Was kann man tun, wenn nicht träumen

Man tritt durch einen mit Wein über­wach­se­nen Tor­bo­gen und weiß gar nicht, wohin man zuerst schau­en soll. Trep­pen, Inschrif­ten, Säu­len, Zin­nen, Tie­re, Mus­ter, Wor­te, Sym­bo­le – ein Wirr­warr aus den ver­schie­dens­ten Moti­ven emp­fängt den Besu­cher. Das Gestein scheint zu wuchern, sich immer neue Wege, neue For­men zu suchen, sich in dem Moment, in dem man das Gebäu­de anblickt, in die Höhe zu win­den, zu krüm­men und zu zer­flie­ßen, nur um an ande­rer Stel­le wie­der zu erstar­ren. Der Palais Idé­al ist eine Her­aus­for­de­rung für den Betrach­ter. Ver­wirrt, ver­zau­bert, ent­geis­tert steht man davor, ist über­for­dert mit der Fra­ge, von wel­cher Sei­te man sich zuerst nähern soll, ob man hin­auf­stei­gen soll oder sich bücken und hin­ein­schau­en, ob man aus der Fer­ne gucken soll, das gro­ße Gan­ze, oder sich lie­ber in den Details ver­lie­ren.

Von denen gibt es jedoch viel zu vie­le, als dass man sie alle wahr­neh­men könn­te. Stei­ne sind im Zement ein­ge­fasst, Muscheln ste­chen her­aus. Tier­f­rat­zen star­ren den Besu­cher an, stei­ner­ne Äste hän­gen her­ab, oder sind es Gewei­he? Es scheint kein ein­zi­ges Stück Mau­er zu geben, das nicht bis aufs Äußers­te bear­bei­tet ist. Ein­mal um den Palais Idé­al her­um­zu­ge­hen, das führt einen durch hun­der­te Archi­tek­tur­sti­le und Zeit­epo­chen und vor allem quer durch die Kon­ti­nen­te der Welt. Römi­sche Vasen sind in eine Ecke ein­ge­las­sen, dar­über erhe­ben sich Pal­men. Feen schei­nen über den Zin­nen zu flat­tern, Minia­tur­bur­gen ste­chen aus dem Cha­os her­vor, klei­ne Häu­ser sind zu sehen, Mina­ret­te und ara­bi­sche Schrift neben rie­sen­haf­ten Figu­ren, die den Palast bewa­chen. Nichts ist per­fekt, aber alles ist da.

„In meinen Träumen baute ich ein märchenhaftes Schloss.“

Der Palais Idé­al sieht aus der Fer­ne aus wie eine rie­si­ge Schmuck­scha­tul­le. Er hat kei­nen Sinn und erfüllt kei­nen Zweck. Hin­ein­ge­hen kann man nur gebückt, von der Ter­ras­se sieht man nur auf die Bäu­me, die das Grund­stück ein­zäu­nen.

Doch einen Sinn braucht der Palast nicht – er ist in ers­ter Linie ein in Rea­li­tät gegos­se­ner Traum, der Traum von Fer­di­nand Che­val.

1836 in einem Nach­bar­dorf von Haute­ri­ves gebo­ren, geht er nur sehr kurz zur Schu­le, um sei­nem Vater auf dem Feld zu hel­fen. Nach­dem er mit 17 Jah­ren zum Wai­sen wird, macht er eine Bäcker­leh­re. Er hei­ra­tet und hat zwei Kin­der, von denen eines stirbt, kurz dar­auf stirbt auch sei­ne Frau. Mit 42 Jah­ren bekommt er, der bereits län­ger als Post­bo­te arbei­tet, die Rou­te rund um Haute­ri­ves zuge­teilt und kehrt so in sei­ne Hei­mat zurück. Jeden Tag läuft er nun über drei­ßig Kilo­me­ter zu Fuß, immer die­sel­be Stre­cke, bei jedem Wet­ter. Ein Beruf, der zu dem Eigen­bröt­ler zu pas­sen scheint: Er blät­tert in Maga­zi­nen, bestaunt Post­kar­ten und lässt die Gedan­ken schwei­fen.

Ein Jahr spä­ter, Che­val ist mitt­ler­wei­le wie­der ver­hei­ra­tet und erwar­tet eine Toch­ter, der Moment, mit dem Traum und Rea­li­tät ihren Anfang neh­men: Er stol­pert über einen Stein, bleibt ste­hen – und ist begeis­tert. Der Stein, der ihn zum Tau­meln gebracht hat, hat eine so unge­wöhn­li­che und wun­der­ba­re Form, dass er ihn ein­steckt, um ihn sich zu Hau­se wei­ter anse­hen zu kön­nen. Bei dem einen Stein bleibt es nicht – er kommt an die­sel­be Stel­le zurück und stellt fest, dass er sogar noch schö­ne­re Stei­ne fin­den kann.

„Ich beschloss: Da die Natur die Bildhauerei übernehmen will, kümmere ich mich um die Maurerarbeit und die Architektur.“

Sei­ne Tag­träu­me, die Maga­zin­bil­der und Post­kar­ten ver­misch­ten sich mit der spon­ta­nen Schön­heit der Natur und wuch­sen zu ein­zig­ar­ti­gen Visio­nen her­an. Zunächst bau­te der Post­bo­te einen Teich mit Tier­fi­gu­ren, dann eine Grot­te, einen Was­ser­fall. Doch je mehr er schuf, umso mehr Begeis­te­rung emp­fand er für sei­ne Arbeit. Und umso grö­ßer wur­den die Plä­ne. Die Stei­ne, die er anfangs wäh­rend sei­ner täg­li­chen Rou­te in Taschen und Kör­ben gesam­melt hat­te, muss­te er mitt­ler­wei­le zu Hau­fen auf­tür­men und nachts mit einer Schub­kar­re abho­len.

Den Plan, den er nach und nach fass­te, darf man wohl ruhig als grö­ßen­wahn­sin­nig bezeich­nen: Er woll­te sich selbst ein Grab­mal bau­en, nach ägyp­ti­schem Vor­bild, das ihn für lan­ge Zeit über­dau­ern soll­te. Von da an bau­te er Tag und Nacht, in jeder frei­en Minu­te, an sei­nem Palast. Im Licht des Mon­des rühr­te er Mör­tel an, tags­über trug er schwe­re Stei­ne kilo­me­ter­lang auf dem Rücken.

In sei­nem Dorf gilt der Post­bo­te ver­ständ­li­cher­wei­se schnell als Son­der­ling, gibt selbst jedoch wenig auf den Tratsch und die Sti­che­lei­en. Rings um sein Grund­stück erbaut er eine hohe Mau­er, um sei­ne Wer­ke vor Bli­cken abzu­schir­men. 1894 stirbt sei­ne Toch­ter, eine Tra­gö­die für Che­val, der sich wei­ter fie­ber­haft auf Stei­ne und Mör­tel stürzt. Zwei Jah­re spä­ter geht er in den Ruhe­stand und kann nun end­lich tat­säch­lich jede Minu­te mit dem Bau ver­brin­gen.

Und nun kommt auch die will­kom­me­ne Unter­stüt­zung: Noch wäh­rend des Baus rei­sen inter­na­tio­na­le Besu­cher an, um Che­val zuzu­se­hen, wie er auf sei­nen win­di­gen selbst gezim­mer­ten Gerüs­ten noch mehr Figu­ren an die Wän­de bringt. Selbst, wäh­rend er per­sön­lich Besu­cher her­um­führt, kann er es nicht las­sen, neben­bei mit einer Hand wei­ter an sei­nem Werk her­um­zu­krat­zen. Der wun­der­sa­me Palast wird in Zei­tun­gen und Maga­zi­nen vor­ge­stellt. 1907 muss Che­val ein Dienst­mäd­chen für die Besu­cher ein­stel­len.

Den Bau selbst ver­folgt er jedoch ohne jeg­li­che Hil­fe. „Werk eines ein­zi­gen Man­nes“, steht vol­ler Stolz in den Palast geritzt. Dass er ganz allei­ne, ohne frem­de Unter­stüt­zung, an sei­nem Werk gebaut hat, ist ihm wich­tig. Genau­so wie die Tat­sa­che, dass es so ein Gebäu­de welt­weit nur ein ein­zi­ges Mal gibt.

Fer­di­nand Che­val woll­te nicht nur sei­nen Traum­pa­last schaf­fen, son­dern vor allem etwas, das ihn über­dau­ert, das grö­ßer ist als er selbst.

„1879–1912 : 10,000 Tage, 93,000 Stunden, 33 Jahre der Bewährungsprobe“

1912 ist es geschafft, der Palais Idé­al ist been­det. 26 Meter lang, 14 Meter breit, 10 Meter hoch. 77 Jah­re ist Fer­di­nand Che­val alt, als er den letz­ten Stein setzt.

Als er fest­stellt, dass er sich laut fran­zö­si­schem Gesetz nicht in sei­nem Palast begra­ben las­sen darf, setzt er zwei Jah­re spä­ter dazu an, sich ein Mau­so­le­um auf den Fried­hof von Haute­ri­ves zu bau­en. 1922 ist er fer­tig, zwei Jah­re spä­ter stirbt er.

Wel­che wei­ten Krei­se sein Traum zie­hen wür­de, hat Che­val in sei­nem Leben nur noch am Ran­de mit­be­kom­men. Die Sur­rea­lis­ten fei­er­ten ihn in den zwan­zi­ger Jah­ren als eines ihrer Vor­bil­der, Picas­so besuch­te den Ort mehr­fach, Fotos des Palasts hin­gen im Muse­um of Modern Art in New York. 1969 zum natio­na­len Kul­tur­denk­mal erklärt, zieht der Palais Idé­al heu­te jähr­lich über 150.000 Besu­cher an.

Ich ste­he vor dem Bau­werk, lau­fe dar­um her­um, unten hin­durch und oben auf die Ter­ras­se. Und fra­ge mich, wie man eine der­ar­ti­ge Kraft auf­brin­gen kann, der­ar­ti­ge Ener­gie und Ent­schlos­sen­heit, um gegen alle Wider­stän­de eine sol­che Arbeit fer­tig­zu­stel­len. Je mehr ich von Fer­di­nand Che­val höre, des­to unglück­li­cher und ein­sa­mer kommt mir sein Leben vor. Lie­ßen ihn die vie­len Tra­gö­di­en, die er erlitt, sich in die Arbeit stür­zen? Ging es dar­um, dem Rest der Welt, der ihn zunächst ver­höhn­te, etwas zu bewei­sen? Und war­um hat­te er nie Inter­es­se dar­an, die vie­len Orte selbst zu sehen, die er von Maga­zin­sei­ten und Post­kar­ten auf die Palast­wän­de über­trug? Seit Beginn der Arbei­ten hat­te Che­val die Gegend um Haute­ri­ves nicht mehr ver­las­sen – zu viel zu tun. Die Muscheln brach­ten ihm sei­ne Kin­der von Schul­aus­flü­gen ans Meer mit.

Visionen größer als die Realität

Che­val wur­de in eine inter­es­san­te Zeit vol­ler Umbrü­che gebo­ren: Mit dem Beginn der Repu­blik kamen star­ke Ver­än­de­run­gen über das Land. Die von Frank­reich kolo­ni­sier­ten Gebie­te in Afri­ka und ande­ren Gegen­den der Welt kamen stär­ker ins Blick­feld, mit Foto­gra­fien, Zeit­schrif­ten und den ers­ten Post­kar­ten waren sie auch in den länd­li­chen Gegen­den um Haute­ri­ves prä­sent. Man begann, sich für die Welt zu inter­es­sie­ren, die ers­ten Welt­aus­stel­lun­gen fan­den statt. Fer­di­nand Che­val konn­te sich für all dies begeis­tern, doch er blieb zu Hau­se und ließ sei­ne Fan­ta­sie spie­len. Sei­ne Visio­nen schie­nen grö­ßer gewe­sen zu sein als die Rea­li­tät, an der er sie nie zu mes­sen ver­such­te.

„Für ein muti­ges Herz ist nichts unmög­lich“, hat Che­val in eine der Palast­wän­de geschrie­ben. Und auch das ist der Palais Idé­al: ein Denk­mal dafür, dass nichts in der Welt unmög­lich ist, dass sich wohl jeder Traum rea­li­sie­ren lässt. Die Fra­ge ist nur, zu wel­chem Preis. Denn Che­val konn­te sich nicht nur kaum um sei­ne Fami­lie küm­mern und nicht rei­sen, er bezeich­ne­te die 33 Bau­jah­re selbst als épreuve, als Prü­fung oder schwe­re Zeit. Spaß schien ihm der Bau kei­nen gemacht zu haben, auch wenn er ihn mit Stolz erfüll­te. Die wirk­li­che Aner­ken­nung erfuhr der Palast erst nach Che­vals Tod.

Dafür ist er heu­te um ein Viel­fa­ches grö­ßer als die 26 mal 14 Meter. Er ist ein Denk­mal für die Ewig­keit, aus dem jeder Besu­cher etwas ande­res her­aus­liest. Die­ses stein­ge­wor­de­ne Bei­spiel des Men­schen­mög­li­chen lässt nie­man­den kalt. Egal, ob jemand begeis­tert ist, den Kopf dar­über schüt­telt oder an die eige­nen Träu­me denkt, die er im Leben nie ver­folgt hat – der Palais Idé­al kann gar nicht anders, als Men­schen ganz tief im Inne­ren zu berüh­ren.

Der Palais Idé­al
Der Palais Idé­al liegt im Ört­chen Haute­ri­ves im Dépar­te­ment Drô­me, unge­fähr auf hal­ber Stre­cke zwi­schen Lyon und Valence. Von Lyon braucht man mit dem Auto etwas mehr als eine Stun­de – es bie­tet sich jedoch auf jeden Fall min­des­tens ein Zwi­schen­stopp im schö­nen Vien­ne an. Auch mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln ist Haute­ri­ves zu errei­chen: Von Lyon aus ist man in etwa einer Stun­de mit dem Zug in Saint Val­li­er, von dort aus kann man mit dem Bus nach Haute­ri­ves fah­ren. Der Ein­tritt in den Palais Idé­al kos­tet für Erwach­se­ne 6,50€, für Stu­die­ren­de 5,50€. Mehr Infor­ma­tio­nen fin­det ihr hier.
Die Drô­me
Das Dépar­te­ment Drô­me ist völ­lig zu Unrecht selbst in Frank­reich ziem­lich unbe­kannt. Alte Dör­fer mit dicken Stein­wän­den, wei­te Wie­sen mit Mohn­blu­men und die ers­ten Laven­del­fel­der prä­gen die Gegend. Die Zeit scheint hier irgend­wie lang­sa­mer zu lau­fen, und das in einer sehr guten Art und Wei­se 🙂 Neben dem Palais Idé­al kann man sich hier zum Bei­spiel durch Scho­ko­la­den­sor­ten pro­bie­ren, durch Wein­ber­ge tou­ren und in der Haupt­stadt Valence durch die Gas­sen fla­nie­ren oder das bemer­kens­wer­te Musée de Valence besu­chen.

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Antwort

  1. Avatar von Miss Ellie

    Es ist wun­der­bar Träu­me zu ver­wirk­li­chen, ob als Rei­sen­der und Schau­en­der oder als Bau­en­der
    Schön geschrie­ben, toll ent­deckt

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