich so wohl, dass sie nie­mals wie­der weg­gin­gen. Die Goaner waren welt­of­fen und gast­freund­lich. Die Aus­stei­ger fan­den frucht­ba­ren Boden vor.

Goa war 450 Jahre lang por­tu­gie­si­sche Kolo­nie und wurde erst 1961 von Indien in einem Hand­streich annek­tiert. Viele Goaner waren davon wenig begeis­tert. Die ver­fal­lene Haupt­stadt Old Goa war zu ihrer größ­ten Blü­te­zeit mit 300 000 Ein­woh­nern deut­lich grö­ßer als Lon­don. Von hier aus ver­wal­te­ten die Por­tu­gie­sen ihre Kolo­nien in Asien. Die Ter­ras­sen und Säu­len­hal­len alter Häu­ser mit ihren bun­ten Fens­tern sind neben den wei­ßen Kir­chen und den por­tu­gie­si­schen Orts- und Fami­li­en­na­men Zeu­gen die­ser Ver­gan­gen­heit. Auch die ein­hei­mi­sche Spra­che Kon­kani ist durch­setzt von por­tu­gie­si­schen Wörtern.

Der große Zustrom von Tou­ris­ten setzte in den 80er- und 90er-Jah­ren ein, als Raver in Scha­ren nach Goa kamen. Zwi­schen 1982 und 1985 leg­ten viele DJ‚s in Goa nicht mehr Reg­gae und Psy­che­de­lic Rock auf, son­dern ver­leg­ten sich auf elek­tro­ni­sche Musik. Der „Goa-Trance“ wurde in Europa und Goa wei­ter­ent­wi­ckelt. Viele der Aus­stei­ger, die bis­her auf Ibiza einen rechts- und nor­men­freien Platz für ihren Life­style gefun­den hat­ten, such­ten nun in Goa ihr Glück. Die Ein­flüsse von Acid- und Gegen­kul­tur der 60er-Jahre blie­ben unver­kenn­bar. Die DJ‚s ver­such­ten, die Effekte von LSD mit­hilfe dem Stak­kato einer gro­ßen Trom­mel, indi­schen Musik­ein­flüs­sen, „außer­welt­li­chen“ Klän­gen und hyp­no­ti­schen Klang­far­ben zu simu­lie­ren. So waren die Par­tys eine Art moderne Initiation.

Die von Ruck­sack­tou­ris­ten und den wäh­rend der 1960er-Jahre aus­ge­wan­der­ten und noch heute in Indien ansäs­si­gen Hip­pies beein­flusste Goa-Kul­tur pro­pa­giert eine lebens­be­ja­hende Sicht­weise, und ist stark mit den Ideen und Sym­bo­len der 68er-Bewe­gung, bud­dhis­ti­scher Phi­lo­so­phie und Scha­ma­nis­mus ver­bun­den. Wei­ter ent­fernt von den pro­tes­tan­tisch gepräg­ten Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­rika und sei­nen Puri­ta­nern oder dem kon­ser­va­ti­ven Europa der Nach­kriegs­zeit konn­ten sie sich kaum positionieren.

Der Begriff „Goa-Trance“ hat sich ins kol­lek­tive Gedächt­nis gebrannt. In sei­ner Hoch­phase zwi­schen 1994 und 1998 wur­den wilde »Full Moon Par­tys« gefei­ert, die nur noch wenig mit den Lager­feu­ern der Hip­pies am Strand gemein hat­ten. Goa war längst zu einer Marke mutiert und begann aus allen Näh­ten zu platzen.

Doch nach­dem die indi­sche Regie­rung Refor­men beschloss, die die Frei­hei­ten der Aus­stei­ger deut­lich ein­schränk­ten und sich zuneh­mend der Pau­schal­tou­ris­mus eta­blierte, kehr­ten viele Dro­pouts Goa den Rücken. Auch die Full Moon Par­tys fan­den im Jahr 2000 ein jähes Ende, als man laute Musik nach 22.00 Uhr ver­bo­ten hat. Danach ver­la­ger­ten sich die Par­tys nach Thai­land, und mit ihnen zogen viele Raver und Par­ty­be­geis­terte wei­ter. Die Par­tys wur­den sel­ten, denn abge­se­hen von der Sil­ves­ter­nacht sind die meis­ten ille­gal. Zum Bruch kam es wohl auch, weil die Dro­gen sich ver­än­der­ten. Aus Mari­huana und Opium wur­den Kokain und Heroin, die Musik wurde immer schnel­ler getak­tet und das Gemein­schafts­ge­fühl ging den Bach hinunter.

Trotz allem blieb der Ansturm auf Goa unge­bro­chen. Über­all wur­den Resorts aus dem Boden gestampft. Pau­schal­tou­ris­ten began­nen, die Strände zu bela­gern. Ein­same Strände muss man inzwi­schen mit der Lupe suchen. 200 000 aus­län­di­sche Tou­ris­ten und zwei Mil­lio­nen Inder zieht es jedes Jahr nach Goa. Dem ste­hen 1,5 Mil­lio­nen Goaner gegenüber.

Doch es gibt auch heute noch Orte, an denen sich Goa etwas von sei­nem eins­ti­gen Flair bewahrt hat. Dort herrscht noch immer eine sehr relaxte Atmo­sphäre. Manch­mal fühlte ich mich wie in einem »Glo­bal Vil­lage«, in dem sich west­li­che und indi­sche Kul­tur begeg­nen konn­ten und sich ver­misch­ten. Dabei öff­nen sich span­nungs­ge­la­dene inter­kul­tu­relle Räume. Sinn­su­chende, Hip­pies, Tech­no­fans, Künst­ler, Rebel­len, Yoga­be­geis­terte, Son­nen­an­be­ter, Trin­ker, Jun­kies, geschei­terte Exis­ten­zen und Träu­mer wer­den von die­sem Goa noch immer magisch angezogen.

Man­che ver­wirk­li­chen den Traum von der Selbst­stän­dig­keit im Para­dies. Das funk­tio­niert aber nur mit einem indi­schen Stroh­mann, da Aus­län­dern inzwi­schen der Kauf von Land unter­sagt ist, nach­dem Goa der Aus­ver­kauf gedroht hatte. Der Wett­be­werb ist immer här­ter gewor­den. Die Lizen­zen für ein Restau­rant, den Alko­hol­aus­schank und die Ver­mie­tung von Hüt­ten sind inzwi­schen so teuer, dass sich ein Geschäft oft nur in der Ille­ga­li­tät und mit der Zah­lung von Schmier­gel­dern lohnt. Dadurch besteht stän­dig die Gefahr, alles zu ver­lie­ren. Jedes Jahr wur­den Exem­pel sta­tu­iert und ille­gale Resorts mit dem Bull­do­zer niedergewalzt.

Trotz­dem dachte auch ich öfter daran, mich län­ger nie­der­zu­las­sen und mei­nen eige­nen Wohl­fühlort für mich und andere zu schaf­fen. Aller­dings hatte meine absurd zustande gekom­mene Aus­hilfs­tä­tig­keit an der Bar den Schluss nahe­ge­legt, dass ich damit noch etwas war­ten sollte. Ich war eigent­lich kein schlech­ter Bar­kee­per, wenn man berück­sich­tigt, dass nach­her alle Kun­den im Koma lagen.

Und noch etwas stieß mir auf. Es war die Selbst­ge­fäl­lig­keit, die man­che Aus­stei­ger aus­strahl­ten, die sich schon (zu) lange nur in ihrer eige­nen Fil­ter­blase befan­den. Die von nichts ande­rem als von „Peace & Hap­pi­ness“ schwa­dro­nier­ten, die längst ver­ges­sen hat­ten, dass sie in Indien leb­ten und von einer Welt pro­fi­tier­ten, die ihnen den Platz an der Sonne beschert hatte. Ich hatte nicht ver­ges­sen, was außer­halb die­ses Para­die­ses vor sich ging. Es war unmög­lich, nach­dem ich gerade haut­nah erlebt hatte, wie die Lebens­rea­li­tät hun­der­ter von Mil­lio­nen Inder aussieht.

Außer­dem bin ich davon über­zeugt, dass der Glanz ver­blasst, wenn man sich aus­schließ­lich auf das Licht starrt und die Schat­ten igno­riert. Natür­lich ist es wun­der­bar sein eige­ner Herr zu sein und einen Traum zu ver­wirk­li­chen, aber man sollte sich nicht so ver­dammt mora­lisch über­le­gen füh­len, son­dern dem Schick­sal für so viel Glück dan­ken und nicht die Men­schen ver­ges­sen, die nie so viel errei­chen kön­nen. Sonst droht das Para­dies zur Hölle zu wer­den. Wie könnte man Glück emp­fin­den, wenn man nicht wüsste was Lei­den bedeutet?

Zu Beginn der neun­zi­ger Jahre war der Süden Goas ein Geheim­tipp. Der Lonely Pla­net hat das solange beschwo­ren und die Welt hin­aus­po­saunt, bis es nicht mehr stimmte. Seit kur­zem ste­hen die Geld­au­to­ma­ten direkt am Strand. Die eins­ti­gen Fischer­dör­fer im Hin­ter­land der Strände wim­meln heute von Geschäf­ten, die jeg­li­che Art von Sou­ve­nirs feil­bie­ten. Es springt schon lange nicht mehr genug für alle her­aus, die sich mühen, ein Stück­chen vom Kuchen abzu­krie­gen. Die meis­ten der flie­gen­den Händ­ler, die Tücher, Kett­chen, Räu­cher­stäb­chen und ähn­li­che Klei­nig­kei­ten anbie­ten, stam­men aus den umlie­gen­den Bun­des­staa­ten und ver­su­chen der bit­te­ren Armut zu entkommen.

Erfreu­lich ist hin­ge­gen, dass eine öko­lo­gisch-nach­hal­tige Form des Tou­ris­mus einen Boom erlebt. Gerade die vie­len Aus­stei­ger, die ein eige­nes Geschäft auf die Beine gestellt haben, ver­schrei­ben sich einer neuen Umwelt­ver­träg­lich­keit, die auch von immer mehr Tou­ris­ten ein­ge­for­dert wird. Das betrifft den Auf­bau von Restau­rants und Hüt­ten ganz aus Sperr­holz, den Umgang mit Abwäs­sern oder das Bereit­stel­len von Was­ser­fil­tern. Ande­rer­seits sind die Strände im Zen­trum Goas um Neu­jahr mit Müll über­sät und der Was­ser­ver­brauch durch den Tou­ris­mus ist enorm. Goa ist die Pro­jek­ti­ons­flä­che für viel zu viele Träume geworden.

Yoga kann man in Goa auch heute nicht ent­kom­men Der eso­te­ri­sche Schnick­schnack, dem vor allem Yoga­leh­rer und Ein­stei­ger erlie­gen, ist bis­wei­len kaum zu ertra­gen. Nicht über­all, wo Shanti drauf­steht, ist auch Shanti drin! Man kann alles übertreiben.

Das ändert nichts daran, dass ich Yoga als eine sehr anre­gende kör­per­li­che und sinn­li­che Erfah­rung erlebt habe. Gerade die Unter­richts­stun­den bei dem nahezu blin­den Yogi, der zehn Jahre alleine in einer Höhle ver­bracht hatte, beein­druck­ten mich nach­hal­tig und zeig­ten mir einen Ein­blick in die spi­ri­tu­elle Dimen­sion der Yoga-Phi­lo­so­phie. Die­ser Art des Yoga mit Gebet, inten­si­ven Atem­übun­gen und Medi­ta­ti­ons­pha­sen bringe ich gro­ßen Respekt ent­ge­gen. Der Ver­such, Yoga west­li­chen Bedürf­nis­sen anzu­pas­sen, gelingt dage­gen oft nicht. Power-Yoga ist für mich nichts ande­res als die Ver­keh­rung des eigent­li­chen Gedan­kens, ein bewuss­tes Leben zu füh­ren. Yoga ist eine uralte Phi­lo­so­phie und keine Gymnastik.

Eines Abends, an dem es mal wie­der keine Elek­tri­zi­tät gab, genos­sen wir im klei­nen Kreis ein „Cand­le­light-Din­ner“ in der lieb­ge­won­nen Bar. Wir beschlos­sen, den schnei­di­gen Yoga­f­reaks etwas hoch Sport­li­ches ent­ge­gen zu hal­ten. Ich hatte in Manali eine rauch­bare Kokos­nuss erstan­den. Der schrul­lige Ver­käu­fer, ein Lands­mann, hatte sie an den Strän­den Goas gesam­melt und in Manali bear­bei­tet. Ich hatte sie nun zurück­ge­bracht und es schien mir stan­des­ge­mäß, sie dort ein­zu­wei­hen, wo sie einst von der Palme gefal­len war.

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Als wir gerade erste Atem­übun­gen mit dem neuen Sport­ge­rät durch­führ­ten, kam Boris, der Stamm­gast schlecht­hin, von sei­ner ers­ten Yoga­stunde zurück. Er irit­tierte unfrei­wil­lig die Ein­hei­mi­schen damit, dass er tat­säch­lich Rik­scha­fah­rer in Mün­chen war. Er war völ­lig über­dreht und strahlte eine befremd­li­che Begeis­te­rung aus, wo wir doch gerade dabei waren, tie­fen­ent­spannt in unsere Ses­sel zu ver­sin­ken. Ich mur­melte: »Yoga is dan­ge­rous for Boris. Soon he will become a war­rior and des­troy everything«.

In die­ser Stim­mung nahm Boris ein paar Züge durch die Kokos­nuss und into­nierte: »Yoga gives Power«. Erst jetzt bemerk­ten wir, dass auch wir Yoga betrie­ben, eben Coco­nu­t­yoga. An die­sem Abend wurde Mr. Coco­nu­t­yoga gebo­ren – mein Alter Ego. Der geschätzte Herr Coco­nu­t­yoga wurde zu einer Visi­ten­karte, zu einer Marke, nicht zu kon­trol­lie­ren, geschweige denn zu ver­mark­ten. Er musste fortan für meine Fehl­tritte ein­ste­hen. Denn er ist ein­deu­tig der Ver­rückte in mei­nem Kopf, dafür ist sein Leben auch um eini­ges inter­es­san­ter. Und ohne ihn wäre ich wohl ein uner­träg­li­cher Moral­apos­tel. Wenn er die Kon­trolle über­nimmt, schaut der Ana­ly­ti­ker und Ver­nünf­tige dumm aus der Wäsche – aber selbst er kann sich ein Lächeln nicht ver­knei­fen ange­sichts der puren Sorg­lo­sig­keit, mit der die­ser Unbe­lehr­bare ins Fett­näpf­chen tritt. Er hat keine Zeit zum Grü­beln, ist getrie­ben und muss eher zuse­hen, dass er nicht alles in den Sand setzt – wobei ihm das in sei­ner Manie bis­wei­len erschre­ckend egal ist.

Doch ich war hier nicht allein mit mei­nem Wahn­sinn. Beim Ver­gleich mit Süd­ost­asien erscheint mir der Anteil der Sinn­su­chen­den in Indien deut­lich grö­ßer. Zugleich fin­det man aber auch die mit Abstand ver­rück­tes­ten Typen. Der Grat zwi­schen Hei­li­gen und Wahn­sin­ni­gen ist nir­gendwo so schmal wie in Indien – auch einer der Gründe, warum ich begann, das Land so zu lieben.

Da war zum Bei­spiel „Ita­lian Baba“; wir hat­ten ihn so getauft, weil er die Kokos­nuss wie kein ande­rer rauchte. Er sprach aus­schließ­lich Ita­lie­nisch und scherte sich nicht darum, ob man ihn ver­stand oder nicht. Ich habe sel­ten einen här­te­ren Rau­cher, Trin­ker und Kif­fer gese­hen. Mit sei­nem mas­si­gen Kör­per steckte er fast alles weg. Zum Mor­gen ein Bier und einen Joint, der mich ins nächste Eck geschleu­dert hätte. End­gül­tig zum Uni­kat wurde er, als er sich eines Mor­gens dem Restau­rant mit einem Kajak von der Bucht aus näherte. Noch beim Ein­lau­fen orderte er einen Espresso und ein Bier. Er lan­dete an und setzte sich an die Bar. Aus sei­nen Taschen zog er Bank­karte, Pass und Geld – alles völ­lig durch­nässt. Das küm­merte ihn aber nicht im Gerings­ten. Den wich­tigs­ten Gegen­stand hatte er ein wei­te­res Mal ver­packt – sei­nen Joint. Unge­rührt steckte er die­sen an und machte sich daran, die ita­lie­ni­sche Spra­che in der Welt zu verbreiten.

Ich ver­ließ Goa kurz vor Weih­nach­ten, zwei Monate spä­ter war ich schon wie­der zurück und setzte von dort aus meine Rei­sen fort. Auch in den fol­gen­den Jah­ren blieb die Lagune ein wich­ti­ger Anker­platz. Nach und nach erlebte ich alle Pha­sen der Sai­son: den müh­sa­men Auf­bau der Hüt­ten, die gespannte Erwar­tung, bevor die ers­ten Tou­ris­ten kamen, den Höhe­punkt mit Weih­nach­ten und Syl­ves­ter und das Ende, wenn alle Tou­ris­ten abrei­sen und wie­der Ruhe einkehrt.

Mitte April nach mei­ner Rück­kehr war die Lagune ver­waist, die Hitze war gna­den­los. Der Mon­sun kün­digte sich mit blei­er­nen Wol­ken­fron­ten an, aus denen es noch nicht reg­nen wollte. Jeder Gedanke wog Ton­nen. Die Hüt­ten wür­den bald wie­der in ihre Ein­zel­teile zer­legt und ein­ge­la­gert; der Gewalt des Mon­suns hat­ten sie nichts ent­ge­gen­zu­set­zen. Ein hal­bes Jahr spä­ter wür­den die Hüt­ten wie­der auf­ge­baut und die Idea­lis­ten, die Freaks, die Pau­schal­tou­ris­ten und Aus­stei­ger wie­der mit ihren Träu­men und Alp­träu­men ein­zie­hen. Ich würde einer von ihnen sein.

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Was auf mei­ner ers­ten Indi­en­reise zuvor geschah:

Rei­se­de­pe­sche: Gefan­ge­ner des Haus­boots – Lost in Paradise

Rei­se­de­pe­sche: Dha­ramsala – Sid­dha­rtha, Pinku und der Dalai Lama

Rei­se­de­pe­sche: Para­noia Push­kar – Bhang, Gau­ner und Kamele

Cate­go­riesIndien
Oleander Auffarth

Grenzenlose Neugier auf fremde Kulturen und die Suche nach einer neuen Essenz für mich und die Welt zog mich 2009 nach Indien. Seitdem bin ich dem Reisen und der Magie der Suche verfallen.

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