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»Sie betrachten ein Werk von 1613, an dem hunderte versklavte indigene Männer, Frauen und Kinder arbeiteten.« Mit diesen Worten wird man am Wasserfall Peguche in Otavalo im Norden von Ecuador empfangen, wo eine Art Aquädukt den Eingang markiert. Na und, mag man denken, ist doch normal, dass den Indigenen hin und wieder ein Denkmal gesetzt wird, schließlich haben sie genug durchlebt. Doch mit ein bisschen Lateinamerika-Erfahrung kommt man nicht umhin, sich zu wundern. All die kolonialen Prunkbauten, die riesigen goldgeschmückten Kirchen, die kolossalen Denkmäler in lateinamerikanischen Städten – sie wurden alle von Indigenen gebaut, und das weder freiwillig noch im Mindesten zu fairen Arbeitsbedingungen. Einen Hinweis, ein Schild, eine kleine Plakette sucht man dennoch vergeblich. In Kirchenführungen wird möglicherweise erwähnt, dass es Indigenen früher verboten war, die Messen zu besuchen. Dass sie die Kirchen trotzdem bauen mussten – darüber spricht man nicht.
In Otavalo dagegen spricht man nicht nur darüber, man schreibt es in goldenen Lettern auf ein großes Holzschild und stellt es mitten vor eine der wichtigsten Attraktionen des Ortes, so dass niemandem entgehen kann: Hier ist etwas anders.
Ziemlich viel Geld
»Die Leute in Otavalo sind zu ziemlich viel Geld gekommen«, meint meine Mitbewohnerin. »Du kannst dort einige Indigene sehen, auch mit traditioneller Kleidung, die überhalb der Stadt in riesigen Villen wohnen, mit Pool und allem drum und dran.« Fast muss ich lachen ob der Vorstellung, die für Südamerika ziemlich absurd ist. Indigene werden hier mit Armut und Rückständigkeit assoziiert, das geht sogar so weit, dass Menschen mit moderner Kleidung und dickem Bankkonto Diskriminierung erfahren, nur weil sie einen indigenen Nachnamen haben. Von einer Frau in indigener Tracht erwartet man, dass sie auf dem Markt ihre selbst angebauten Avocados und Erdbeeren verkauft, nicht, dass sie ihre Villa einrichtet und sich am eigenen Pool sonnt.
Woher der Reichtum Otavalos stammt, ist eine gute Frage. Die umliegenden Ländereien sind aufgrund der Vulkanböden ganz besonders fruchtbar. Traditionell werden hier jedoch nicht nur Tiere gehalten und Obst und Gemüse angebaut, sondern auch Textilien gewebt. Besonders bekannt ist die Stadt für ihren riesigen Samstagsmarkt, der neben Menschen aus der ganzen Umgebung vor allem Touristen anzieht. So werden mittlerweile nicht nur Textilien und indigene Gewänder angeboten, sondern vor allem Souvenirs, die meistens in nahe gelegenen Fabriken in Massenproduktion hergestellt und über Mittelsmänner verkauft werden. Was die Anzahl der Touristen angeht, ist Otavalo einer der beliebtesten Punkte in ganz Ecuador und lässt sich mit Quito oder den Galápagos-Inseln vergleichen.
Doch ob der Reichtum nun mit dem Tourismus kam oder bereits vorher da war – klar ist, was er zur Folge hatte. Anders als in vielen Städten führte er nicht zu einem Verlust des indigenen Erbes, im Gegenteil: Auf den Straßen sieht man so viele Menschen in indigener Kleidung wie sonst selten, die Straßen sind voller Murales, Wandbilder, die indigene Personen und Motive darstellen, und auf den Märkten werden die feinsten und teuersten Schmuckstücke und Blusen nach traditionellen Schnitten und Vorgaben angeboten. Indigene Frauen hier tragen weiße Blusen und ein dunkles Stück Stoff, das mit Hilfe eines roten Bandes wie ein Rock um den Körper geschlungen wird. Armbänder aus roten Perlen, häufig tatsächlich aus teuren Materialien wie Koralle, beschützen sie vor dem bösen Blick.
Um den Hals tragen die Frauen goldene Ketten, je älter und weiser, desto mehr. Gold ist noch immer eine wichtige Farbe für die Kichwa oder Quechua-Indigenen – die Inka, die ehemaligen Herrscher dieses Volkes, setzten neben den traditionellen Göttern, die in den einzelnen Orten verehrt wurden, den Sonnenkult durch. Gold repräsentierte den Sonnengott oder eben seinen Sohn, den obersten Inka-Herrscher.
Der Samstagsmarkt in Otavalo
Tatsächlich hatte ich vor meinem Besuch so einige Horrorvorstellungen im Kopf, was den Markt von Otavalo anging. Voller Touristen stellte ich mir das Ganze vor, voller aufdringlicher Marktschreier und billiger Produkte in Massenproduktion. Doch stattdessen hat es der Markt irgendwie geschafft, sich ein angenehmes Nebeneinander zu bewahren. Auf dem Hauptplatz werden vor allem die klassischen »Alpaka-Pullover«, die aus allem Möglichen, aber garantiert nicht aus Alpakawolle hergestellt sind, die Plastik-Souvenirs und Handschuhe, die sich schon beim Hinsehen auflösen, angeboten. Doch in den Straßen ringsum findet man alles Mögliche: Teure indigene Kleidung aus den feinsten Materialien, moderne Kleidung für den kleinen Geldbeutel und nicht unbedingt nach europäischem Geschmack, tatsächlich selbstgemachtes Kunsthandwerk. Touristen suchen nach Worten und schaffen es am Ende mit Händen und Füßen, zu einem guten Preis zu kommen, daneben begutachten indigene Frauen mit kritischem Blick die Stoffqualität der angebotenen Kleidung. Verkäufer sind offen für ein kurzes Gespräch, gehandelt wird hier relativ emotionslos und zurückhaltend.
Ein junger Mann, bei dem ich bunte Holzschalen kaufe, erzählt mir, dass er früher als Schreiner gearbeitet hat. »Ich habe Häuser gebaut«, berichtet er, die Malarbeiten waren damals nur ein Hobby. Dann hat er seine Frau kennen gelernt. »Sie hat gesagt: Das sieht furchtbar aus, das musst du anders machen. Und so hab ich meinen eigenen Stil gefunden.« Am liebsten male er Motive aus Galápagos und aus dem Regenwald, obwohl er weder am einen noch am anderen Ort jemals war. »Das Geld würde nicht mal für die Hinfahrt reichen.« Ein älterer Herr erklärt mir, dass er seinen Schmuck aus natürlichen, aber günstigen Materialien herstellt. »Ursprünglich macht man diese Ketten aus Koralle, aber das können sich nur die reichen Indigenen leisten. Außerdem, warum muss ich ein Korallenriff zerstören, nur um eine Kette herzustellen?«
Hier ist die Mitte der Welt
Bei meinem zweiten Besuch in Otavalo bin ich mit einer Tour von Mister Trip und Reiseexpertin Viola unterwegs. Klar, gerade Otavalo lässt sich günstig individuell bereisen (von der Busstation Ofelia im Norden Quitos aus zahlt man nur noch 2–3 Dollar), doch dann entgehen einem die verschiedenen Sehenswürdigkeiten, die in einer solchen Tour integriert sind – und die mit öffentlichen Transportmitteln unmöglich alle an einem Tag angesteuert werden können. In unserem Fall ist das Quitsato, eine Sonnenuhr, die direkt auf die Äquatorlinie nördlich von Quito gebaut wurde, und die eine Art Alternative zur »Mitte der Welt«, dem Äquatordenkmal in San Antonio, darstellt. Hier treffen die nördliche und die südliche Halbkugel des Planeten aufeinander, hier ist der genaue Breitengrad N00°00’00,oo« – null Grad, null Minuten, null Sekunden. Der zehn Meter hohe orange Zylinder, der in der Mitte der Plattform steht, zeigt als Sonnenuhr die Uhrzeit und auch den aktuellen Monat an. Bei gutem Wetter sieht man im Hintergrund der Plattform den Cayambe, bis vor einigen Jahren der einzige Ort der Welt, an dem die Äquatorlinie ein ganzjährig schneebedecktes Gebiet durchlief.
Ein Mitarbeiter der kleinen Forschungseinrichtung, die sich unabhängig von Regierungsgeldern ausschließlich durch die Eintrittsgelder der Besucher finanziert, erklärt uns einige Einzelheiten zur Sonnenuhr und zu den Besonderheiten, die ein Aufenthalt auf der Nullkommanulllinie so mit sich bringt. Seine wichtigste Botschaft überrascht mich, denn es ist etwas, das ich seit Jahren predige und das mir selten jemand glaubt: Aus religiösen Gründen wurden Landkarten früher nach Osten ausgerichtet, das heißt, dass nicht, wie heute, der Norden, sondern eben der Osten am oberen Kartenrand zu finden war. Auch das Wort »Orient« stammt daher: Am Osten orientierte man sich. Dass man sich letztendlich dafür entschied, Karten grundsätzlich nach Norden auszurichten, war nicht natürlich vorgegeben, sondern eine relativ willkürliche Entscheidung, die dazu führte, dass auf heutigen Karten vor allem der Norden der Welt in den Blick rückt. Eine Nordausrichtung ist genauso logisch wie eine Südausrichtung – Letzteres konnte sich eben nur nicht durchsetzen, da sich der Teil der Welt, der Normen durchsetzte, im Norden befand. Während sich der Rest der Welt – oder auch: des Landes – über die Bedeutung von Kartenausrichtungen vermutlich herzlich wenig Gedanken macht, spüre ich auch hier den ganz besonderen Stolz der Region: Dem Mitarbeiter scheint es wirklich wichtig zu sein, uns zu vermitteln, dass es nicht natürlich vorgegeben ist, dass Südamerika auf Weltkarten einen vergleichsweise kleinen Teil am Rand links unten einnimmt, dass generell Landkarten trotz ihres neutralen, natürlichen Eindrucks immer auch eine politische Botschaft transportieren. Ich bin beeindruckt und wünsche Quitsato so viele Besucher wie nur möglich, um dieses Bewusstsein ein wenig zu stärken.
Weniger politisch, sondern einfach nur schön, ist die Laguna Cuicocha, übersetzt »der Meerschweinchensee«. Der Krater eines erloschenen Vulkans hat sich vor mehreren tausend Jahren mit Wasser gefüllt und dabei zwei Inseln ausgespart, die heute voll mit Wald bewachsen aus der Mitte des Sees herausragen. Vulkanaktivität lässt sich hier immer noch beobachten: An bestimmten Stellen des Sees steigen Gase an die Wasseroberfläche und bilden kleine Bläschen.
Da eine weitere Teilnehmerin der Tour und ich uns gegen die angebotene Bootsfahrt entscheiden, gibt uns Guide und Ornithologe José Luis kurzerhand eine kleine Privatführung zur Flora und Fauna der Region. Vogelkundler sind meiner Meinung nach ohnehin die besten Reiseführer, da sie voller Begeisterung bei jedem Anblick eines Flügelschlages innehalten und Kamera und Fernglas gleichzeitig herauskramen. Wir sehen Orchideen und Kolibris, schlagen in einem Buch die Namen der verschiedenen Vogelarten nach, ich erinnere mich nur noch an die Farben, leuchtendes rot und grelles gelb, und lernen, welche Pflanzen sich für welchen Zweck verwenden lassen. Am Ende ist mein Kopf voller Informationen, die ich gleich wieder vergesse – wie immer eben, wenn man sein Notizbuch im Auto lässt. Unvergesslich bleibt dafür der Ausblick über den See und die umliegenden Gipfel, die im Nebel verschwinden.
Die Stadt der Kekse
Wenn ich Freunden von einem geplanten Ausflug in irgendeinen Teil des Nordens von Ecuador erzählte, kam immer der selbe Satz: »Du musst unbedingt zum Frühstück in Cayambe anhalten und Bizcochos essen!« Ganz ehrlich? Verstanden habe ich das nie. Die harten und trockenen Kekse, die eigentlich nach nichts schmecken und die man deswegen unbedingt mit Zucker-hoch-einhundert-Trinkschokolade bestellen muss, um sie überhaupt runterzubekommen? Da gibt es definitiv bessere Frühstücksoptionen – man denke an das frische Obst, das Ecuador zu bieten hat, das leckere Dulce con leche, den ungewöhnlichen Frühstücks-Bananenbrei Tigrillo… Selbst die frittierten Bolones de verde, Bananenbällchen mit Speck und Ei und ebenfalls ein traditionelles ecuadorianisches Frühstücksgericht, schmecken mir besser als die trockenen Bizcochos.
Auf der Tour quer durch die Städtchen nördlich von Quito wurde selbstverständlich auch in Cayambe Halt gemacht – und ich glaube, nun verstehe ich die Begeisterung für die Bizcochos ein wenig besser. Besonderer als ihr Geschmack ist nämlich ihre spezielle Herstellung: Die aus Mehl, Salz, Wasser, Margarine und Anisgewürz hergestellten Teigrollen müssen in einem Ofen gebacken werden, der mit Eukalyptosholz befeuert wird – das gibt ihnen einen ganz besonderen Geschmack. Aufwändig ist es, die Kekse herzustellen, denn sie müssen lange Zeit im Ofen bleiben und dieser benötigt neben dem richtigen Holz eine ganz bestimmte Temperatur. Da genießt man die Kekse sogar, obwohl sie nicht schmecken – allein, um den Aufwand zu rechtfertigen.
Ein Ort mit Charakter
Ich bleibe über Nacht in Cayambe und freue mich über den besten Ausblick, den ich jemals aus einem Zimmerfenster hatte: Langsam kriechen in der Ferne Wolken über die Vulkangipfel, während der Himmel sich von blau nach orange verfärbt, die letzten Sonnenstrahlen die Wolken von hinten zum Glühen bringen. Von der Höhe des Hügels aus fühlt es sich an, als würde man über allem stehen, nicht nur über dem Ort, den Gewächshäusern, den Bäumen und Teichen im Tal, sondern auch über den Wolken, die einem von weit weg entgegenkommen.
Indigener Stolz, Nachdenken über die eigene Position in der Welt, und schließlich die unaufhaltbare Begeisterung über trockene Teigstücke – Otavalo und die Umgebung der Stadt, das ist eine ganz besondere Region, die mir nach zwei Besuchen irgendwie ans Herz gewachsen ist. Trotz der vielen Touristen haben die Orte ihren speziellen Charakter behalten und nirgends ist es wirklich überlaufen. Und anders als in anderen Dörfern Ecuadors haben sich die Menschen hier auch in den kleinen Orten auf den Tourismus eingelassen und heißen ihn willkommen – gerade, wenn man ein wenig Spanisch spricht, kann man sich daher auf freundliche Gespräche, Neugier und Offenheit freuen.
Mehr Informationen
Die Tour nach Otavalo ist buchbar über die Reiseexpertin Viola bei Mister Trip. Dort kannst du dir entspannt übers Internet deine persönliche Reise ganz individuell zusammenstellen lassen. Die Tour schließt übrigens noch weitere Punkte ein, auf die ich hier im Text nicht eingegangen bin – außerdem habe ich in meinem Artikel die Reihenfolge der Sehenswürdigkeiten verändert: Von Quito aus geht es über den Halt an einem Aussichtspunkt und den Zwischenstopp in der Quitsato Mitad del Mundo nach Cayambe, wo Bizcochos bis zum Umfallen gefrühstückt werden können. Danach bekommt man an einem zweiten Aussichtspunkt einen Überblick über die Laguna San Pablo und kann sich anschließend in das Marktgeschehen in Otavalo stürzen. Der nächste Stopp ist die Laguna Cuicocha, wo man eine Bootsfahrt unternehmen kann. Zuletzt geht es in das Dörfchen Cotacachi, das für seine Lederwaren bekannt ist – hier wird Mittag gegessen und man kann sich noch einmal ins Shopping-Erlebnis stürzen. Anstatt nach Quito zurückzukehren, gibt es die Möglichkeit, in der wunderschönen Hostería Papagayo Norte zu übernachten – mehr dazu hier.
Antwort
Hallihallo Ariane,
Vielen vielen Dank, für deine Einblicke! Nach Ecuador wollte ich 2018 auch unbedingt. Südamerika hat es mir ja schon angetan. Im Süden von Peru war ich bisher schon, kannst du auch meinem Blog entnehmen. Wenn alles klappt, geht es dort und in einige andere Länder von Südamerika 2018 hin. Daher könnte ich mich gerade noch weiter hier durch lesen…ich leg mal los! 😉
Viele liebe Grüße,
Ewa
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