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Das Geheimnis von Loch Ness

Wer hier am Ufer steht, schaut genau hin. Ein inne­rer Zwang. Jede Welle, jeder Schat­ten auf dem Was­ser lässt das Herz zwei Takte schnel­ler schla­gen. Ob man will oder nicht. Nebel­schleier zie­hen vor­über, dahin­ter die grü­nen Hügel mit einer Haube aus Schnee. Am Him­mel schiebt sich die Sonne vor eine graue Wol­ken­wand und Licht­re­flexe tan­zen auf der Was­ser­ober­flä­che. Ein nor­ma­ler Süß­was­ser­see in den schot­ti­schen High­lands, könnte man mei­nen. Und trotz­dem umgibt Loch Ness ein Geheim­nis, das jedes Jahr Hun­dert­tau­sende Besu­cher anlockt. Sie alle wol­len es sehen – das Unge­heuer, das schüch­ternste Mons­ter der Welt. Dabei birgt der See weit mehr Wun­der­lich­kei­ten als bloß eine scham­hafte Bestie.

»Bis­her wurde noch nie­mand gefres­sen«, meint Ranald.
»Doch, ein Dackel!«, ruft Linda und lacht.
Zusam­men mit fünf­zehn ande­ren schau­gie­ri­gen Mensch­lein schip­pere ich über den berühm­tes­ten See der Erde. Ranald und Linda gehö­ren zur Crew der Jaco­bite-Flotte, die das Gewäs­ser seit 45 Jah­ren befährt. Auf Lin­das T‑Shirt steht »Mons­ter Pat­rol« gedruckt und sie gießt mir Whisky in den hei­ßen Kakao. Es ist zwölf Uhr mittags.
Ranald zeigt auf einen Bild­schirm an der Wand, auf dem ein Echo­lot Bewe­gun­gen im See erfasst und auf­zeich­net. Kleine rote Punkte hüp­fen über den Monitor.
»Das sind Fische, die unter uns her­schwim­men«, erklärt Ranald, »wenn ihr aber einen rie­sen­gro­ßen roten Punkt seht, dann schlagt unbe­dingt Alarm.« Er grinst und Linda ser­viert einer Gruppe Hol­län­der hei­ßen Kakao. Es ist Win­ter und die viel­leicht beste Jah­res­zeit, um Loch Ness anzu­glot­zen. Nur wenige Tou­ris­ten sind unter­wegs. Im Som­mer herrscht hier Hoch­be­trieb, nicht nur am Ufer. Denn bei son­ni­gem Wet­ter tum­meln sich auch Kajak­fah­rer und Pad­del­boote auf dem See. Warm wird es trotz­dem nicht; die Was­ser­tem­pe­ra­tur beträgt ganz­jäh­rig nur sechs Grad. Wer hier über Bord geht, sollte also schnell wie­der fes­ten Boden unter den Füßen bekom­men, sonst wird es unge­müt­lich. »Letz­tes Jahr hat­ten wir 33 Ret­tungs­ein­sätze«, erzählt Linda. »Und jetzt, bitte alle mal nach links gucken!«, ruft Ranald und tippt auf die Fens­ter­scheibe. In der Ferne erhe­ben sich die Rui­nen von Urquhart Castle. Im Mit­tel­al­ter zählte das Boll­werk zu den größ­ten Bur­gen Schott­lands. Doch im 17. Jahr­hun­dert wünsch­ten sich die Land­be­sit­zer mehr Behag­lich­keit, pack­ten ihre Kof­fer und die Fes­tung ver­wit­terte. Ein­drucks­voll ist sie dennoch.

Got­tes Werk und King Kongs Beitrag

Loch Ness ist bis zu 230 Meter tief und pech­schwarz. Gegen Ende der Eis­zeit soll der See wahr­schein­lich noch eine Mee­res­bucht gewe­sen sein. Das liegt aber schon 12.000 Jahre zurück. Loch Ness ist so groß, dass die gesamte Welt­be­völ­ke­rung hier drei­mal Platz fände, doch sehen könnte man sie nicht, denn schaut man hin­ein, so ist da nur Dun­kel­heit. Viel­leicht ist auch das ein Grund für die Legende um das See­unge­heuer Nes­sie. Jene blick­dichte Abgrundtiefe.
Die aller­erste Auf­zeich­nung stammt aus dem Jahr 565. Das Boot eines iri­schen Mis­sio­nars soll ange­grif­fen wor­den sein. Der kir­chen­fromme Mann schlug ein Kreuz­zei­chen und ver­scheuchte das Mons­trum. Dank Gott, Gott sei Dank. Damit war die Mär um Nes­sie gebo­ren. Den end­gül­ti­gen Durch­bruch zum inter­na­tio­na­len Star ver­half Nes­sie aber ein ande­res Unge­tüm: King Kong. 1933 kam der Rie­sen­affe auf die Lein­wand und fortan erblick­ten die Men­schen über­all See­schlan­gen, Dino­sau­rier und Dra­chen. Das Nes­sie­fie­ber brach aus. Mit­ten in der Wirt­schafts­krise eine will­kom­mene Ablen­kung. Zu die­ser Zeit ent­stand auch das berühm­teste Foto von Nes­sie. Eine kör­nige Schwarz-Weiß-Auf­nahme, auf der ein lan­ger Hals aus dem Was­ser ragt. Erst 1993 stellte sich die Abbil­dung als Fäl­schung her­aus. Der Foto­graf hatte sich einen Scherz erlaubt und ein Spiel­zeug-U-Boot als Unge­heuer aus­staf­fiert. Über tau­send Mal wurde die Bes­tie bis­her gesich­tet; und das nur in den letz­ten hun­dert Jah­ren. Ob Schlange, Fisch oder Ple­si­o­sau­rus. Der Phan­ta­sie schie­nen keine Gren­zen gesetzt. Sogar heute noch sind Nes­sie­jä­ger mit Fern­glas und einer gehö­ri­gen Por­tion Idea­lis­mus auf der Pirsch.

Sher­lock Hol­mes im Juras­sic Park

»Wenn tau­send Men­schen ein Mons­ter im Was­ser zu sehen glau­ben, doch da ist keins, dann ist die Wahr­neh­mung der Men­schen das eigent­lich Interessante.«
Adrian Shine nippt an sei­nem Kaf­fee. Der Eng­län­der trägt Tweed und Bart. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Klapp­handy, das wahr­schein­lich älter ist als Loch Ness. »Was du sehen willst, siehst du.« Er schaut mich an und lächelt ver­schmitzt. In dem klei­nen Dorf Drumn­adro­chit hat der Natur­for­scher vor drei­ßig Jah­ren das Loch Ness Centre & Exhi­bi­tion eröff­net. Ein Museum rund um Nes­sie; aller­dings keine Freak­show für Leute, die an den Weih­nachts­mann glau­ben, betont Mr. Shine, son­dern die Aus­stel­lung beruhe auf wis­sen­schaft­li­chen Unter­su­chun­gen. Im angren­zen­den Shop sta­peln sich den­noch Plüsch-Nes­sies, Nes­sie-Schlüs­sel­an­hän­ger, Nes­sie-Kugel­schrei­ber, Nes­sie-Regen­schirme und Nes­sie-Socken. Mr. Shine lacht. »Ja, ich habe auch eine Nes­sie-Sta­tue daheim. Was soll man machen?«

Seit den sieb­zi­ger Jah­ren durch­fors­tet der Wis­sen­schaft­ler den See. Mit Kame­ras und Unter­was­ser­boo­ten. »Ich war ein jun­ger For­scher und ich war faul. Als ich von Nes­sie hörte, wollte ich es fin­den. Das schien mir der ein­fachste Weg zu einer Kar­riere.« Mr. Shine zwin­kert und ich ahne, dass er scherzt. Denn der Eifer, den er bis heute an den Tag legt, zeugt von einer bren­nen­den Lei­den­schaft für die Natur Schott­lands. So erforscht er nicht nur Flora und Fauna, son­dern auch die Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels auf Loch Ness. Mr. Shine ist umtrie­big und vol­ler Ent­de­cker­freude. Und tat­säch­lich fand er 2016 ein Mons­ter: In den Tie­fen des Sees tauchte irgend­wann Nes­sie auf – aus Plas­tik – eine rie­sen­große Requi­site aus Billy Wil­ders Film The Pri­vate Life of Sher­lock Hol­mes, die 1969 im See ver­sank. »Sehen Sie, ich hab’s gefun­den«, schmun­zelt er und nippt wie­der an sei­nem Kaf­fee. An ein ech­tes Mons­ter hat er jedoch nie geglaubt, und ein bis­her unent­deck­tes prä­his­to­ri­sches Lebe­we­sen hält er eben­falls für ausgeschlossen.
»Für grö­ßere Tiere bie­tet der See ein­fach zu wenig Nah­rung«, erklärt Mr. Shine und streicht sei­nen Bart glatt. Gleich­wohl sei vie­les bis­lang nicht hin­rei­chend erforscht, der See hat noch nicht alle Geheim­nisse preis­ge­ge­ben. Die Fas­zi­na­tion bleibt. »Loch Ness ist kein Juras­sic Park«, sagt er und leert sei­nen Kaf­fee, »Loch Ness ist eine Lost World
»Aber warum glau­ben so viele Men­schen, da lebe tat­säch­lich ein Unge­heuer im See?«, frage ich. Mr. Shine denkt nach und lächelt. »In einer Welt, die klei­ner zu wer­den scheint, seh­nen wir uns nach etwas Gro­ßem. Wir brau­chen Mys­te­rien. Wir brau­chen Mär­chen!« Er reicht mir die Hand zum Abschied und schenkt mir einen letz­ten schö­nen Satz: »Die Wahr­heit ist nicht da drau­ßen, die Wahr­heit ist hier oben.« Er tippt sich an die Stirn und ich ver­stehe. Im See wer­den solange Mons­ter schwim­men, solange Men­schen das wollen.

Hoch­landro­man­tik

Ein­mal rund­herum. Den gesam­ten See fahre ich ab und immer schaue ich genau hin. Kein Unge­heuer in Sicht. Dafür aber hüb­sche Dör­fer wie Fort Augus­tus und satt­grüne Täler. »Ich habe nie Ein­sa­me­res durch­schrit­ten«, schrieb Theo­dor Fon­tane über seine Reise durch die High­lands. Das mag stim­men. Denn das schot­ti­sche Hoch­land galt lange Zeit als unbe­kannt und unpas­sier­bar. Das ist mitt­ler­weile anders. Durch die High­lands füh­ren Wan­der­wege und gele­gent­lich sehe ich Men­schen in Funk­ti­ons­klei­dung. Ich atme fri­sche Luft und staune über eine wild­ro­man­ti­sche Land­schaft, durch die sich Berge und Moore zie­hen, rie­che das Hei­de­kraut und betrachte die schnee­be­deck­ten Gipfel.
Als die Glet­scher vor 12.000 Jah­ren schmol­zen, sie­del­ten sich stein­zeit­li­che Jäger und Samm­ler in Schott­land an. Danach folg­ten die Kel­ten. Römer und Nor­man­nen kamen hinzu. Und immer wie­der Eng­land. Doch in den schwer zugäng­li­chen High­lands blie­ben die Clan­struk­tu­ren über Jahr­hun­derte hin­weg bestehen. Bis zur Schlacht bei Cull­oden. 1746 besiegte die eng­li­sche Armee die auf­stän­di­schen Jako­bi­ten und zer­schlug damit das Clan­sys­tem end­gül­tig. Die Chiefs wur­den hin­ge­rich­tet und das Tra­gen des tra­di­tio­nel­len Kilts war für 36 Jahre verboten.
So rich­tig warm­her­zig ist das Ver­hält­nis zwi­schen Schot­ten und Eng­län­dern auch heute nicht. Über eine mög­li­che Unab­hän­gig­keit wird in Pubs und Poli­tik regel­mä­ßig dis­ku­tiert. Und jedes Mal, wenn ich den Brexit anspre­che, ent­glei­sen die Gesichtszüge.

Loch Ness in a bottle

Irgendwo am Loch Ness, mit­ten in den High­lands, pflü­cken Kevin and Lorien Wachol­der­bee­ren, sam­meln Kräu­ter und Wur­zeln, schöp­fen kla­res Was­ser, destil­lie­ren Alko­hol und zau­bern dar­aus einen fan­tas­ti­schen Gin. Seit zwei Jah­ren betrei­ben sie ihre kleine Bren­ne­rei, zuerst im Wohn­zim­mer, mitt­ler­weile im ehe­ma­li­gen Kuh­stall. »Wir haben ja alles vor unse­rer Haus­tür«, lächelt Lorien, »und wir mögen Gin. Warum nicht ein­fach selbst her­stel­len?« Lorien arbei­tet als Ärz­tin und wird von ihren Pati­en­ten auf­grund ihres Hob­bys nur noch »Gin­dok­tor« genannt. Sie lacht. Kevin ist Poli­zist. Der Erfolg ihres Loch Ness Gins hat ihn über­rascht. »Wir pro­bie­ren viel aus, bele­gen Kurse. Eigent­lich sind wir noch Lehr­linge.« Und trotz alle­dem räum­ten die Lehr­linge bereits zu Beginn meh­rere Preise ab, und die Kun­den ste­hen Schlange. Etwa 2000 Fla­schen pro Jahr stellt das Ehe­paar her. »Als wir damit online gin­gen«, erzählt Kevin, »ver­kauf­ten wir in den ers­ten acht Stun­den 500 Fla­schen. Wir waren geschockt.«
Lorien füllt ein Glas, legt eine Kiwi-Scheibe hin­ein und über­reicht es mir. Ich koste vor­sich­tig und schme­cke sogleich den wür­zig­sü­ßen Wachol­der und das satte schot­ti­sche Hoch­land auf mei­ner Zunge. Sam­tig und weich. Ich bin begeis­tert. Lorien freut sich. »Wir lie­ben die Land­schaft hier und wir möch­ten den Men­schen die Schön­heit der High­lands zei­gen. Und das machen wir mit Gin.« Gute Idee!

Mac­beth in den Highlands

Die letzte Sta­tion auf mei­ner Reise rund um Loch Ness ist Inver­ness. Die kleine Stadt liegt in einem Tal­kes­sel und hat Geschichte – oder bes­ser gesagt – Thea­ter­stü­cke geschrie­ben, denn auf der eins­ti­gen Burg von Inver­ness regierte im 11. Jahr­hun­dert Mac­beth. Ganz so übel, wie Wil­liam Shake­speare ihn cha­rak­te­ri­sierte, soll der König dann aber wohl doch nicht gewe­sen sein.
Durch die Stadt fließt der Fluss Ness, der dem Ort den Namen gab und in Loch Ness mün­det. Heute leben 50.000 Ein­woh­ner in Inverness.

An der Flora-Mac­do­nald-Sta­tue war­tet Bill auf mich. Er trägt Schot­ten­rock, einen herbst­blon­den Bart und auf sei­nen Wan­gen sind feine rote Äder­chen gespren­kelt, so, als wäre er oft in der Kälte gewe­sen. »Will­kom­men in Inver­ness!«, begrüßt er mich und lächelt. Der Mitt­sech­zi­ger arbei­tet als Tour­guide und er weiß alles über das schot­ti­sche Hoch­land samt sei­nen wider­spens­ti­gen Bewoh­nern. »Ja, die Schot­ten woll­ten immer unab­hän­gig blei­ben und sich nicht erobern las­sen«, erklärt er mir, »die High­lands waren für die eng­li­sche Armee damals genauso fremd wie Afgha­ni­stan für heu­tige Soldaten.«
Inver­ness gilt als Haupt­stadt der High­lands. Vor ein paar Hun­dert Jah­ren soll sie aber selbst für die abge­här­te­ten Schot­ten eine Zumu­tung gewe­sen sein. »Die Stadt hat bis zum Him­mel gestun­ken. Über­all Schlacht­ab­fälle und Fäka­lien. Ich möchte hier nicht gelebt haben.« Bill lacht und zieht sich die Kapuze ins Gesicht. Satt und kalt fällt der Regen herab und durch die Gas­sen peitscht der Wind. Es riecht nach nas­sem Asphalt und Hoch­land. Wir lau­fen durch Pfüt­zen und suchen Zuflucht unter einem Vor­dach. Wie so häu­fig wech­selt das Wet­ter inner­halb von Minu­ten. Alle vier Jah­res­zei­ten in weni­gen Augen­bli­cken und schon glit­zert die Sonne durch die Wol­ken. Bill und ich ver­ab­schie­den uns und ich spa­ziere am Fluss ent­lang zurück zum Hotel. Nes­sie habe ich zwar nicht gefun­den, dafür aber Geschich­ten ein­ge­sam­melt. Von Men­schen, Schlach­ten und Gin. Und viel­leicht sind es ja diese Geschich­ten, die Loch Ness so beson­ders machen. Wer braucht da schon ein schüch­ter­nes Monster?

Tipps:

Unter­kunft für den nor­ma­len Geldbeutel: 

Loch Ness Inn

Unter­kunft für den grö­ße­ren Geld­beu­tel und eines der schöns­ten Hotels, das ich bis­her gese­hen habe:

Ach­na­gairn Castle

Unter­kunft in Inverness:

Glen Mhor Hotel

Aus­flüge rund um Loch Ness:

Boots­tour

Loch Ness Centre & Exhibition

Glen Ord Distillery

Cameron’s Tea Room

Inver­ness Museum (Ein­tritt frei)

Tour in Inverness

Cull­oden Battlefield

Bes­ter Gin:

Loch Ness Gin

Wei­tere Infos unter:

visitin­ver­ness­loch­ness

Cate­go­riesSchott­land

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