Meine erste Begeg­nung mit Indien hätte kaum schlech­ter lau­fen kön­nen. Auf mei­ner ers­ten gro­ßen Reise fand ich mich gleich nach mei­ner Ankunft in einer Grenz­si­tua­tion wie­der. Nichts­ah­nend war ich in eine üble Falle getappt…

Ich war ein Green­horn; ich hatte mich das erste Mal allein mit dem Ruck­sack in die Welt gewagt. Meine Reise hatte mich über Ita­lien und Grie­chen­land nach Istan­bul geführt. Die Idee, auf dem Land­weg wei­ter­zu­rei­sen, hatte ich wegen der ira­ni­schen Revo­lu­tion auf­ge­ge­ben. Also war ich nach Delhi geflogen.

Istan­bul ist eine mon­däne Metro­pole – auf Delhi konnte sie mich nicht vor­be­rei­ten. Nicht mal im Ansatz. Diese Erkennt­nis über­fiel mich noch im Flug­ha­fen­ge­bäude. Zahl­lose Bli­cke las­te­ten schwer auf mir und schie­nen mich zu durch­boh­ren. Ich fühlte mich nackt. Mich über­fie­len schlimme Vor­ah­nun­gen, die sich schon in der Nacht von Dubai mei­ner bemäch­tigt hat­ten. Lang­sam keimte in mir die Gewiss­heit, wie wenig meine ursprüng­li­chen Vor­stel­lun­gen mit der Rea­li­tät zu tun hatten.

Die Anspan­nung, die ich emp­fand, als ich das Flug­ha­fen­ge­bäude ver­ließ, war gren­zen­los. Inner­halb weni­ger Minu­ten hatte die feuchte Hitze meine Klei­dung durch­tränkt. Ich fühlte mich, als hätte man mir mit dem Vor­schlag­ham­mer auf den Kopf geschla­gen. Als mich die erste Welle des indi­schen All­tags über­rollte, war ich fas­sungs­los. Ich sah nur Chaos. Was zur Hölle hatte ich mir nur dabei gedacht, allein dort­hin zu rei­sen? Rat­los stand ich da, fühlte mich unend­lich allein und wusste nicht, wo ich anfan­gen sollte. Ich setzte mich auf den Bord­stein, rauchte zwei Ziga­ret­ten und ver­suchte, mich zu sam­meln. Ange­spannt betrach­tete ich die hek­ti­sche Sze­ne­rie um mich herum. Ich konnte die Ges­ten der Men­schen kaum deu­ten. Das Leben um mich herum pul­sierte, doch mir war diese Welt völ­lig fremd. Panik stieg in mir hoch.

Die­sen Schock haben mir auch viele andere Indi­en­rei­sende beschrie­ben. Ihr Glück war, dass sie sich bald in einer der fried­li­chen Oasen Indi­ens wie­der­fan­den, die man als Neu­an­kömm­ling braucht. Man „flüch­tete“ an Orte wie Dha­ramsala, Manali oder Push­kar. Dort fin­det sich Zeit, den ers­ten Kul­tur­schock zu ver­dauen. Delhi-Lieb­ha­ber sind eine echte Rari­tät. In den Oasen trifft man auf andere Rei­sende, mit denen man sich aus­tau­schen kann. Das befreit unge­mein. Wenn ich gewusst hätte, was auf mich war­ten würde, wäre ich schrei­end davongelaufen.

Wäh­rend ich einen offen­sicht­lich indie­n­er­fah­re­nen Rei­sen­den dabei beob­ach­tete, wie er zur nächs­ten Rik­scha rannte und davonbrauste,versuchte ich zöger­lich, ein paar Infor­ma­tio­nen zu erhal­ten. Die Preise, die mir die win­di­gen Gestal­ten, die vor dem Flug­ha­fen rum­lun­ger­ten, für den Trans­port in die Stadt nann­ten, waren völ­lig uto­pisch. Ich dachte an die Berichte von Betrü­gern, die ich gele­sen hatte. Ich holte tief Luft und ent­schied mich für ein Pre­paid Taxi. Erst mal musste ich irgendwo ankom­men. Als ich das Ticket in Hän­den hielt, wink­ten mir Fah­rer aus einer gan­zen Kolonne von Fahr­zeu­gen zu. Unbe­hol­fen bestieg ich das erstbeste.

Unsere Fahrt in die Stadt führte über eine stark befah­rene Straße. Der unglaub­li­che Smog ver­rin­gerte das Sicht­feld auf höchs­tens hun­dert Meter. Der Fahr­stil der Stra­ßen­teil­neh­mer war purer Wahn­sinn. Hatte ich gedacht, dass die Kre­ter risi­ko­be­reite Fah­rer sind, erschie­nen sie mir nun als die Aus­ge­burt der Vor­sicht. Daran hatte ich mich jedoch schnell gewöhnt, kurz­zei­tig zau­berte sich mir sogar ein Grin­sen ins Gesicht. Irgend­wie war das nach mei­nem Geschmack. Das mul­mige Gefühl blieb. Mein Herz häm­merte wild in mei­ner Brust. Der Fah­rer hielt am Sei­ten­strei­fen und bat mich, in das Gefährt sei­nes Bru­ders umzu­stei­gen. Ich war ver­wun­dert. Ich ahnte nicht, dass man mich als poten­ti­el­les Opfer aus­er­ko­ren hatte.

So famos die Idee war, auf einen Rei­se­füh­rer zu ver­zich­ten – in die­sem Moment hätte er mich viel­leicht war­nen kön­nen. Die Masche war ein Dau­er­bren­ner. Meine ein­zige Infor­ma­ti­ons­quelle war ein ver­al­te­tes ADAC-Maga­zin. Das ent­hielt eine ein­zige Emp­feh­lung in der Bud­get-Klasse. Dort wollte ich mein Glück ver­su­chen. Der neue Fah­rer hielt vor dem Tou­rist Infor­ma­tion Cen­ter, um sich nach der Adresse zu erkun­di­gen. Mir schwante nichts Böses.

Farokh war ein jun­ger, drah­ti­ger Bur­sche mit einem gewin­nen­den Lächeln. Auf Anhieb machte er auf mich einen sym­pa­thi­schen, zuge­wand­ten und seriö­sen Ein­druck. Das Hotel kannte er nicht. Er bot mir an, den­noch für einen Moment zu ver­schnau­fen. Er reichte mir einen Tee und offe­rierte mir eine Ziga­rette. Dank­bar nahm ich an. Ich war über­mü­det, erschöpft und ver­un­si­chert und erleich­tert, das erste rich­tig freund­li­che Gesicht zu sehen. Mir gefiel sein fei­ner Sinn für Iro­nie. Farokh erklärte mir, dass heute ein Fest in Delhi gefei­ert wurde und dass es unmög­lich sei, ein bil­li­ges Hotel in Delhi zu fin­den. Ich glaubte ihm nicht recht. Er bot mir an, von sei­nem Büro aus zu tele­fo­nie­ren. Ich wählte die Num­mer des Hotels. Man sagte mir, alle Zim­mer seien ausgebucht.

Dezent eröff­nete Farokh den Small Talk. Fast bei­läu­fig erkun­digte er sich nach mei­nen Rei­se­plä­nen. Ich schwankte noch, ob ich mich erst Rich­tung Raja­sthan oder in den Hima­laya auf­ma­chen sollte. Er sagte das ein­zig Rich­tige: Wollte ich tat­säch­lich noch in den hohen Nor­den, sei jetzt der rich­tige Zeit­punkt, bevor es eisig kalt wurde. Raja­sthan würde mir nicht davon­lau­fen. Dann würde ich eben gleich weiterreisen.

Ich könne flie­gen, meinte Farokh. Mein Bud­get sprach für den Bus. Er gab mir die Num­mer eines Bus­un­ter­neh­mens. Dort erfuhr ich, dass ich frü­hes­tens in zwei Tagen fah­ren könne.

Es fällt mir heute schwer, mir vor­zu­stel­len, wel­che Dyna­mik unser Gespräch ent­wi­ckelt haben muss; ich begann, ihm zu ver­trauen. Es war wohl eine Mischung: zum einen hatte er große Erfah­run­gen mit sol­chen Situa­tio­nen und er konnte sich gut in mich hin­ein­ver­set­zen. Er fand immer den rich­ti­gen Ton. Er bie­derte sich nicht an, er schien auf nichts zu drän­gen, er besaß Geduld. Er umkreiste mich wie ein Raub­tier. Ich hin­ge­gen wollte nur raus aus der Stadt. Zumin­dest irgend­wo­hin, wo es ruhig war und ich schla­fen konnte. Mich hatte das unan­ge­nehme Gefühl beschli­chen, dass meine Ent­schei­dung, nach Indien zu rei­sen, nur der Plan eines Wahn­sin­ni­gen gewe­sen sein konnte.

Nun erzählte er mir von sei­ner Fami­lie, die im hohen Nor­den auf einem wun­der­vol­len See in einem Haus­boot lebte. Mich reizte der Gedanke, dass es sich um einen Geheim­tipp zu han­deln schien. Er machte kei­nen Hehl dar­aus, dass der Auf­ent­halt dort für indi­sche Ver­hält­nisse recht teuer war. Es waren diese Momente von Ehr­lich­keit, die mich über­zeug­ten. Dies sei ein guter Ort, um sich lang­sam mit der indi­schen Kul­tur ver­traut zu machen. Ein wei­te­rer Bonus­punkt schien die Tat­sa­che zu sein, dass ich von dort aus direkt nach Lad­akh wei­ter­rei­sen konnte – dort­hin wollte ich auf jeden Fall. Es war keine Kurz­schluss­ent­schei­dung. Zunächst machte er mir ein unver­bind­li­ches Ange­bot. Das war weit jen­seits mei­nes Bud­gets, und ich hatte auch kei­nes­wegs vor, dort­hin zu rei­sen. Noch war es ein vager Gedanke. Doch er begann sich in mir fest­zu­setz­ten. Warum eigent­lich nicht?

Drei Japa­ner tauch­ten im Büro auf. Sie wür­den am nächs­ten Tag zum Haus­boot rei­sen. Ganz so hirn­ris­sig schien die Idee nicht zu sein. Als ich dar­über nach­dachte, was mir der Flug und der Auf­ent­halt wert sein moch­ten, hatte er mich am Wickel. Nach zähen Ver­hand­lun­gen erziel­ten wir eine Übereinkunft.

Eigent­lich hatte ich keine Ahnung, wohin ich wirk­lich rei­sen würde. Ich ließ mir zwar den See auf einer Land­karte zei­gen, aber aus irgend­ei­nem Grund begriff ich gar nichts. Der Name Kasch­mir fiel nicht ein­mal – es gab keine Asso­zia­ti­ons­ket­ten, die in Gang gesetzt wur­den. Ich ließ mich völ­lig überrumpeln.

Erst als ich für die Reise bezahlte, beschlich mich erst­mals ein ungu­tes Gefühl. Immer wie­der fum­melte Farokh an dem Kre­dit­kar­ten­le­se­ge­rät herum und wie­der­holte den Vor­gang. Glück­li­cher­weise han­delte es sich um eine auf­lad­bare Pre­paid­va­ri­ante, so dass dies ohne Fol­gen blieb. In mir schrie es auf. Irgend­et­was lief gehö­rig schief. Den­noch pro­tes­tierte ich nicht. Ich fühlte mich erstarrt und aus­ge­lie­fert. Die Falle war zuge­schnappt. Lang­sam lüf­tete sich der Schleier der Erkenntnis.

Kaum war der Deal über die Bühne, lud er mich auf einen Joint ein. Schon fühlte ich mich wie­der ein wenig ver­we­gen. Das war doch alles ver­rückt, oder nicht? Was für ein Start mei­nes Indi­en­aben­teu­ers. Das passte irgend­wie zu mir.

Als Buchungs­be­leg erhielt ich schließ­lich eine form­lose Quit­tung ohne Geld­be­trag. Nicht mal ein Flug­ti­cket. Das bekäme ich abends. Teil der Ver­ein­ba­rung war, dass ich bei Farokh zu Hause über­nach­ten würde, um die teure Hotel­über­nach­tung zu umge­hen. Doch damit gab ich mich nicht zufrie­den. Ich drängte auf rich­tige Unter­la­gen. Doch die Stim­mungs­lage drehte sich nun radi­kal. Eine Reihe rich­tig unge­müt­li­cher Per­so­nen tauchte wie aus dem Nichts in dem Rei­se­büro auf. Einer fauchte mich grim­mig an: »You have to go now!« Ich spürte meine Ohn­macht. Sie hat­ten mich abge­zockt. Ich war kurz davor durchzudrehen.

Farokh ver­suchte mich zu beru­hi­gen. Auf­grund unse­rer neu­ge­schlos­se­nen Freund­schaft spen­diere er mir und den drei Japa­nern eine kos­ten­lose Sight­see­ing-Tour durch Delhi. Das sei alles. Am liebs­ten hätte ich die ganze Rei­se­ver­ein­ba­rung rück­gän­gig gemacht. Das wäre wohl auch das Beste gewe­sen; sogar dann, wenn ich alles Geld hätte abschrei­ben müssen.

Die Sight­see­ing-Tour durch Delhi war ein para­no­ider Grenz­gang. Ers­tens wollte ich noch immer nur eines: schla­fen. Zwei­tens hatte ich das Gefühl, dass der Fah­rer bei ers­ter Gele­gen­heit mit unse­rem Gepäck abhauen würde und ich bereits mei­nen gan­zen Indi­en­trip in den Sand gesetzt hatte. Und drit­tens hatte ich seit zwei Mona­ten nicht mehr gekifft; in der Kom­bi­na­tion wähnte ich mich inmit­ten einer Katastrophe.

Beson­ders am India Gate, dem gro­ßen Tri­umph­bo­gen der Eng­län­der, wäre ich am liebs­ten im Boden ver­sun­ken. Ich wurde von allen Sei­ten bedrängt. Hun­dert junge Män­ner woll­ten ein Bild mit oder von mir machen. Die einen taten das ganz ver­stoh­len, die ande­ren aggres­siv. Da stand ich nun, umringt von gaf­fen­den Frem­den, und glaubte alles ver­lo­ren. Das hatte ich mir alles anders vorgestellt!

Der Fah­rer lie­ferte uns am Ende jedoch wie ver­ein­bart bei mei­nem Freund Farokh ab. Viel­leicht hatte ich mich in die ganze Sache nur rein­ge­stei­gert. Jetzt war ich gespannt, ob wir tat­säch­lich am nächs­ten Tag nach Sri­na­gar flie­gen wür­den. Wäh­rend Farokh zunächst ver­si­cherte, alles würde glatt gehen, ver­legte er sich auf ein »Inschal­lah!«

Da der nepa­le­si­sche House Boy noch ein paar Besor­gun­gen machen musste, ergab sich die Gele­gen­heit, etwas vom All­tag in den Stra­ßen zu sehen, indem ich ihn beglei­tete. Wir fuh­ren mit einer Fahr­rad­rik­scha. Tat­säch­lich fand in den engen Stra­ßen Süd­delhis ein gro­ßes Fest statt. An den Kreu­zun­gen waren rie­sige Papp­ma­ché­fi­gu­ren auf­ge­baut, die das Böse reprä­sen­tier­ten. Diese Figu­ren wur­den mit infer­na­len Schwarz­pul­ver­bau­sät­zen in die Luft gejagt. Immer wie­der kam es zu unkon­trol­lier­ten Explo­sio­nen. Das flößte selbst dem Rik­scha­fah­rer Respekt ein.

Ich war ein wenig ver­stört, aber im sel­ben Maße fas­zi­niert. Das ging ja gut los.

Zurück in der Woh­nung durch­fors­tete ich den ADAC-Rei­se­füh­rer auf der Suche nach Infor­ma­tio­nen. Alles, was ich fand, war ein Bild des Dal-Lakes in Sri­na­gar, auf dem ich bald woh­nen würde. Bild­un­ter­schrift: »Sri­na­gar gilt heute als ver­bo­tene Stadt« – nie hat mich eine Unter­zeile mehr beunruhigt.

Am nächs­ten Mor­gen flo­gen wir tat­säch­lich nach Kasch­mir. Vom Flug­zeug aus hat­ten wir eine über­wäl­ti­gende Sicht auf eine der Hima­laya-Ket­ten. Ich unter­hielt mich mit mei­ner Nach­ba­rin und notierte begeis­tert die zahl­rei­chen Tipps von Sehens­wür­dig­kei­ten, die ich unbe­dingt sehen musste. Wenn ich geahnt hätte.

 

Gefan­ge­ner des Hausboots

 

Am Flug­ha­fen wur­den wir vom Patri­ar­chen der Fami­lie abge­holt. Er begrüßte uns über­schwäng­lich; ein gesetz­ter, sym­pa­thi­scher, fast sanft wir­ken­der älte­rer Herr. Er strahlte natür­li­che Würde aus. Die Fur­chen auf sei­ner Stirn erzähl­ten von einem beweg­ten Leben. Wir fuh­ren zum Dal-See. Hun­derte Sol­da­ten und Poli­zis­ten säum­ten die Stre­cke, wir muss­ten meh­rere Check­points pas­sie­ren. Die Kasch­mir­frage war offen­sicht­lich wei­ter höchst aktuell.

Am See ange­kom­men, bestie­gen wir eine shi­kara – eines der klei­nen Boote, die an Gon­deln erin­nern. Mit ihnen kann man Rund­fahr­ten auf dem See machen oder die zahl­rei­chen Haus­boote errei­chen, die fest in der Mitte des Sees ver­an­kert sind.

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Nach Ankunft auf dem Haus­boot gab sich auch der Rest der Fami­lie über­aus gast­freund­lich. Neben dem Patri­ar­chen und sei­ner Frau lebte ihr ältes­ter Sohn Rafiq auf dem Boot. Er hatte das Geschäft der Rei­se­agen­tur fast voll­stän­dig übernommen.

Außer­dem lebte eine Schwes­ter des Patri­ar­chen dort, die seit einem schwe­ren Trauma infolge des Todes der Eltern beim schwe­ren Erd­be­ben 2005 nur noch Unver­ständ­li­ches vor sich hin brab­belte und sich nur noch krie­chend vor­wärts bewegte. Schließ­lich gab es noch einen Bediens­te­ten, der aus Tibet stammte.

Die Haus­boote waren eine Idee der Bri­ten. Zur Zeit ihrer Kolo­ni­al­herr­schaft war ihnen der Erwerb von Land­be­sitz durch den Maha­ra­dscha Kasch­mirs ver­bo­ten wor­den. Das akzep­tier­ten sie, weil sie sich durch die Stüt­zung der loka­len Herr­scher die Zustim­mung der Bevöl­ke­rung sicher­ten. Gleich­zei­tig unter­lie­fen sie diese Rege­lung mit den fest­ver­an­ker­ten Haus­boo­ten. Spä­ter wur­den auf Schwemm­land zwi­schen den Boo­ten Gär­ten ange­legt. Heute ernäh­ren sie tau­sende Menschen.

Der erste Abend mit den drei Japa­nern war nett, auch wenn die Gesprä­che auf­grund ihres schlech­ten Eng­lisch rudi­men­tär blie­ben. Ich ent­spannte mich wie­der ein wenig. Wir befan­den uns in einer para­die­si­schen Umge­bung: Das Haus­boot protzte mit Holz­schnit­ze­reien und die Holz­mö­blie­run­gen im Inne­ren waren exquisit.

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Anfangs durfte ich in einem die­ser wun­der­ba­ren Räume über­nach­ten. Man konnte sich unschwer vor­stel­len, wie luxu­riös die Eng­län­der hier gelebt hat­ten. Noch heute ist der See bei indi­schen Hoch­zeits­ge­sell­schaf­ten extrem beliebt. Hier spie­len viele roman­ti­sche Sze­nen der Bollywood-Filme.

Der Blick vom Haus­boot reichte über den See auf die ers­ten Vor­ge­birge des Hima­laya und einen Teil der Stadt, die einst wegen ihrer Was­ser­stra­ßen als „Vene­dig des Nor­dens“ bekannt war. Man konnte die Para­dies­gär­ten erah­nen, die von den Moguln ange­legt wor­den waren. Kasch­mir war damals in vol­ler Blüte.

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Mor­gens um vier Uhr erwachte ich das erste Mal vom Gesang der Muez­zins, der von vier Mina­ret­ten über den See schallte. Für die Fami­lie war das der Weck­ruf. Es war Rama­dan, sie aßen, bevor die Sonne auf­ging. Nach Son­nen­un­ter­gang aß ich gemein­sam mit der Fami­lie. Meist bestan­den die Mahl­zei­ten aus Reis und in Milch gekoch­tem und scharf gewürz­tem Ham­mel- oder Ziegenfleisch.

 

Es dau­erte nicht lange, bis die Stim­mung erneut kippte. Ich wollte mit den Japa­nern über den Preis für ihres geplan­tes Trek­kings spre­chen. Der Patri­arch hatte einen Fet­zen unse­rer Unter­hal­tung auf­ge­schnappt, winkte mich harsch zu sich und stellte mich zur Rede. Als wir außer Hör­weite waren, ließ er seine Maske fal­len. Etwas Ver­schla­ge­nes trat in seine Augen. Aggres­siv blaffte er mich an; ob mir klar sei, welch guten Preis sie mir machen wür­den. „Don‚t des­troy our busi­ness!“ brüllte er mir ins Gesicht. Ich blickte in eine hass­erfüllte Fratze vol­ler Raff­gier und Ver­ach­tung. In die­sem Moment las ich nichts Mensch­li­ches in sei­nen Zügen. Ich war geschockt von die­ser hef­ti­gen Explo­sion. Ich hatte mich mit den Fal­schen ein­ge­las­sen. Die Schlinge hatte sich um mei­nen Hals fest­ge­zo­gen. Die Bedro­hung lag wie eine schwarze Wolke im Raum. Es sollte nicht die letzte Kon­fron­ta­tion bleiben.

Rafiq stand sei­nem Vater in Nichts nach. Ich hatte sogar den Ein­druck, dass er noch mehr Falsch­heit in sich trug und eis­kalt war. In sei­nem gan­zen Wesen erschien er bedroh­lich. Nie­mand, mit dem man sich anle­gen sollte. Sein Lieb­lings­satz war: I’m tal­king to you honestly! Gerne ver­si­cherte er mir, ich hätte nun ein zwei­tes Zuhause gefun­den, in dem ich immer als Bru­der will­kom­men sei – ein paar Mal musste ich an mich hal­ten, um ihm für diese Ver­lo­gen­heit nicht ins Gesicht zu spucken!

 

Der working boy aus Tibet war alles andere als glück­lich. Man behan­delte ihn wie Dreck. Die Frau des Patri­ar­chen war die ein­zige Aus­nahme. Sie war für­sorg­lich und herz­lich zu allen. Manch­mal hatte ich den Ein­druck, dass sie nicht ein­ver­stan­den war mit den Metho­den ihres Man­nes und ihres Sohnes.

 

Nach­dem die Japa­ner in aller Herr­gotts­frühe und ohne mein Wis­sen zum Trek­king auf­ge­bro­chen waren, befand ich mich wie in einem gol­de­nen Käfig. Mir war schlei­er­haft, wie ich mich aus die­ser Situa­tion her­aus­win­den konnte. Die Atmo­sphäre auf dem Boot war ver­gif­tet. Es war unmög­lich, etwas auf eigene Faust zu unter­neh­men. Allein sei es zu gefähr­lich in der Stadt. Ich kam auch gar nicht erst vom Boot weg. Für Aus­flüge jeder Art war ich auf den Good­will mei­ner »Gast­fa­mi­lie« ange­wie­sen. Wenn man sich auf einem die­ser fal­schen Haus­boote befin­det, ist es unmög­lich, eine shi­kara zu ergat­tern, die einen zurück an den Bou­le­vard bringt.

Der Traum vom Hima­laya war plötz­lich weit ent­fernt, dabei waren die Berge fast zum Grei­fen nahe. Aber ich konnte sie aus eige­ner Kraft nicht erreichen.

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Ich fühlte mich unglaub­lich ein­sam und aus­ge­lie­fert. Ich besaß kein Handy und bat um einen Anruf. Ich musste eine ver­traute Stimme hören. Man gestat­tete mir den Anruf, alleine ließ man mich nicht: »Ich bin in Kasch­mir«, konnte ich mei­ner Mut­ter mit­tei­len, bevor die Ver­bin­dung abbrach. Das dürfte sie kaum beru­higt haben…

Die Machen­schaf­ten auf dem Boot wur­den immer ein­deu­ti­ger; es war kein Zufall, dass mein Gespräch mit den Japa­nern belauscht wor­den war. Das gehörte alles zur Ein­schüch­te­rungs­tak­tik. Man wollte um jeden Preis ver­mei­den, dass sich Tou­ris­ten gegen­sei­tig in ihrem Miss­trauen und Unwohl­sein unter­ein­an­der bestärkten.

Das wurde nie direkt aus­ge­spro­chen, statt­des­sen wurde immer auf Respekt ver­wie­sen. Bei dem fran­zö­si­schen Pär­chen, mit dem ich gerne gemein­sam in die Berge auf­ge­bro­chen wäre, schob man vor, es sei respekt­los, sie auf ihrem honey moon trip zu stö­ren. Dabei wären wir gerne zusam­men auf­ge­bro­chen. Den bei­den war anzu­se­hen, dass auch sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühl­ten. Doch immer­hin hat­ten sie einander.

Häu­fig tauchte noch ein wei­te­rer Bru­der auf. Die ein­zi­gen ande­ren Besu­cher von außen waren ein geschäfts­tüch­ti­ger Anti­qui­tä­ten­hand­ler, und eines der Boote, das mit Auf­bau­ten in einen schwim­men­den Shop umge­wan­delt wor­den war.

Mag sein, dass es irgend­eine Mög­lich­keit gege­ben hätte, von dort weg­zu­kom­men, aber ich war völ­lig ver­un­si­chert. Die Män­ner waren unbe­re­chen­bar und gefährlich.

Ent­we­der ich stellte mich halb­wegs gut mit ihnen und sah zu, dass ich ver­nünf­tig und unbe­scha­det aus die­ser Num­mer wie­der raus­kam, oder ich stellte mich gegen sie, was den Ver­lust mei­ner Sachen bedeu­tet hätte oder Schlimmeres.

 

Immer häu­fi­ger frag­ten sie mich, ob ich nicht auf eine Trek­king­tour gehen wolle. Das war natür­lich meine Absicht, doch ich war davon aus­ge­gan­gen, dass ich diese Tour auf eigene Faust ange­hen konnte. So hatte Farokh das in Aus­sicht gestellt.

Was hätte ich machen sol­len? Die acht bezahl­ten Nächte auf dem Boot ver­brin­gen und sehn­suchts­voll den Hima­laya aus der Ferne betrach­ten sol­len? Mir jeden Tag geheu­chelte Freund­lich­keit anhö­ren? Lang­sam dem Wahn­sinn verfallen?

So schluckte ich mei­nen Ärger über ihr ver­lo­ge­nes Gerede her­un­ter, sie wür­den mir aus Sym­pa­thie einen guten Preis machen, und wil­ligte schließ­lich nach län­ge­rer Ver­hand­lung in einen über­teu­er­ten Vier­ta­ge­strip in die Berge ein.

 

lost in paradise

 

Auf der Fahrt in den Nord­os­ten wurde die extreme Mili­tär­prä­senz in Kasch­mir noch deut­li­cher. Ein Mili­tär­ge­lände reihte sich ans andere – von Poli­zei­aus­bil­dungs­la­gern, rie­si­gen Armee­stütz­punk­ten bis hin zu den »Storm Tro­o­pers«. Ein bedrü­cken­der Anblick; Kasch­mir war noch immer ein Pul­ver­fass – eine der Achil­les­fer­sen der gesam­ten Region. Unter­wegs wurde der Jeep mit Stei­nen beworfen.

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Wir fuh­ren durch eine zer­sie­delte Berg­re­gion. Nach zwei­stün­di­ger Fahrt erreich­ten wir ein klei­ne­res Berg­dorf in einem male­ri­schen Tal. Wir park­ten vor einem archai­schen Hin­du­tem­pel. Hier endete die Straße. Nur ein Tram­pel­pfad führte zu den letz­ten Häu­sern und Hüt­ten des Tals. Sie waren noch nicht an das Strom­netz ange­schlos­sen. Unser Ziel war eine ein­fa­che Hütte. Mein Fah­rer ver­ab­schie­dete sich und über­gab mich in die Obhut eines Kochs, der in den nächs­ten Tagen mein stän­di­ger Beglei­ter sein würde. Noch wusste ich das nicht und fragte mich, was wohl als nächs­tes auf mich war­ten würde. Der Koch berei­tete ein Reis­ge­richt und Tee zu. Er sagte mir, dass wir am nächs­ten Tag ein Camp strom­auf­wärts bezie­hen wür­den, und stellte mir einen jun­gen ein­hei­mi­schen Füh­rer vor, mit dem ich mir einen ers­ten Über­blick über das Tal ver­schaf­fen könnte. Er musste sich noch um die indi­schen Tou­ris­ten küm­mern, die bald wie­der nach Hause rei­sen würden.

Die Blät­ter der Bäume leuch­te­ten in den präch­ti­gen Far­ben des Spät­herbs­tes. Das Tal war ein rich­ti­ges Para­dies. Es fiel mir schwer, das ange­sichts der Umstände rich­tig zu würdigen.

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Wir waren erst einige Hun­dert Meter unter­wegs, als mich mein Beglei­ter auf die Sinn­haf­tig­keit einer Kif­fer­pause hin­wies. Eigent­lich stand mir noch nicht der Sinn danach, aber ich wurde schwach. Minu­ten spä­ter war ich völ­lig verblasen.

Als wir zurück zu der Hütte gelang­ten, erkannte ich es nicht wie­der. Ich dachte an eine Falle. Doch ich war einer Sin­nes­täu­schung auf­ge­ses­sen. So para­noid war ich in die­sen Tagen. Ich befand mich in einem Zustand stän­di­ger Anspan­nung und Sorge, kurz vor einem Ner­ven­zu­sam­men­bruch. Die innere Stimme, die für die nahen­den Kata­stro­phen zustän­dig ist, wie­der­holte in einem fort: „Es ist aus, es ist aus…“

Ich war über­zeugt, dass man mich aller Habe berau­ben würde. Nichts würde mir blei­ben außer der Klei­dung, die ich am Leib trug. Falls ich über­haupt wie­der hier weg­kam. Immer wie­der über­kam mich das Gefühl, mein letz­tes Stünd­lein hätte geschla­gen. Viel­leicht würde mir jemand im Schlaf die Kehle durchschneiden.

Viele die­ser Gedan­ken waren irra­tio­nal, schließ­lich konnte man mich noch wei­ter aus­pres­sen. Ande­rer­seits: Nie­mand wusste, wo ich war. Woher sollte ich wis­sen, wo die Grenze lag? Hatte Rafiq über­haupt Gewis­sens­bisse? Wie weit würde er gehen? Er spielte doch mit sol­chen Hor­ror­sze­na­rien. Was sie anrich­te­ten, war ihm scheißegal.

Ich konnte mein Den­ken nicht abschal­ten. Wenn sie mich aus­rau­ben woll­ten, wür­den sie es ohne­hin tun; ich konnte nichts dage­gen machen. Aber zu ech­tem Fata­lis­mus fehlte mir die Kaltblütigkeit.

Ich hatte seit mei­ner Kind­heit kein Heim­weh mehr ver­spürt. Doch jetzt ver­misste ich Fami­lie und Freunde. Wie sehr wünschte ich mir einen von ihnen an meine Seite!

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Mein Ver­trauen in meine Beglei­ter wuchs ein wenig, nach­dem wir in dem eigent­li­chen »Camp« ange­kom­men waren. Es bestand aus einem ein­fa­chen Zelt, in dem ich über­nach­tete, und dem Zelt des Kochs, in dem ich mich abends auf­hielt. Es war etwas robus­ter; am Abend hielt es noch für einige Zeit die Wärme, die beim Kochen über dem Gas­ko­cher ent­stan­den war. Noch bes­ser half der Tee.

Der Koch fragte mich immer wie­der, wie viel ich für den Aus­flug in die Berge zahlte. Das wollte ich ihm nicht ver­ra­ten. Ich schämte mich für den über­teu­er­ten Preis; es war offen­sicht­lich, dass er davon nicht pro­fi­tierte. Er war ein ein­fa­cher Mann und sagte, er lebe »on zero« – er könne sich und seine Fami­lie mit sei­ner Arbeit Hände gerade so über Was­ser halten.

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Nachts war es unfass­bar kalt. Selbst mit drei Decken und mei­ner kom­plet­ten Klei­der­gar­ni­tur fror ich erbärm­lich. Doch die Umge­bung war beein­dru­ckend. Die bei­den Zelte lagen direkt neben dem Sindh, der sich nach der Schnee­schmelze in einen rei­ßen­den Strom ver­wan­deln würde. Schon jetzt war die Strö­mung gewal­tig. Das Tosen über­tönte alle ande­ren Geräu­sche. Der Him­mel war vol­ler Sterne.

Trotz der immensen Anspan­nung schlief ich sel­ten so gut. Auf den Bil­dern sah ich erstaun­lich ent­spannt aus. Wenn es dar­auf ankam, war ich ein guter Schau­spie­ler. Viel­leicht hat mich das vor Schlim­me­rem bewahrt.

Ich erlebte auch gute Momente; immer wie­der gelang es mir, für kurze Zeit aus­zu­blen­den, in welch fatale Situa­tion ich mich hin­ein­ma­nö­vriert hatte.

Dann stieg ich den Hang hin­auf und genoss den weit­läu­fi­gen Blick über das Tal.

Ich war hin und her geris­sen zwi­schen Eupho­rie über die­sen idea­len und natür­li­chen Ort und Hys­te­rie: die Ein­sam­keit quälte mich und ich fühlte mein Leben bedroht. Ich fühlte mich wie in einem ver­wun­sche­nen Gar­ten; ich war an die­sem para­die­si­schen Ort ver­lo­ren, wie ich ihn mir schö­ner kaum träu­men konnte.

Ein­zig die regel­mä­ßi­gen Feuer und der Holz­schlag in den Hang­la­gen deu­te­ten an, dass auch hier die Zeit nicht stehenblieb.

Die Berg­be­woh­ner waren herz­lich und gast­freund­lich. Sie führ­ten offen­sicht­lich ein ent­beh­rungs­rei­ches, aber erfül­len­des Leben. Über Sri­na­gar sag­ten sie, dass von dort noch nie etwas Gutes gekom­men sei.

Tal­auf­wärts von unse­rem Lager­platz gab es keine wei­te­ren Häu­ser. Dort sie­del­ten Noma­den in Stroh­hüt­ten, die mit ihren Tie­ren auf uralten Wegen zwi­schen Som­mer- und Win­ter­la­gern hin und her­zie­hen. Jetzt trie­ben sie die Tiere zurück in die Täler. Ihre Gesich­ter hat­ten mehr Ähn­lich­keit mit denen der Afgha­nen als der Kashmiri.

Der Höhe­punkt mei­nes Auf­ent­halts war der Trek zum Ganga­bal-See. Ein extrem stei­ler Pfad führte vom Tal aus uner­bitt­lich nach oben. Im schnei­den­den Wind war es bit­ter­kalt. Die Luft wurde immer dün­ner. Wäh­rend des schnel­len Auf­stiegs schlug mir das Herz bis zum Halse. Nach zwei Stun­den fühlte ich mich völ­lig am Ende. Doch es ging noch drei Stun­den wei­ter berg­auf. Für mich als unge­üb­ten Wan­de­rer ohne nen­nens­werte Kon­di­tion war es eine schier unmensch­li­che Anstren­gung. Irgend­wann schlich ich nur noch hin­ter dem Guide hinterher.

Bei guter Sicht hät­ten wir weit ins Gebirge schauen kön­nen, doch die Aus­sicht war durch tief­lie­gende Nebel­schich­ten getrübt. Gleich­zei­tig ver­lieh diese Unschärfe der Umge­bung etwas Geheimnisvolles.

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End­lich erreich­ten wir den See. 1400 Meter waren wir auf­ge­stie­gen. Hin­ter dem eisi­gen Gewäs­ser ragte der majes­tä­ti­sche Hara­mukh (5142 Meter) auf.

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Unter­halb war ein wei­te­rer Gebirgs­see sicht­bar. Wir waren von einer gewal­ti­gen Berg­ku­lisse ein­ge­rahmt. Wir leg­ten eine kurze Rast ein und nah­men ein klei­nes Mahl zu uns: gekoch­tes Gemüse und Kar­tof­feln, Eier, Toast und Marmelade.

Wir ver­weil­ten nur 10 Minu­ten. Ich wäre gerne viel län­ger geblie­ben, um den Aus­blick und die kalte, fri­sche Luft zu genie­ßen. Die Stille war abge­se­hen vom Wind voll­kom­men. Der rau­schende Fluss war in die­ser Höhe nicht mehr zu hören. Mein Kör­per schrie nach mehr Erho­lung. Doch es hatte begon­nen zu schneien und mein Füh­rer mahnte zur Eile. Es half nichts. Auf dem end­lo­sen Weg zurück ins Tal hatte ich Mühe, über­haupt noch einen Fuß vor den ande­ren zu set­zen. Am liebs­ten hätte ich mich auf den Boden gewor­fen und wäre nie wie­der auf­ge­stan­den. Ich musste meine letzte Wil­lens­kraft auf­brin­gen. Nach zehn Stun­den waren wir zurück im Tal. Trotz allem hatte mir das kleine Aben­teuer gut getan. Ich wäre gerne noch län­ger an die­sem geheim­nis­vol­len Ort ver­weilt und wäre tie­fer in die kaum berührte Natur vor­ge­drun­gen. Aber es kam nicht in Frage, den Haien auf dem Haus­boot noch mehr Geld in den Rachen zu wer­fen. Am letz­ten Mor­gen berei­tete mir der Koch zwei frisch­ge­fan­gene Forel­len zu. Danach fuh­ren wir gemein­sam zurück zum Haus­boot. Nach der Abge­schie­den­heit und der fri­schen Luft war es ver­stö­rend, durch lär­mende und stin­kende Stra­ßen zu fah­ren. Und es gab erfreu­li­chere Aus­sich­ten, als wie­der zu den Psy­cho­pa­then auf dem Haus­boot zurückzukehren.

Rafiq und sein Vater woll­ten mich über­re­den, noch län­ger auf ihrem Boot zu blei­ben und ihre Gast­freund­schaft zu genie­ßen. Doch dies­mal hatte ich mich gewapp­net. Wort­reich erklärte ich ihnen, wie gerne ich blei­ben würde, aber dass dies auf­grund mei­ner Finan­zen unmög­lich sei. Mir war nur noch daran gele­gen, mich anstän­dig aus die­ser Sache raus­zu­zie­hen, ohne mein­Ge­sicht zu ver­lie­ren. Ich habe sie in dem Glau­ben gelas­sen, dass ich eines­Ta­ges wie­der­kom­men würde. Ich hasse Lügen, aber hier erschie­nen sie mir mehr als angebracht.

Am Ende machte ich drei Kreuze, als ich im Jeep Rich­tung Jammu saß. Natür­lich war es keine gute Idee, keine 50 Kilo­me­ter von Abbot­ta­bad ent­fernt eine poli­ti­sche Dis­kus­sion mit einem bär­ti­gen Fun­da­men­ta­lis­ten anzu­fan­gen, aber das ist eine andere Geschichte.

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  3. globetourists says:

    Oh mann…wir füh­len mit…haben in delhi genau das selbe erlebt aber haben gott­sei­dank nichts gebucht und konn­ten nach eini­gen stun­den und eini­gen reu­se­bü­ros von den „schlep­pern“ flie­hen … Hor­ror! Deine story hat uns grad wie­der an den beginn unse­rer indi­en­reise erin­nert! Tol­ler bericht! Liebe grüsse vale­rie und tobi von http://www.globetourists.ch

    1. Vie­len Dank, Vale­rie und Tobi! Da bin ich ja froh, dass ihr noch recht­zei­tig abge­sprun­gen seid, mich haben sie ein­fach über­fah­ren. Es hat mir zwar die erste Indi­en­reise sehr lange ver­saut, aber ich habe im Nach­hin­ein auch eini­ges ler­nen kön­nen. Trotz­dem keine unein­ge­schränkte Empfehlung ;-)
      Liebe Grüße! Oleander

  4. Silina says:

    Immer wie­der auf eine schau­er­lich Weise fas­zi­nie­rende Geschichte. Mich würde inter­es­sie­ren, warum du kein Handy hat­test – ist diese Reise schon län­ger her?

    1. Hallo Silina,

      Vie­len Dank. Meine Geschichte hat sich 2009 zuge­tra­gen. Ich habe auf mei­nen Rei­sen nie ein Handy genutzt, da ich gerne uner­reich­bar bin, um mich ganz auf die Fremde ein­zu­las­sen. Buchun­gen mache ich auch nie im Vor­aus, son­dern suche mir mei­nen Weg mit mei­ner Intui­tion. Ver­misst habe ich einen Tele­phon extrem sel­ten. Liebe Grüße! Oleander

  5. Christian says:

    Wun­der­bar geschrie­ben und bewun­derns­wert, dass und wie du deine Geschichte erzählst. 

    Ich bin eben­falls Men­schen des sel­ben Schlags auf­ge­ses­sen, aller­dings in Kam­bo­dscha. Bei mir han­delte es sich um Trick­diebe, die ihr Hand­werk wun­der­bar in der Ver­füh­rung mit Wor­ten und in dem Auf­bau von Ver­trauen ver­stan­den. Obwohl meine Odys­see nur 1,5 Tage dau­erte, habe ich eben­falls alle Pha­sen dei­ner Erleb­nisse durch­lau­fen. Im End­ef­fekt stand bei mir die Erkennt­nis, dass ich viel­leicht doch nicht so frei­mü­tig ver­trauen sollte, wie ich es bis­her auf mei­nen Rei­sen getan habe. Gerade wenn mensch alleine unter­wegs ist und mal wie­der nie­mand weiß wo mensch sich aufhält.

    Ich habe aus mei­nem Erleb­nis unglaub­lich viel gelernt, viel­leicht auch weil es in einer bis dahin unvor­stell­ba­ren Inten­si­tät – und teil­weise auch Bedro­hung- in meine Leben getre­ten war.

    Meine Situa­tion bei den Men­schen in Kam­bo­dscha hat mit gezeigt, dass jede Situa­tion schnell sehr rela­tiv für Geld­beu­tel und Gesund­heit wer­den kann. Aber seien wir mal ehr­lich, ganz tief drin in uns rei­sen wir genau für sol­che Momente. Seien sie auch noch so unan­ge­nehm, das Lehr­po­ten­tial ist ebenso enorm.

    Noch­mal danke, dass du deine Geschichte so lei­den­schaft­lich mit uns teilst!

    1. Vie­len herz­li­chen Dank, Christian! 

      Natür­lich kön­nen einem sol­che Dinge auch anderswo pas­sie­ren, mir sind im wei­te­ren Ver­lauf der Reise in Raja­sthan noch ein paar rich­tig unge­müt­li­che Typen begeg­net. An Kasch­mir war spe­zi­ell, dass ich tat­säch­lich auf dem Boot fest saß und die Situa­tion ange­sichts des omni­prä­sen­ten Mili­tärs ohne­hin ziem­lich undurch­sich­tig ist.
      Ich würde nun nicht sagen, dass ich für SOLCHE Momente reise, wohl aber liebe ich Grenz­erfah­run­gen, die eben auch Risi­ken beein­hal­ten. Ler­nen durfte bzw. musste ich eine Menge über mich. Die Bedro­hungs­si­tua­tion hat mir im Ansatz etwas dar­über erzählt, was Men­schen in vie­len Tei­len der Welt stän­dig aus­ste­hen müs­sen. Es gibt am Ende auch Gründe, warum meine „Freunde“ auf dem Haus­boot zu dem gewor­den sind, was sie heute sind.
      Die Tat­sa­che, wie schwer es mir danach fiel, neues Ver­trauen auf­zu­bauen, habe ich ihnen wohl am meis­ten übel genom­men. Doch ich habe es wie­der neu gelernt. Lie­ber ver­traue ich ein­mal zu viel, als ein­mal zu wenig. Ich will auch, dass andere mir vertrauen.
      Aller­dings ist mein Gespür für sol­che Situa­tio­nen gewach­sen. Doch noch immer ziehe ich rela­tiv spät Gren­zen; ich bin viel zu neu­gie­rig, was sich hin­ter allem verbirgt.

      Ganz liebe Grüße!

      Ole­an­der

  6. Ole says:

    Gran­dio­ser Bericht!
    Ich denke, auch ich wäre durch­ge­dreht. Spä­tes­tens beim Koch hätte ich meine Chance gewit­tert und wäre blind durch die Wild­nis geflohen.
    Den Kach­mir­tep­pich hätte ich längst verbrannt. ;-)

    Beste Grüße
    Ole

    1. Hallo Ole!

      Danke Dir! Klar habe ich daran gedacht, abzu­hauen. Aber die Vor­stel­lung alleine und ohne Geld aus Kasch­mir raus­zu­lau­fen, erschien mir wenig ver­lo­ckend. Zudem ist die Para­noia eine hin­ter­lis­tige Schlange. Ich habe mich immer gefragt, wer alles wusste, unter wel­chen Umstän­den ich hier war. Am Anfang dachte ich, die ste­cken alle unter einer Decke. Und dann wollte ich auch erho­be­nen Haup­tes aus der Num­mer raus­kom­men. Den Tep­pich finde ich nach wie vor sehr schön und ich werde ihn als Erin­ne­rung in jedem Fall auf­he­ben. Irgend­wann will ich noch­mal nach Kasch­mir zurück!

      Liebe Grüße! Oleander

  7. Tanja says:

    Ach herrje, ich fürchte ich wäre vor Angst durch­ge­dreht. Was für eine ver­rückte Rei­se­be­geg­nung und wie packend geschrie­ben. Man fühlt jeden Moment rich­tig mit. Was mich noch inter­es­sie­ren würde, falls du es ver­ra­ten möch­test: Was hat dich diese Erfah­rung final gekostet?

    1. Hallo Tanja! Danke für das Kom­pli­ment! Zum Durch­dre­hen hat nicht viel gefehlt, das konnte ich mir in der Situa­tion aber gar nicht erlau­ben. Dann wären meine „Brü­der“ wohl erst rich­tig auf­ge­dreht. Doch die­ses Erleb­nis hat lange nach­ge­wirkt. Meine Reise durch Indien ist danach zu einem grenz­pa­ra­no­iden Wahn­sinn ver­kom­men; nur noch sel­ten kam ich kurz­zei­tig zur Ruhe.
      Meine „Gast­ge­ber“ durf­ten sich über etwa 700 Euro in 8 Tagen freuen. Was mich am meis­ten geär­gert hat war, dass ich gleich­zei­tig für das Haus­boot und den Trip in die Berge gezahlt habe; genau das ist das Kal­kül die­ser fei­nen „Geschäfts­män­ner“. Oben­drauf kam noch ein nicht ganz bil­li­ger Kasch­mir­tep­pich, der mich auf ewig an die­ses Aben­teuer erin­nern wird. Lehr­geld wie man es kei­nem wünscht…
      Liebe Grüße! Oleander

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