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Ich will trockene Unterwäsche und einen schwarzen Tee mit Milch. Oder zuerst den schwarzen Tee mit Milch und dann trockene Unterwäsche? Die Reihenfolge ist jetzt eigentlich egal, denn beides werde ich auf der Reise in die größte Höhle der Welt sowieso nicht bekommen. Stattdessen: Schweiß, Schweiß und nochmal Schweiß. Und dazwischen? Demut, Hochmut und Wehmut. Eine seltsame Kombination, für die ich freiwillig rund 3.000 USD bezahlt habe.
Die wichtigsten Eckdaten auf einem Blick: Die Höhle heißt Sơn-Đoòng und bedeutet auf Vietnamesisch Gebirgsfluss. Genauer genommen ist sie ein über 9 km langes komplexes Höhlensystem mit 150 Hohlräumen.
• Sie ist zwischen 2 und 5 Millionen Jahre alt (während dieser Zeit lebte unsere Urahnin Lucy in Ostafrika)
• Ihr Gesamtvolumen beträgt 38,5 Millionen Kubikmeter (14x Cheops Pyramiden)
• Sie ist teils 200 Meter (2x Elbphilharmonie) hoch und 150 Meter (1x Kölner Dom) breit
Entdeckt wurde Sơn-Đoòng im Jahr 1991 von einem Einheimischen namens Hồ Khanh, als dieser nach Schutz während eines starken Sturms suchte. Bekannt wurde sie erst 18 Jahre später, als britische Höhlenforscher sie erkundeten. Seit 2013 können pro Jahr rund 700 Besucher die Höhle bestaunen und ich gehöre – nach zwei erfolglosen Anmeldungen – zu diesen glücklichen Menschen, die ein Ticket ergattern konnten. Meine Freude war groß, die Vorfreude umso mehr. Ich bereitete mich akribisch darauf vor, kaufte zähneknirschend teure Wanderausrüstungen, aber nichts, wirklich nichts, kann mich auf die Hitze im Dschungel vorbereiten.
Startpunkt: Phong Nha-Kẻ Bàng Nationalpark in Zentralvietnam an der Grenze zu Laos. Der Weg zur größten Höhle der Welt führt über eine kleine unauffällige Biegung auf der Ho Chi Minh Highway. Spannung und Nervosität liegen in der Luft, doch keiner lässt sich das anmerken. Ein letztes Gruppenfoto und wir stürzen uns in die Tiefe. „Es ist sehr heiß, lauft daher langsam“, rät uns Tha, unser englischsprachiger Guide. Er ist ein Mitarbeiter der Reiseagentur Oxalis, die Exklusivrecht für die Durchführung von Sơn-Đoòng Expeditionen besitzt.
Wir folgen Tha, klettern nach oben, nach unten und dann wieder nach oben. Wir lechzen in der Sonne, laufen über Felsen und Wurzeln, vorbei an Baumstämmen und Ästen. Meine Arme und Beine sind schon nach einigen Minuten müde, die Hitze spürbar auf meinem Nacken und ich frage mich, wie lang eine Stunde sein kann. Es stellt sich heraus, dass eine Stunde Dschungelmarsch mit Rucksack auf dem Rücken, Spiegelreflexkamera am Hals, schweren Wanderschuhen voll mit Sand und Wasser, zu lang sein kann. 500 m fühlen sich an wie 5 km. Die Luft ist schwül, das Atmen schwer. Danach will man einfach nur direkt ins kalte Wasser springen. Und genau das tun wir. Wir? Das sind insgesamt sechs Frauen und vier Männer aus Amerika, Australien, Singapur und Deutschland, im Alter von Anfang 20 bis Mitte 50. Es fühlt sich an, als wäre diese Expedition nur für Ausländer konzipiert, die es sich leisten können 3.000 USD auszugeben, um vier Tage im Dschungel zu schwitzen. Nein, Sơn-Đoòng werde auch von Vietnamesen besucht, versichert Tha. Die Summe sei für vietnamesische Verhältnisse natürlich sehr hoch*, doch es gebe durchaus Vietnamesen, die sich für ein derartiges Abenteuer interessieren anstatt einer Europa/USA Shoppingtour, ein gegenwärtiger Trend der urbanen Mittelschicht.
Es ist das erste Mal für mich mit unbekannten Menschen zu reisen, an einer Expedition teilzunehmen und, ja, das erste Mal eine andere Seite von dem Land kennenzulernen, in dem ich geboren wurde. Weit weg von der lärmenden Großstadt. Ohne Strom, Handy und Internet. Stattdessen: lange Dschungelmärsche, unzählige Flussüberquerungen, bei den das Wasser manchmal bis zum Hals steigt und ständiges Rauf und Runter. Nach der zehnten Flussüberquerung habe ich aufgehört zu zählen. Und auf Blutegel zu achten. Die Hitze ist unerträglich. Jede Pause kommt gelegen, um Luft zu schnappen. Jeder Schluck Wasser ist ein Genuss der besonderen Art. Jede fünfte Minute träume ich von der klapprigen Klimaanlage in dem Haus meiner Eltern in Hanoi. Wir beobachten die Gepäckträger mit Neid und Bewunderung, wie sie sich mühelos und elegant durch die Bäume schlängeln. Oder von einem Felsen zum nächsten springen. In einfachen Sandalen. Und mit mehr als 20 Kilos auf ihrem Rücken. Dabei singen sie. Die Interaktionen zwischen ihnen und Watto, dem englischen Höhlenexperten, gehört zum inoffiziellen Unterhaltungsprogramm der Expedition. Zwischen ihm und den Gepäckträgern herrscht ein väterliches Verhältnis und spitzbübische Streiche sind Teil ihres Alltags.
Endlich Mittagspause. Erster Zwischenstopp: das Dorf Ban Doong, Heimat der ethnischen Minderheit Bru-Van Kieu. Es besteht aus einigen auf Stelzen errichteten Häusern, umgeben von kleinen Maisfeldern. Nur alte Menschen und Kinder sind zu sehen, junge Bewohner sind in die nächstgrößere Stadt gezogen um zu arbeiten. Die Armut ist offensichtlich, doch man hat nicht das Gefühl, dass sie ihr einfaches Heim gegen bescheidenen Komfort austauschen würden. Ja, natürlich sei das Dschungelleben hart, doch es sei nun mal das Zuhause, sagt der Dorfvorsteher, ein kleiner hagerer Mann. Trotz starker Überzeugungsarbeit der Lokalregierung kehren sie immer wieder an diesen Ort zurück. Zuhause ist Zuhause. Es ist bewundernswert und traurig zugleich, denn wie in vielen anderen Entwicklungsländern gibt es keine nachhaltige Lösung, wie man Moderne und Tradition, Stadt und Land, Jung und Alt miteinander verbinden kann.
Eine Brise kommt mir entgegen. Sie verdrängt meine mürrische Laune, die mich schon seit meiner Ankunft in Vietnam begleitet hat. Ich fühlte mich betrogen von diesem Land und dessen Menschen. Ich schlief in einem stinkenden Haus. Ich aß Gerichte, in den ich ein Stück Eisen so groß wie eine Büroklammer in meinem Mund kaute und große Staubkörner am Salat klebten. Ich trank verdorbenes Zuckerrohrgetränk. Ich kam zum Flughafen und habe feststellen müssen, dass die Airline meinen Flug einfach auf einen Tag früher verlegt hat. Das Resultat: eine erneute überteuerte Flugbuchung, späte Ankunft und verlorene kostbare Zeit. Zurück zu Hier und Jetzt. Jeder im Dorf ist mager, Kinder laufen barfuß durch die Gegend. Der Boden ist heiß und steinig, ihre Füße klein und zart und ich trage dicke Wanderschuhe. Meine Probleme, meine Wut, meine Enttäuschung sind lächerlich. Du und deine Mitreisenden, ihr habt ein 30-köpfiges Team, das sich um euer Wohlergehen kümmert. Zwei Köche, verdammt noch mal, ja, zwei Köche, reisen mit euch, schreit mein Gewissen mich an. Dein minimalistischer Dschungelaufenthalt ist purer Luxus, sagt es anklagend. Plötzlich tut es mir leid, dass ich die Kundenbetreuerin der Airline angefaucht habe.
Tha und Watto rufen zum Weitermarsch, widerwillig setzen wir uns wieder in Gang und laufen in Richtung Hang Én, die drittgrößte Höhle der Welt. „Wir müssen durch diese Höhle gehen, um zu Sơn-Đoòng gelangen zu können“, erklärt Watto. Er war schon von Anfang an dabei und kennt die Route in- und auswendig. „Zeit für eine kleine Abkühlung“, verkündet er und springt ins Wasser. Mit Kleidungen und Schuhen. Wir folgen ohne zu zögern. Watto besitzt die besondere Fähigkeit uns mit Geschichten und Anekdoten über andere Reisegruppen zum Lachen und zum Nachdenken zu bringen. Er erzählt von dem saudischen Prinz, der nach einem Swimmingpool fragte. Von Bodybuildern, die ihre körperliche Kondition überschätzten und zurückgeschickt wurden. Und von dem Fotobuchprojekt über die Höhle, dessen Einnahmen in die Bildung der Kinder aus der Gegend einfließen.
Mit nassen Klamotten und guter Laune erreichen wir Hang Én, die Schwalbenhöhle, gegen späten Nachmittag. Die erste Nacht werden wir hier verbringen und den Sandstrand (aus uraltem Fledermaus-Guano) und den smaragblauen Swimmingpool (aus übrig gebliebenen Flutwasser) genießen. Hang Én liegt friedlich vor uns, doch in der Monsunzeit zeigt sie sich gern von ihrer turbulenten Seite. Heftige Regenfluten stürzen dann die Berge hinab, reißen alles mit sich und überschwemmen die Höhle. Die Tour beschränkt sich daher nur auf die Monate Februar bis August.
Schlaflos in Hang Én. Die Schwalben geben einfach keine Ruhe. Ich liege hellwach in meinem Zelt und Langeweile und Unruhe bringen mich zu den absurdesten Gedanken. Plötzlich wundere ich mich, ob mein Hund Leo eine solche strapazierte Reise auch überstehen würde (wohl kaum, er hat Probleme mit der Hitze). Und ob er uns brav folgen würde (zu viel Ablenkungen; er jagt Vögeln und Ratten gern hinterher). Dies wiederum führt zu der Frage, wie viel Tyrannosaurus Rex in Hang Én reinpassen würden, wenn sie nicht ausgestorben wären.** Und wie zum Teufel haben die Einheimischen es bloß geschafft ohne Hilfsmitteln die steilen Höhlenwände (ca. 100m) hochzuklettern, um an die Schwalbeneier ranzukommen? *** Fragen ohne Antwort aber mit Einschlaf-Effekt. Für zwei Stunden. Um 5:30 Uhr wachen alle auf, als hätten wir genau diese Uhrzeit miteinander vereinbart.
Wir folgen Watto und Tha in Richtung Höhlenausgang. Sie lassen die Gepäckträger vormarschieren, um den überdimensionalen Ausmaß von Hang Én zu demonstrieren. Zwanzig Minuten sind vorbei und die Männer sind nun nur als Pünktchen zu sehen und doch befinden wir uns alle immer noch in derselben Höhle. Nach zahlreichen Flussüberquerungen mit starken Strömungen stehen wir wieder vor einem steilen Hang. Wir klettern nach oben. Höher und höher. Jeder Schritt ist ein kleiner Triumph. Es ist matschig und rutschig und jede falsche Bewegung kann einen Unfall verursachen. Wir keuchen und bewegen uns in zermürbter Schrittgeschwindigkeit. Irgendwann traue ich meinen Füßen nicht mehr. Jemand flucht laut. Die Gepäckträger summen immer noch fröhlich vor sich hin und springen seelenruhig und entspannt zwischen den Felsen, als wäre es ein Kinderspiel. Ich bin noch nie so neidisch auf jemanden.
Endlich. Wir stehen vor dem Eingang von Sơn-Đoòng. Aufsteigende Nebelschwaden bedecken die Öffnung. Unspektakulär und relativ klein, kein Wunder also, dass Hồ Khanh so lange Zeit gebraucht hat, um sie wiederzufinden. Umso spektakulärer ist es, als wir einer nach dem anderen 80 Meter steil in die pechschwarze Tiefe runterklettern. Der Wind pfeift. Sơn-Đoòng schlummert vor sich hin. Ich sitze schweigend in einer Ecke, meine Finger tasten die glatten und feuchten Felsen. Wassertropfen kommen von oben und prasseln auf meinen Helm. Ein Gepäckträger ruft. Sơn-Đoòng antwortet. Es fühlt sich an, als wären wir im hohlen Bauch einer hungrigen Riesenschlange gelandet. Ich mache meine Stirnlampe an und schaue nach oben. Nichts als Dunkelheit, denn das Licht kann die Höhlendecke natürlich nicht erreichen.
Wir tasten uns langsam durch eine surreale Landschaft, geprägt von Steinen, Felsen und Flüssen. Das fahle Licht der Lampen enthüllt gigantische Stalagmiten und Stalaktiten, bizarre Felsenformen, wohin wir auch blicken. Überall Relikte aus der Vorzeit. Sind wir immer noch auf der Erde, fragt man sich. Die urwüchsige und archaische Schönheit der Höhle ist faszinierend. Und beängstigend zugleich. Wie würde es sich anfühlen, eine Nacht allein in dem Bauch dieses gigantischen Naturwunders zu verbringen? Ich verwerfe den Gedanken sofort. Zu furchteinflößend. Plötzlich wünsche ich mir Sơn-Đoòng in klarem Licht sehen zu können und bereue es überhaupt daran zu denken, denn es würde ihr langsamer aber sicherer Tod bedeuten. Es wäre ein Verbrechen dieses Naturwunder durch kommerzialisierten Massentourismus zu zerstören. Diesen irrsinningen Plan gibt es tatsächlich. Tha erzählt mir von dem Vorhaben der Lokalregierung eine Seilbahn in die Höhle installieren zu lassen, um mehr Besucher aufzunehmen. So seltsam es klingt, Sơn-Đoòng kann ihre Schönheit nur bewahren, wenn sie weiterhin in Dunkelheit bleibt.
Wir überqueren die Flüsse, baden in Sơn-Đoòngs eiskaltem Wasser, klettern hoch und runter, bis wir die erste Doline, einen durch Einsturz entstandenen kolossalen Hohlraum, erreichen. Durch solche Löcher dringen Licht und Wasser in die Höhle ein und ermöglichen einen faszinierenden unterirdischen Lebensraum für unzählige Pflanzen und Tiere. Ihr Zuhause ist nun unser für zwei Nächte. Der Name der ersten Doline ist das Programm: Watch Out for Dinosaurs. Und so sitze ich stundenlang allein in einer Ecke unseres Zeltplatzes, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen und mir auszumalen, welche Dinosaurier hier Zuflucht finden könnten. Vor mir: ein berauschend schönes Naturspektakel. Hinter mir: unsere Suites mit Gourmetküche. Und Wattos Schrei. Einer der Gepäckträger hat wieder Streiche gespielt und Steine in seinen Rucksack gelegt. Zeit für eine kleine Unterhaltungsshow. Kein Zweifel, das beste Hotel der Welt befindet sich mitten im Nirgendwo unter der Erde.
Der Sonnenuntergang kommt schnell, die Kälte auch. Die einzige Konstante ist das ewige Rauschen des Flusses. Es wirkt seltsam beruhigend und plötzlich verstehe ich Tha, warum er in der Höhle viel besser schlafen kann als zu Hause. In dieser Nacht schlafe ich ein wie ein Baby, stehe freiwillig früher auf, um das erste Sonnenlicht mit meiner Kamera festzuhalten. Vergeblich. Sơn-Đoòngs Einzigartigkeit lässt sich nicht einfangen.
Wir kriechen, krabbeln und klettern in Richtung der zweiten Doline, Garden of Edam. Dunkelheit umhüllt uns und das Sonnenlicht von der Doline dient als Leuchtturm. Die Bezeichnung Garten ist eine Untertreibung, Regenwald wäre treffender. Massive Bäume ragen 30 Meter über uns hervor. Diese üppige Vegetation ist das Zuhause von zahllosen Tieren, darunter Insekten, seltene Vögel wie das Kastanien-Necklaced-Rebhuhn und der Kurzschwanz-Scimitar-Schwätzer, Affen, Fledermäusen, Flughunden und Schmetterlingen. Und natürlich die Heimat einer unbekannten Anzahl von bisher unentdeckten Arten. Sơn-Đoòng ist das perfekte Beispiel dafür, wie wenig wir von der (Unter)Welt wissen. Ich blicke zurück in die Passage, von der wir gekommen sind. Einige der Mitreisenden sind immer noch unten. Nebel sickern aus der Höhle und bedecken die Sicht auf die Öffnung. Ein Phänomen, das durch das Zusammentreffen der kühleren Luft in der Höhle und der heißen und feuchten Dschungelluft verursacht wird. Sơn-Đoòngs eigenes Nebel- und Wolkensystem hinterlässt eine unheimliche Atmosphäre. Wir warten, Watto nuschelt irgendwas in sein Handfunkgerät und die Gepäckträger legen sich gemütlich hin auf umgefallene Baumstämme. Nach einer halben Stunde taucht der Rest der Gruppe aus den Nebeln auf. Glücklich über ihre fette Fotobeute.
Der vierte und letzte Tag bricht an und wir räumen auf. Erleichtert in dieser Nacht in einem Bett schlafen zu können und schwermütig dieses Naturwunder verlassen zu müssen. Der Fluss, unser gestriger Swimmingpool, führt uns zu der letzten Etappe. Wir sitzen in einfachen Schlauchbooten, paddeln langsam durch die Höhle, das Licht meiner Stirnlampe erreicht wieder nicht die Decke. Links von mir eigenartige Felsstrukturen, rechts von mir noch eigenartigere Felsstrukturen. Atemberaubend im wahrsten Sinne des Wortes. Alle schweigen. Das Prasseln der Wassertropfen ist lauter als sonst. Irgendwann erreichen wir den Endpunkt des Flusses und die größte körperliche Herausforderung steht vor uns: the Great Wall of Vietnam, eine 90 Meter hohe Felsformation aus lehmigem Kalzit. Zum Vergleich: Die Kathedrale Notre-Dame von Paris ist nur 1 Meter kleiner.
Alle beobachten die Vorbereitung mit einem mulmigen Gefühl, denn die Wand ist rutschig und gerade. Wir folgen brav den Anweisungen von Tha und Watto, die alle Sicherheitsmaßnahmen pedantisch überprüfen. Ein falscher Griff kann fatale Folgen haben. Jemand ruft meinen Namen. Es ist soweit. Ich ziehe fest am Seil, lasse meinen Körper nach hinten fallen, bis er senkrecht zu der Mauer steht, und wage die ersten Schritte nach oben. Meine Hände sind rot, meine Knien zittern, Schweißperlen laufen meinen Schläfen runter. Ich atme tief. Geschafft. Zumindest für den ersten Teil. Es geht weiter, die zweite Etappe ist noch rutschiger und steiler. Noch ein Meter. Und noch ein Meter. Endlich vorbei. Wir kommen alle oben heil an und klopfen uns gegenseitig auf die Schulter. Zeit für das letzte und wohlverdiente Mittagessen im Bauch der Riesenschlange.
Der Weg aus der Unterwelt ist alles andere als einfach. Wir klettern langsam nach unten, halten uns an Baumstämmen oder Ästen fest, verfluchen die Hitze und die Felsen, die wie gigantische Nadeln aussehen. Ich folge dem ersten Gepäckträger, er läuft schnell und sein Tempo spornt mich an. Mein Kopf sagt nein, mein Körper sagt ja. Ich merke meine waghalsigen Schritte und höre trotzdem nicht auf, weil ich mithalten will. Der Ausrutscher kommt unüberraschend und ich stürze direkt auf einen Felsen. Blut klebt auf seiner glatten Oberfläche und mein linker Arm ist taub. Der Helm hat meinen Kopf gerettet und alle atmen auf. „Kriegsandenken“, ruft Watto laut und zwinkert mir zu. „Erinnerung an ein Abenteuer, das mit Schweiß anfängt und Blut endet“, sage ich zu mir selbst und drehe mich um. Die Höhle ist längst nicht mehr sichtbar und ich bereue es Watto nicht zu fragen, Zeit allein mit Sơn-Đoòng verbringen zu dürfen. ****
Irgendwann wird die Strecke flacher und einfacher, wir laufen schneller und erreichen nach einigen Minuten eine kleine Biegung in die Straße. Unweit davon entfernt: ein klimatisierter Bus. Unsere Gesichter strahlen. Wir gratulieren uns gegenseitig, klatschen ab und merken zum ersten Mal richtig, wie wir stinken.
Der Bus bringt uns zurück in die Zivilisation. Ich sitze am Fenster und beobachte, wie die Dschungellandschaft langsam an mir vorbei zieht. Meine Gefühle sind gemischt. Ich bin froh und traurig zugleich. Ich denke an ein Wiedersehen mit Sơn-Đoòng. Mit Watto. Mit Tha. Und mit denselben Gepäckträgern und Mitreisenden.
Der schwarze Tee mit Milch und trockene Unterwäsche können warten. Ja, genau in dieser Reihenfolge.
* Im Jahr 2017 beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ca. 2.300 USD: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=VN&name_desc=true
** Ein (vereinfachter) Nachberechnung – Versuch: Der durchschnittliche Tyrannosaurus Rex ist ca. 14 m lang, 1,6 m breit und 5 m hoch. Die Maße von Hang Én: 1.600 m (L) x 180 m (B) x 100 m (H). Somit können sich dort ungefähr 257.142 Tyrannosaurus Rex rumtummeln.
*** Sie gelten als Delikatesse in Vietnam.
**** Die Reisenden können in Begleitung eines Gepäckträgers für eine kurze Zeit in der Höhle zurückbleiben.
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