Der Planet unter der Erde: eine Reise in die größte Höhle der Welt

Ich will tro­cke­ne Unterwäsche und einen schwar­zen Tee mit Milch. Oder zuerst den schwar­zen Tee mit Milch und dann tro­cke­ne Unterwäsche? Die Rei­hen­fol­ge ist jetzt eigent­lich egal, denn bei­des wer­de ich auf der Rei­se in die größte Höhle der Welt sowie­so nicht bekom­men. Statt­des­sen: Schweiß, Schweiß und noch­mal Schweiß. Und dazwi­schen? Demut, Hoch­mut und Weh­mut. Eine selt­sa­me Kom­bi­na­ti­on, für die ich frei­wil­lig rund 3.000 USD bezahlt habe.

Die wich­tigs­ten Eck­da­ten auf einem Blick: Die Höh­le heißt Sơn-Đoòng und bedeu­tet auf Viet­na­me­sisch Gebirgs­fluss. Genau­er genom­men ist sie ein über 9 km lan­ges kom­ple­xes Höhlensystem mit 150 Hohlräumen.

• Sie ist zwi­schen 2 und 5 Mil­lio­nen Jah­re alt (während die­ser Zeit leb­te unse­re Urahnin Lucy in Ost­afri­ka)

• Ihr Gesamt­vo­lu­men beträgt 38,5 Mil­lio­nen Kubik­me­ter (14x Che­ops Pyra­mi­den)

• Sie ist teils 200 Meter (2x Elb­phil­har­mo­nie) hoch und 150 Meter (1x Köl­ner Dom) breit

Ent­deckt wur­de Sơn-Đoòng im Jahr 1991 von einem Ein­hei­mi­schen namens Hồ Khanh, als die­ser nach Schutz während eines star­ken Sturms such­te. Bekannt wur­de sie erst 18 Jah­re spä­ter, als bri­ti­sche Höh­len­for­scher sie erkun­de­ten. Seit 2013 können pro Jahr rund 700 Besu­cher die Höhle bestau­nen und ich gehöre – nach zwei erfolg­lo­sen Anmel­dun­gen – zu die­sen glücklichen Men­schen, die ein Ticket ergat­tern konn­ten. Mei­ne Freu­de war groß, die Vor­freu­de umso mehr. Ich berei­te­te mich akri­bisch dar­auf vor, kauf­te zähneknirschend teu­re Wanderausrüstungen, aber nichts, wirk­lich nichts, kann mich auf die Hit­ze im Dschun­gel vor­be­rei­ten.

Start­punkt: Phong Nha-Kẻ Bàng Natio­nal­park in Zen­tral­viet­nam an der Gren­ze zu Laos. Der Weg zur größten Höhle der Welt führt über eine klei­ne unauffällige Bie­gung auf der Ho Chi Minh High­way. Span­nung und Nervosität lie­gen in der Luft, doch kei­ner lässt sich das anmer­ken. Ein letz­tes Grup­pen­fo­to und wir stürzen uns in die Tie­fe. „Es ist sehr heiß, lauft daher lang­sam“, rät uns Tha, unser eng­lisch­spra­chi­ger Gui­de. Er ist ein Mit­ar­bei­ter der Rei­se­agen­tur Oxa­l­is, die Exklu­siv­recht für die Durch­füh­rung von Sơn-Đoòng Expe­di­tio­nen besitzt.

Wir fol­gen Tha, klet­tern nach oben, nach unten und dann wie­der nach oben. Wir lech­zen in der Son­ne, lau­fen über Fel­sen und Wur­zeln, vor­bei an Baumstämmen und Ästen. Mei­ne Arme und Bei­ne sind schon nach eini­gen Minu­ten müde, die Hit­ze spürbar auf mei­nem Nacken und ich fra­ge mich, wie lang eine Stun­de sein kann. Es stellt sich her­aus, dass eine Stun­de Dschun­gel­marsch mit Ruck­sack auf dem Rücken, Spie­gel­re­flex­ka­me­ra am Hals, schwe­ren Wan­der­schu­hen voll mit Sand und Was­ser, zu lang sein kann. 500 m fühlen sich an wie 5 km. Die Luft ist schwül, das Atmen schwer. Danach will man ein­fach nur direkt ins kal­te Was­ser sprin­gen. Und genau das tun wir. Wir? Das sind ins­ge­samt sechs Frau­en und vier Männer aus Ame­ri­ka, Aus­tra­li­en, Sin­ga­pur und Deutsch­land, im Alter von Anfang 20 bis Mit­te 50. Es fühlt sich an, als wäre die­se Expe­di­ti­on nur für Ausländer kon­zi­piert, die es sich leis­ten können 3.000 USD aus­zu­ge­ben, um vier Tage im Dschun­gel zu schwit­zen. Nein, Sơn-Đoòng wer­de auch von Viet­na­me­sen besucht, ver­si­chert Tha. Die Sum­me sei für viet­na­me­si­sche Verhältnisse natürlich sehr hoch*, doch es gebe durch­aus Viet­na­me­sen, die sich für ein der­ar­ti­ges Aben­teu­er inter­es­sie­ren anstatt einer Europa/​USA Shop­ping­tour, ein gegenwärtiger Trend der urba­nen Mit­tel­schicht.

Es ist das ers­te Mal für mich mit unbe­kann­ten Men­schen zu rei­sen, an einer Expe­di­ti­on teil­zu­neh­men und, ja, das ers­te Mal eine ande­re Sei­te von dem Land ken­nen­zu­ler­nen, in dem ich gebo­ren wur­de. Weit weg von der lär­men­den Groß­stadt. Ohne Strom, Han­dy und Inter­net. Statt­des­sen: lan­ge Dschun­gel­mär­sche, unzählige Flussüberquerungen, bei den das Was­ser manch­mal bis zum Hals steigt und ständiges Rauf und Run­ter. Nach der zehn­ten Flussüberquerung habe ich aufgehört zu zählen. Und auf Blut­egel zu ach­ten. Die Hit­ze ist uner­träg­lich. Jede Pau­se kommt gele­gen, um Luft zu schnap­pen. Jeder Schluck Was­ser ist ein Genuss der beson­de­ren Art. Jede fünf­te Minu­te träu­me ich von der klapp­ri­gen Kli­ma­an­la­ge in dem Haus mei­ner Eltern in Hanoi. Wir beob­ach­ten die Gepäckträger mit Neid und Bewun­de­rung, wie sie sich mühelos und ele­gant durch die Bäume schlängeln. Oder von einem Fel­sen zum nächsten sprin­gen. In ein­fa­chen San­da­len. Und mit mehr als 20 Kilos auf ihrem Rücken. Dabei sin­gen sie. Die Inter­ak­tio­nen zwi­schen ihnen und Wat­to, dem eng­li­schen Höhlenexperten, gehört zum inof­fi­zi­el­len Unter­hal­tungs­pro­gramm der Expe­di­ti­on. Zwi­schen ihm und den Gepäckträgern herrscht ein väterliches Verhältnis und spitzbübische Strei­che sind Teil ihres All­tags.

End­lich Mit­tags­pau­se. Ers­ter Zwi­schen­stopp: das Dorf Ban Doong, Hei­mat der eth­ni­schen Min­der­heit Bru-Van Kieu. Es besteht aus eini­gen auf Stel­zen errich­te­ten Häusern, umge­ben von klei­nen Mais­fel­dern. Nur alte Men­schen und Kin­der sind zu sehen, jun­ge Bewoh­ner sind in die nächstgrößere Stadt gezo­gen um zu arbei­ten. Die Armut ist offen­sicht­lich, doch man hat nicht das Gefühl, dass sie ihr ein­fa­ches Heim gegen beschei­de­nen Kom­fort aus­tau­schen würden. Ja, natürlich sei das Dschun­gel­le­ben hart, doch es sei nun mal das Zuhau­se, sagt der Dorf­vor­ste­her, ein klei­ner hage­rer Mann. Trotz star­ker Überzeugungsarbeit der Lokal­re­gie­rung keh­ren sie immer wie­der an die­sen Ort zurück. Zuhau­se ist Zuhau­se. Es ist bewun­derns­wert und trau­rig zugleich, denn wie in vie­len ande­ren Entwicklungsländern gibt es kei­ne nach­hal­ti­ge Lösung, wie man Moder­ne und Tra­di­ti­on, Stadt und Land, Jung und Alt mit­ein­an­der ver­bin­den kann.

Eine Bri­se kommt mir ent­ge­gen. Sie verdrängt mei­ne mürrische Lau­ne, die mich schon seit mei­ner Ankunft in Viet­nam beglei­tet hat. Ich fühlte mich betro­gen von die­sem Land und des­sen Men­schen. Ich schlief in einem stin­ken­den Haus. Ich aß Gerich­te, in den ich ein Stück Eisen so groß wie eine Büroklammer in mei­nem Mund kau­te und gro­ße Staubkörner am Salat kleb­ten. Ich trank ver­dor­be­nes Zuckerrohrgetränk. Ich kam zum Flug­ha­fen und habe fest­stel­len müssen, dass die Air­line mei­nen Flug ein­fach auf einen Tag früher ver­legt hat. Das Resul­tat: eine erneu­te überteuerte Flug­bu­chung, späte Ankunft und ver­lo­re­ne kost­ba­re Zeit. Zurück zu Hier und Jetzt. Jeder im Dorf ist mager, Kin­der lau­fen bar­fuß durch die Gegend. Der Boden ist heiß und stei­nig, ihre Füße klein und zart und ich tra­ge dicke Wan­der­schu­he. Mei­ne Pro­ble­me, mei­ne Wut, mei­ne Enttäuschung sind lächerlich. Du und dei­ne Mit­rei­sen­den, ihr habt ein 30-köpfiges Team, das sich um euer Wohl­erge­hen kümmert. Zwei Köche, ver­dammt noch mal, ja, zwei Köche, rei­sen mit euch, schreit mein Gewis­sen mich an. Dein mini­ma­lis­ti­scher Dschun­ge­l­auf­ent­halt ist purer Luxus, sagt es ankla­gend. Plötzlich tut es mir leid, dass ich die Kun­den­be­treue­rin der Air­line ange­faucht habe.

Tha und Wat­to rufen zum Wei­ter­marsch, wider­wil­lig set­zen wir uns wie­der in Gang und lau­fen in Rich­tung Hang Én, die drittgrößte Höhle der Welt. „Wir müssen durch die­se Höhle gehen, um zu Sơn-Đoòng gelan­gen zu können“, erklärt Wat­to. Er war schon von Anfang an dabei und kennt die Rou­te in- und aus­wen­dig. „Zeit für eine klei­ne Abkühlung“, verkündet er und springt ins Was­ser. Mit Klei­dun­gen und Schu­hen. Wir fol­gen ohne zu zögern. Wat­to besitzt die beson­de­re Fähigkeit uns mit Geschich­ten und Anek­do­ten über ande­re Rei­se­grup­pen zum Lachen und zum Nach­den­ken zu brin­gen. Er erzählt von dem sau­di­schen Prinz, der nach einem Swim­ming­pool frag­te. Von Body­buil­dern, die ihre körperliche Kon­di­ti­on überschätzten und zurückgeschickt wur­den. Und von dem Foto­buch­pro­jekt über die Höhle, des­sen Ein­nah­men in die Bil­dung der Kin­der aus der Gegend ein­flie­ßen.

Mit nas­sen Kla­mot­ten und guter Lau­ne errei­chen wir Hang Én, die Schwalbenhöhle, gegen späten Nach­mit­tag. Die ers­te Nacht wer­den wir hier ver­brin­gen und den Sand­strand (aus uraltem Fle­der­maus-Gua­no) und den sma­rag­blau­en Swim­ming­pool (aus übrig geblie­be­nen Flut­was­ser) genie­ßen. Hang Én liegt fried­lich vor uns, doch in der Mon­sun­zeit zeigt sie sich gern von ihrer tur­bu­len­ten Sei­te. Hef­ti­ge Regen­flu­ten stürzen dann die Ber­ge hin­ab, rei­ßen alles mit sich und überschwemmen die Höhle. Die Tour beschränkt sich daher nur auf die Mona­te Febru­ar bis August.

Ein Blick auf Hang Én
Die Haupt­kam­mer von Hang Én
Ener­gie tan­ken für einen anstren­gen­den Tag © Ste­phen Chan

Schlaf­los in Hang Én. Die Schwal­ben geben ein­fach kei­ne Ruhe. Ich lie­ge hell­wach in mei­nem Zelt und Lan­ge­wei­le und Unru­he brin­gen mich zu den absur­des­ten Gedan­ken. Plötzlich wun­de­re ich mich, ob mein Hund Leo eine sol­che stra­pa­zier­te Rei­se auch überstehen wür­de (wohl kaum, er hat Pro­ble­me mit der Hit­ze). Und ob er uns brav fol­gen würde (zu viel Ablen­kun­gen; er jagt Vögeln und Rat­ten gern hin­ter­her). Dies wie­der­um führt zu der Fra­ge, wie viel Tyran­no­sau­rus Rex in Hang Én rein­pas­sen würden, wenn sie nicht aus­ge­stor­ben wären.** Und wie zum Teu­fel haben die Ein­hei­mi­schen es bloß geschafft ohne Hilfs­mit­teln die stei­len Höhlenwände (ca. 100m) hoch­zu­klet­tern, um an die Schwal­ben­ei­er ran­zu­kom­men? *** Fra­gen ohne Ant­wort aber mit Ein­schlaf-Effekt. Für zwei Stun­den. Um 5:30 Uhr wachen alle auf, als hätten wir genau die­se Uhr­zeit mit­ein­an­der ver­ein­bart.

Wir fol­gen Wat­to und Tha in Rich­tung Höhlenausgang. Sie las­sen die Gepäckträger vor­mar­schie­ren, um den überdimensionalen Aus­maß von Hang Én zu demons­trie­ren. Zwan­zig Minu­ten sind vor­bei und die Männer sind nun nur als Pünktchen zu sehen und doch befin­den wir uns alle immer noch in der­sel­ben Höhle. Nach zahl­rei­chen Flussüberquerungen mit star­ken Strömungen ste­hen wir wie­der vor einem stei­len Hang. Wir klet­tern nach oben. Höher und höher. Jeder Schritt ist ein klei­ner Tri­umph. Es ist mat­schig und rut­schig und jede fal­sche Bewe­gung kann einen Unfall ver­ur­sa­chen. Wir keu­chen und bewe­gen uns in zermürbter Schritt­ge­schwin­dig­keit. Irgend­wann traue ich mei­nen Füßen nicht mehr. Jemand flucht laut. Die Gepäckträger sum­men immer noch fröhlich vor sich hin und sprin­gen see­len­ru­hig und ent­spannt zwi­schen den Fel­sen, als wäre es ein Kin­der­spiel. Ich bin noch nie so nei­disch auf jeman­den.

Der Aus­gang von Hang Én
Abschied von Hang Én

End­lich. Wir ste­hen vor dem Ein­gang von Sơn-Đoòng. Auf­stei­gen­de Nebel­schwa­den bede­cken die Öffnung. Unspektakulär und rela­tiv klein, kein Wun­der also, dass Hồ Khanh so lan­ge Zeit gebraucht hat, um sie wie­der­zu­fin­den. Umso spektakulärer ist es, als wir einer nach dem ande­ren 80 Meter steil in die pech­schwar­ze Tie­fe run­ter­klet­tern. Der Wind pfeift. Sơn-Đoòng schlum­mert vor sich hin. Ich sit­ze schwei­gend in einer Ecke, mei­ne Fin­ger tas­ten die glat­ten und feuch­ten Fel­sen. Was­ser­trop­fen kom­men von oben und pras­seln auf mei­nen Helm. Ein Gepäckträger ruft. Sơn-Đoòng ant­wor­tet. Es fühlt sich an, als wären wir im hoh­len Bauch einer hung­ri­gen Rie­sen­schlan­ge gelan­det. Ich mache mei­ne Stirn­lam­pe an und schaue nach oben. Nichts als Dun­kel­heit, denn das Licht kann die Höhlendecke natürlich nicht errei­chen.

Wir tas­ten uns lang­sam durch eine sur­rea­le Land­schaft, geprägt von Stei­nen, Fel­sen und Flüssen. Das fah­le Licht der Lam­pen enthüllt gigan­ti­sche Sta­lag­mi­ten und Sta­lak­ti­ten, bizar­re Fel­sen­for­men, wohin wir auch bli­cken. Über­all Relik­te aus der Vor­zeit. Sind wir immer noch auf der Erde, fragt man sich. Die urwüchsige und archai­sche Schönheit der Höhle ist fas­zi­nie­rend. Und beängstigend zugleich. Wie würde es sich anfühlen, eine Nacht allein in dem Bauch die­ses gigan­ti­schen Natur­wun­ders zu ver­brin­gen? Ich ver­wer­fe den Gedan­ken sofort. Zu furchteinflößend. Plötzlich wünsche ich mir Sơn-Đoòng in kla­rem Licht sehen zu können und bereue es überhaupt dar­an zu den­ken, denn es würde ihr lang­sa­mer aber siche­rer Tod bedeu­ten. Es wäre ein Ver­bre­chen die­ses Natur­wun­der durch kom­mer­zia­li­sier­ten Mas­sen­tou­ris­mus zu zerstören. Die­sen irr­sin­nin­gen Plan gibt es tatsächlich. Tha erzählt mir von dem Vor­ha­ben der Lokal­re­gie­rung eine Seil­bahn in die Höhle instal­lie­ren zu las­sen, um mehr Besu­cher auf­zu­neh­men. So selt­sam es klingt, Sơn-Đoòng kann ihre Schönheit nur bewah­ren, wenn sie wei­ter­hin in Dun­kel­heit bleibt.

Letz­te Vor­be­rei­tun­gen für den Abstieg © Ste­phen Chan
Eine beson­de­re Fluss­über­que­rung © Vee Rod­ney
Fels­struk­tu­ren in Sơn Đoòng © Vee Rod­ney
Selt­sa­me Fels­struk­tu­ren über­all © Vee Rod­ney
Will­kom­men in der Unter­welt © Vee Rod­ney
Höher und höher. © Vee Rod­ney

Wir überqueren die Flüsse, baden in Sơn-Đoòngs eis­kal­tem Was­ser, klet­tern hoch und run­ter, bis wir die ers­te Doli­ne, einen durch Ein­sturz ent­stan­de­nen kolos­sa­len Hohl­raum, errei­chen. Durch sol­che Löcher drin­gen Licht und Was­ser in die Höh­le ein und ermög­li­chen einen fas­zi­nie­ren­den unter­ir­di­schen Lebens­raum für unzählige Pflan­zen und Tie­re. Ihr Zuhau­se ist nun unser für zwei Nächte. Der Name der ers­ten Doli­ne ist das Pro­gramm: Watch Out for Dino­saurs. Und so sit­ze ich stun­den­lang allein in einer Ecke unse­res Zelt­plat­zes, um die letz­ten Son­nen­strah­len zu genie­ßen und mir aus­zu­ma­len, wel­che Dino­sau­ri­er hier Zuflucht fin­den könnten. Vor mir: ein berau­schend schö­nes Natur­spek­ta­kel. Hin­ter mir: unse­re Sui­tes mit Gour­met­kü­che. Und Wat­tos Schrei. Einer der Gepäckträger hat wie­der Strei­che gespielt und Stei­ne in sei­nen Ruck­sack gelegt. Zeit für eine klei­ne Unter­hal­tungs­show. Kein Zwei­fel, das bes­te Hotel der Welt befin­det sich mit­ten im Nir­gend­wo unter der Erde.

Der Son­nen­un­ter­gang kommt schnell, die Kälte auch. Die ein­zi­ge Kon­stan­te ist das ewi­ge Rau­schen des Flus­ses. Es wirkt selt­sam beru­hi­gend und plötzlich ver­ste­he ich Tha, war­um er in der Höhle viel bes­ser schla­fen kann als zu Hau­se. In die­ser Nacht schla­fe ich ein wie ein Baby, ste­he frei­wil­lig früher auf, um das ers­te Son­nen­licht mit mei­ner Kame­ra fest­zu­hal­ten. Ver­geb­lich. Sơn-Đoòngs Ein­zig­ar­tig­keit lässt sich nicht ein­fan­gen.

Die ers­te Camp­si­te im Bauch von Sơn Đoòng
Licht von der ers­ten Doli­ne

Wir krie­chen, krab­beln und klet­tern in Rich­tung der zwei­ten Doli­ne, Gar­den of Edam. Dun­kel­heit umhüllt uns und das Son­nen­licht von der Doli­ne dient als Leucht­turm. Die Bezeich­nung Gar­ten ist eine Unter­trei­bung, Regen­wald wäre tref­fen­der. Mas­si­ve Bäu­me ragen 30 Meter über uns her­vor. Die­se üppi­ge Vege­ta­ti­on ist das Zuhau­se von zahl­lo­sen Tie­ren, dar­un­ter Insek­ten, sel­te­ne Vögel wie das Kas­ta­ni­en-Neck­la­ced-Reb­huhn und der Kurz­schwanz-Sci­mitar-Schwätzer, Affen, Fle­der­mäu­sen, Flug­hun­den und Schmet­ter­lin­gen. Und natür­lich die Hei­mat einer unbe­kann­ten Anzahl von bis­her unent­deck­ten Arten. Sơn-Đoòng ist das per­fek­te Bei­spiel dafür, wie wenig wir von der (Unter)Welt wis­sen. Ich bli­cke zurück in die Pas­sa­ge, von der wir gekom­men sind. Eini­ge der Mit­rei­sen­den sind immer noch unten. Nebel sickern aus der Höh­le und bede­cken die Sicht auf die Öff­nung. Ein Phä­no­men, das durch das Zusam­men­tref­fen der küh­le­ren Luft in der Höh­le und der hei­ßen und feuch­ten Dschun­gel­luft ver­ur­sacht wird. Sơn-Đoòngs eige­nes Nebel- und Wol­ken­sys­tem hin­ter­lässt eine unheim­li­che Atmo­sphä­re. Wir war­ten, Wat­to nuschelt irgend­was in sein Hand­funk­ge­rät und die Gepäck­trä­ger legen sich gemüt­lich hin auf umge­fal­le­ne Baum­stäm­me. Nach einer hal­ben Stun­de taucht der Rest der Grup­pe aus den Nebeln auf. Glück­lich über ihre fet­te Foto­beu­te.

Auf­stieg zum Gar­den of Edam
Leben in Gar­den of Edam
Blick auf die zwei­te Camp­si­te
Ein Baum im Gar­den of Edam
Eine klei­ne Pau­se im Gar­den of Edam
Ein Blick zurück in Gar­den of Edam © Vee Rod­ney

Der vier­te und letz­te Tag bricht an und wir räumen auf. Erleich­tert in die­ser Nacht in einem Bett schla­fen zu kön­nen und schwer­mü­tig die­ses Natur­wun­der ver­las­sen zu müs­sen. Der Fluss, unser gest­ri­ger Swim­ming­pool, führt uns zu der letz­ten Etap­pe. Wir sit­zen in ein­fa­chen Schlauch­boo­ten, pad­deln lang­sam durch die Höhle, das Licht mei­ner Stirn­lam­pe erreicht wie­der nicht die Decke. Links von mir eigen­ar­ti­ge Fels­struk­tu­ren, rechts von mir noch eigen­ar­ti­ge­re Fels­struk­tu­ren. Atem­be­rau­bend im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Alle schwei­gen. Das Pras­seln der Was­ser­trop­fen ist lau­ter als sonst. Irgend­wann errei­chen wir den End­punkt des Flus­ses und die größ­te körperliche Her­aus­for­de­rung steht vor uns: the Gre­at Wall of Viet­nam, eine 90 Meter hohe Fels­for­ma­ti­on aus leh­mi­gem Kal­zit. Zum Ver­gleich: Die Kathe­dra­le Not­re-Dame von Paris ist nur 1 Meter klei­ner.

Alle beob­ach­ten die Vor­be­rei­tung mit einem mul­mi­gen Gefühl, denn die Wand ist rut­schig und gera­de. Wir fol­gen brav den Anwei­sun­gen von Tha und Wat­to, die alle Sicher­heits­maß­nah­men pedan­tisch überprüfen. Ein fal­scher Griff kann fata­le Fol­gen haben. Jemand ruft mei­nen Namen. Es ist soweit. Ich zie­he fest am Seil, las­se mei­nen Körper nach hin­ten fal­len, bis er senk­recht zu der Mau­er steht, und wage die ers­ten Schrit­te nach oben. Mei­ne Hände sind rot, mei­ne Knien zit­tern, Schweiß­per­len lau­fen mei­nen Schläfen run­ter. Ich atme tief. Geschafft. Zumin­dest für den ers­ten Teil. Es geht wei­ter, die zwei­te Etap­pe ist noch rut­schi­ger und stei­ler. Noch ein Meter. Und noch ein Meter. End­lich vor­bei. Wir kom­men alle oben heil an und klop­fen uns gegen­sei­tig auf die Schul­ter. Zeit für das letz­te und wohl­ver­dien­te Mit­tag­essen im Bauch der Rie­sen­schlan­ge.

Der Weg aus der Unter­welt ist alles ande­re als ein­fach. Wir klet­tern lang­sam nach unten, hal­ten uns an Baumstämmen oder Ästen fest, ver­flu­chen die Hit­ze und die Fel­sen, die wie gigan­ti­sche Nadeln aus­se­hen. Ich fol­ge dem ers­ten Gepäckträger, er läuft schnell und sein Tem­po spornt mich an. Mein Kopf sagt nein, mein Körper sagt ja. Ich mer­ke mei­ne wag­hal­si­gen Schrit­te und höre trotz­dem nicht auf, weil ich mit­hal­ten will. Der Aus­rut­scher kommt unüberraschend und ich stürze direkt auf einen Fel­sen. Blut klebt auf sei­ner glat­ten Oberfläche und mein lin­ker Arm ist taub. Der Helm hat mei­nen Kopf geret­tet und alle atmen auf. „Kriegs­an­den­ken“, ruft Wat­to laut und zwin­kert mir zu. „Erin­ne­rung an ein Aben­teu­er, das mit Schweiß anfängt und Blut endet“, sage ich zu mir selbst und dre­he mich um. Die Höh­le ist längst nicht mehr sicht­bar und ich bereue es Wat­to nicht zu fra­gen, Zeit allein mit Sơn-Đoòng ver­brin­gen zu dürfen. ****

Good­bye Sơn Đoòng © Vee Rod­ney

Irgend­wann wird die Stre­cke fla­cher und ein­fa­cher, wir lau­fen schnel­ler und errei­chen nach eini­gen Minu­ten eine klei­ne Bie­gung in die Stra­ße. Unweit davon ent­fernt: ein kli­ma­ti­sier­ter Bus. Unse­re Gesich­ter strah­len. Wir gra­tu­lie­ren uns gegen­sei­tig, klat­schen ab und mer­ken zum ers­ten Mal rich­tig, wie wir stin­ken.

Der Bus bringt uns zurück in die Zivi­li­sa­ti­on. Ich sit­ze am Fens­ter und beob­ach­te, wie die Dschun­gel­land­schaft lang­sam an mir vor­bei zieht. Mei­ne Gefühle sind gemischt. Ich bin froh und trau­rig zugleich. Ich den­ke an ein Wie­der­se­hen mit Sơn-Đoòng. Mit Wat­to. Mit Tha. Und mit den­sel­ben Gepäckträgern und Mit­rei­sen­den.

Der schwar­ze Tee mit Milch und tro­cke­ne Unterwäsche können war­ten. Ja, genau in die­ser Rei­hen­fol­ge.

 

* Im Jahr 2017 beträgt das Brut­to­in­lands­pro­dukt pro Kopf ca. 2.300 USD: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=VN&name_desc=true

** Ein (ver­ein­fach­ter) Nach­be­rech­nung – Ver­such: Der durch­schnitt­li­che Tyran­no­sau­rus Rex ist ca. 14 m lang, 1,6 m breit und 5 m hoch. Die Maße von Hang Én: 1.600 m (L) x 180 m (B) x 100 m (H). Somit kön­nen sich dort unge­fähr 257.142 Tyran­no­sau­rus Rex rum­tum­meln.

*** Sie gel­ten als Deli­ka­tes­se in Viet­nam.

**** Die Rei­sen­den kön­nen in Beglei­tung eines Gepäck­trä­gers für eine kur­ze Zeit in der Höh­le zurück­blei­ben.

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