Der »Bali Kuss« – eine Reise auf dem Zahnfleisch

Tag eins: alles beginnt mit einem Schnitt, L‑förmig. Mehr ein umge­kipp­tes L, auf dem Rücken lie­gend, wehr- und hilf­los, wie ein besof­fe­ner Mai­kä­fer. Spie­gel­ver­kehrt hal­te ich mich auf allen Vie­ren gestützt auf­recht. An mei­nen Han­din­nen­flä­chen füh­le ich den war­men Asphalt. Dann, wie in Zeit­lu­pe, quillt rubin­ro­te Flüs­sig­keit aus dem noch jun­gen Riss in mei­ner Haut. Ein vor­schnel­ler Wein­ken­ner wür­de laut “Pinot Noir“ auf­schrei­en, und ich müss­te ihn, – unty­pisch für einen Wein­freund – blass um die Nase, in die Schran­ken wei­sen. Mit Ekel wür­de er den vor­ei­li­gen Schluck auf den Boden spu­cken. Und ich mit einem Fin­ger­zeig etwas von „der per­fek­te Port­wein“ nuscheln, bevor mich end­gül­tig der Humor ver­lässt.

Das Blut in so einer Far­be ist schön anzu­se­hen, man möch­te es als “anmu­tig“ umschrei­ben, wie auch die spä­te­re Nar­be einer Aus­zeich­nung gleich, mei­nen Kör­per schmü­cken wird. Ein Eulen­spie­gel wür­de eine Hel­den­ge­schich­te spin­nen, dazu fehlt mir gera­de aber noch der geis­ti­ge Frei­raum.

Ein Schweiß­trop­fen läuft mir über die nass­kal­te Stirn und bleibt an der Nasen­spit­ze hän­gen, wäh­rend sich unbe­kann­te Hän­de mir ent­ge­gen­stre­cken. Ver­band­zeug ist da zu sehen, etwas schim­mert sil­ber­far­ben, – wie eine ver­lo­ren gegan­ge­ne Sar­di­ne, die das Son­nen­licht reflek­tie­rend zu ihrem Schwarm auf­schließt -, dar­auf kyril­li­sche Schrift, Ibu­profen müss­te das sein. Der Schmerz ist ehr­lich gesagt noch nicht im Ner­ven­sys­tem ange­kom­men. Das Adre­na­lin tanzt gera­de den rus­si­schen Säbel­tanz und gibt mir Rücken­de­ckung.

Noch ein paar Augen­schlä­ge und ich habe eine Ahnung, dass ich es bin, der Scha­den genom­men hat. Und das selbst­ver­schul­det. Nur einen Tag nach mei­ner Ankunft bin ich mit zu viel Rücken­wind in eine klei­ne Sei­ten­stras­se abge­bo­gen. Die Ein­fahrt, leicht auf­stei­gend, war mit meh­re­ren Schlag­lö­chern ver­se­hen. Das Tem­po mei­nes Mopeds igno­rie­rend, geriet ich ins Schlin­gern, ver­such­te mich mit dem rech­ten Fuß abzu­stüt­zen, der dann aber durch die auf ihn ein­wir­ken­den Kräf­te nach hin­ten schnell­te und die Schrau­be für die Surf­bret­t­auf­hän­gung tou­chier­te. Ein groß­zü­gi­ger Riss in mei­ner Fer­se war die Fol­ge, als hät­te das Schick­sal, schel­misch schmun­zelnd und mit einem Pin­sel bewaff­net ein Lächeln auf mein Fußen­de zu zeich­nen ver­sucht. Oder wie eine Freun­din fest­stell­te: „Looks like a Tim Bur­ton kin­da smi­le.“

Noch eine Gedan­ken­windung und mir ist klar, dass jetzt Han­deln von Nöten ist. Viel Blut, was da in kür­zes­ter Zeit mei­nen Kör­per ver­lässt. Mein freund­li­cher Haus­herr Kome setzt mich auf sei­nen Rol­ler und fährt die nächs­te Ambu­lanz mit mir an. Im Wind­schat­ten ein guter Freund, der mir jetzt nicht von der Sei­te wei­chen darf. Die klei­ne Not­auf­nah­me ver­wei­gert mir eine Behand­lung, mit der Begrün­dung, dass die Ste­ri­li­tät bei einer Ope­ra­ti­on nicht gewähr­leis­tet wer­den kön­ne. Mitt­ler­wei­le ist aber gewiss: Nadel und Zwirn sind drin­gend erfor­der­lich.

Der nächs­te Stop ein loka­les Kran­ken­haus, vom Leben gezeich­ne­te Men­schen. Die dun­kel­grü­nen Trenn­wän­de, das gelb­lich-brau­ne Licht, was von der Decke fla­ckert und der kon­stan­te Geräusch­pe­gel schen­ken wenig Ver­trau­en. Der Kran­ken­pfle­ger macht ein Foto von mei­ner demo­lier­ten Fer­se und schickt die gewag­te Aut­op­sie via Whats-app an den zu behan­deln­den Arzt.

Die Achil­les­fer­se sei beschä­digt, eine Ope­ra­ti­on unaus­weich­lich und man möch­te mich über Nacht hier­be­hal­ten. Ich tau­sche Bli­cke mit mei­nem Kum­pel aus und beob­ach­te wie­der­holt den röcheln­den, alten Mann neben mir, der an sämt­li­che Schläu­che ange­schlos­sen, als wür­de ein Tin­ten­fisch ihn von hin­ten umar­men, dem nahen­den Tod ins Auge zu schau­en scheint. Mein Bauch­ge­fühl gibt mir zu ver­ste­hen, dass wir wei­ter müs­sen. Ein ande­res Kran­ken­haus muss her.

Nach etwas Recher­che und Unter­stüt­zung von hier leben­den Bekann­ten wer­den wir fün­dig. – Die Vor­hän­ge der ein­zel­nen Kabi­nen in der Not­auf­nah­me sind im ange­neh­men hell­blau gehal­ten, so als wür­de man in ein über­le­bens­gro­ßes Aqua­ri­um ein­tau­chen. Ich erlie­ge dem Charme blank geputz­ter Flu­re und grell leuch­ten­der Decken­lam­pen. Auf dem Rücken lie­gend scheint die Him­mels­pfor­te in Reich­wei­te, irgend­wo hin­ter der Leucht­stoff­röh­re. Eine gute Behand­lung ist gewiss und die Zukunft…, das wird sich zei­gen. Mit zehn Sti­chen wer­de ich genäht und sprin­ge eine hal­be Stun­de spä­ter, auf nur einem Fuß und alt­mo­di­sche Krü­cken gestützt durch die Schie­be­tür, in die schwü­le Nacht. Der Sicher­heits­mann schenkt mei­nen neu­en Freun­den und mir ein Lächeln. Die ver­ab­reich­ten Anti­bio­ti­ka ver­bie­ten das ver­dien­te “Fei­er­abend­bier“, doch eins auf den Schreck und ein zwei­tes auf die­sen Traum­start müs­sen drin sein.

- Mehr als einen Monat Rei­se­zeit hat­te ich für Bali ein­ge­plant. Auch Lom­bok stand noch auf der Lis­te, aber die­ser Gedan­ke wur­de mei­ner Geh­be­hin­de­rung schnell zu groß und ich war gezwun­gen neu und klei­ner zu den­ken.

Die Gescheh­nis­se der ers­ten Stun­de, der Cock­tail aus ver­ab­reich­ten Schmerz­mit­teln, dem Jet­lag und Akkli­ma­ti­sie­ren, lie­ßen die ers­ten zehn Tage unwirk­lich erschei­nen. Zu guter letzt war die neue Aus­gangs­la­ge Fluch und Segen zugleich. Wie ein Wil­der wäre ich mit dem Surf­brett Bali’s Süd­küs­te ent­lang gefah­ren, auf der Suche nach fri­scher Dünung, hät­te mich nicht das Unglück heim­ge­sucht. Jetzt soll­te es mich in die Insel­mit­te und dem wel­len­abs­ti­nen­ten Nord­os­ten der Insel ver­schla­gen. Ich soll­te das ers­te mal tau­chen gehen, in Amed, erst 12 und dann 18 meter tief und eine neue Per­spek­ti­ve auf den Oze­an erhal­ten.

Zeit hat­te nicht mehr mich im Griff, viel mehr war ich jetzt wie­der Herr der Lage, nach dem gewalt­tä­ti­gen Kuss der Göt­ter­in­sel. – Als “Bali Kuss“ umschrei­ben die Expats die ers­te Nega­tiv­erfah­rung mit der Insel. – Mein Unfall sei eine Art Wei­hung und als Auf­nah­me in den Kreis der Aus­er­wähl­ten zu ver­ste­hen. Die zehn Sti­che als Ein­tritts­kar­te, was mich an die schmerz­vol­le Auf­nah­me­ze­re­mo­nie des eng­li­schen Aris­to­kra­ten Lord John Mor­gan im Film „Der Mann, den sie Pferd nann­ten“ erin­ner­te. Dem soge­nann­ten “Son­nen­tanz“, ver­brei­tet unter Nord­ame­ri­ka­ni­schen India­ner­stäm­mer im 18. und 19. Jahr­hun­dert, bei dem der Prot­ago­nist oft über meh­re­re Tage, am Rücken oder der Brust mit in das Men­schen­fleisch sich win­den­den Wider­ha­ken an einem Baum auf­ge­han­gen wird, um Nah­to­d­er-fah­run­gen zu durch­le­ben.

Die Wun­de soll­te mir grund­le­gen­de Fra­gen auf­zei­gen und auch mein altes, ver­lo­ren gegan­ge­nes Selbst­ver­ständ­nis als Rei­sen­der wie­der­her­stel­len. Viel zu vie­le Jah­re war ich »nur« Wel­len­rei­ter gewe­sen. Dank mei­ner Ein­ge­schränkt­heit war ich absur­der­wei­se wie­der in der Lage unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven ein­zu­neh­men und zu bestim­men, was ich wann tun und las­sen woll­te. Ebbe und Flut hat­ten jetzt kei­nen direk­ten Ein­fluss mehr auf mei­nen Bio­rhyth­mus.

Schließ­lich war da noch ein kur­zes Gemen­ge mit den welt­be­kann­ten Bali­wel­len. Eine hand­voll Rit­te, an die ich mich zu Hau­se bei früh­lings­haf­tem Schnee­fall gern erin­nern wür­de.

Fünf Tage vor mei­ner Abrei­se dann der unbe­kann­te Bali-Zun­gen­kuss, man zog mir einen fau­len Backen­zahn. War ich nun end­gül­tig ein Wesen der Göt­ter­in­sel gewor­den? Die Uni­for­mier­ten an der Pass­kon­trol­le soll­ten mich bei der Aus­rei­se wie­der in die Schran­ken wei­sen. Zwei Tage habe ich mei­ne 30 Tägi­ge Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung über­schrit­ten und wur­de mit einer noch mil­den Geld­stra­fe auf das Erden­reich zurück geholt.

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»Riders on the Storm«

Quel­len:

„Man soll­te stolz auf den Schmerz sein – jeder Schmerz ist eine Erin­ne­rung uns­res hohen Ran­ges.« zitiert der Step­pen­wolf im gleich­na­mi­gen Roman von Her­mann Hes­se.

Mein auf­rich­ti­ger Dank geht an »Felix die Kat­ze«, der mein drit­tes Auge zu pfle­gen wuss­te.


Antworten

  1. Avatar von Sami | the ♥ food

    Aua, der Anfang ließt sich viel zu bru­tal, ich hof­fe du hast es gut über­stan­den.

    Dei­ne Bil­der sind aber wirk­lich toll!

    1. Avatar von Philipp Boos

      Der Fuß ist noch dran und nur leicht ver­beult. 😉
      Dan­ke der Nach­fra­ge!

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